Im September 1953 veröffentlichte Ernst Jünger seinen Essay Der gordische Knoten.
Nachdem er zwei Jahre zuvor mit dem Waldgang für Furore gesorgt und den Rückzug aus der Öffentlichkeit propagiert hatte, waren die Erwartungen groß.
Worum geht es in dem Essay? Es geht um die Geschichte des Aufeinandertreffens von Ost und West, eine im Weltgeschehen einzigartige Begegnung, für Jünger die geschichtliche Hauptrichtung überhaupt: »Die Völker treten mit stets neuer Spannung auf die alte Bühne und in die alte Handlung ein.« (1)
Und es geht bei dieser Auseinandersetzung um nicht weniger als um den Gegensatz zwischen Freiheit und Schicksalszwang: »Daß freier Geist die Welt beherrsche […] ist die Prüfung, die im Opfergange bestanden werden muß.« (2)
Jüngers Rede in Metaphern und Bildern hob sich vom zeithistorischen Hintergrund, dem wenige Jahre zurückliegenden Zweiten Weltkrieg und dem in Blüte stehenden Kalten Krieg, deutlich ab. Der Koreakrieg, der 1950 /51 als Stellvertreterkrieg der Supermächte tobte, war im Juli 1953 durch einen Waffenstillstand eingefroren worden. Insofern ist das titelgebende Symbol, der gordische Knoten, mehr als nur ein Verweis auf die mögliche Weltherrschaft, die demjenigen vorhergesagt wurde, dem es gelänge, den Knoten zu lösen.
Es geht Jünger um den bereits erwähnten Gegensatz: Der Knoten sei der Schicksalszwang, der Schwerthieb die freie Entscheidung, die eine neue Welt geschaffen habe. Insofern sei der Gegensatz von Ost und West, von Asien und Europa, von Morgen- und Abendland kein abstrakter, sondern ein räumlich wandelbarer, der »zwei Schichten des menschlichen Seins« betreffe: »Es gibt unter allem Wechsel räumlicher Machtverhältnisse eine unfehlbare Kenntnis des Unterschieds von Ost und West. Sie hängt mit der Wertung der Freiheit zusammen […].« (3)
Diese Wertung kann sehr unterschiedlich ausfallen, ihre Anwendung hat Vor- und Nachteile. Wo der freie Geist herrscht, reden viele mit, Entscheidungen müssen mühsam ausgehandelt werden. Wo Zwang herrscht, besteht leichter die Möglichkeit, daß die Masse nach einem Willen formiert wird und entsprechend schlagkräftig agieren kann. Aber in der Willensfreiheit liegt die Möglichkeit zum freien Entschluß, der Tat, die alles ändert. »Freie Einzelkämpfer« (4) wiegen dann Massen auf.
Jünger bleibt hier also seiner Erfahrungswelt treu: Der freie Entschluß ist die schärfste Waffe, wenn die linke und die rechte Grenze festgelegt sind. Diesem Prinzip folgt letztlich die deutsche Auftragstaktik seit dem 19. Jahrhundert. Sie hatte zu einer Überlegenheit des deutschen Soldaten geführt, die vom Gegner nur mit einem wesentlich höheren Aufgebot an Menschen und Material gebrochen werden konnte. (5)
Die Vorstöße Richtung Osten, so Jünger weiter, waren von der Übernahme östlicher Wertungen bestimmt. Ob Napoleon oder Hitler: Zeit und Raum werden in den endlosen Weiten zu einem Faktor, der dem westlichen Gegner gefährlich werden kann. »Als Regel läßt sich annehmen, daß der europäische Stratege das Feld seiner Stärke verläßt, wenn er Maßnahmen trifft, die räumlich die Einöde und zeitlich den schleppenden Ablauf begünstigen.« (6)
Mit anderen Worten: Irgendwann bleibt die Initiative in den Weiten des Ostens stecken, weil ihr das Ziel fehlt und die überdehnten Versorgungslinien jede Bewegung hemmen. Die Frage, was passiert, wenn der Osten Richtung Westen vorstößt, stellt Jünger nicht, obwohl sie im Jahr 1953, als der Osten bis zur Elbe reichte, aktuell gewesen wäre.
Jüngers Fazit ist ein salomonisches: Der Kampf zwischen Ost und West werde unentschieden bleiben, da er in jedem Menschen stattfinde. Beide, Ost und West, hätten den sittlichen Charakter des Menschen geformt. »Die Begegnung bleibt ein ständiges Problem, eine ständige Aufgabe.« (7) Aber bei aller philosophischen Deutung kommt Jünger abschließend doch noch auf die Weltlage zurück: »Der Osten und der Westen beginnen sich die Welt zu teilen, der Osten unter der Hegemonie Rußlands, der Westen unter der Amerikas.« (8)
Und Jünger verweist auf den aus dieser Konstellation folgenden Determinismus, der hier, im Gegeneinander zweier Atommächte, unweigerlich eine Apokalypse folgen sieht. Jünger ist dagegen überzeugt: Machtfragen lassen sich nicht durchrechnen! Die Substanz, an der sich auf wunderbare Weise die Welt erhält, ist unberechenbar.
Was war 1953 mit so einer Deutung anzufangen? Natürlich fanden sich zahlreiche begeisterte Rezensenten, und das Buch mußte innerhalb eines halben Jahres zweimal nachgedruckt werden. Aber beim Leser bleibt doch vor allem der Eindruck hängen, daß sich Jünger von der Politik verabschiedet hatte – ein Eindruck, der sich wenige Jahre später im Weltstaat (1960) bestätigen sollte, in dem Jünger die Blockkonfrontation als etwas Vordergründiges interpretiert, das vor allem von der »großen und wachsenden Gleichförmigkeit, die sich über die Länder ausbreitet«, ablenke. (9)
Es lag nahe, daß sich jemand wie Carl Schmitt, der auf klaren Unterscheidungen bestand, kritisch mit diesen Auffassungen auseinandersetzen würde. Ernst Jünger und Carl Schmitt kannten sich seit den späten 1920er Jahren und hatten im Dritten Reich sehr unterschiedliche Wege beschritten, aus denen sich ihre Positionen im besiegten und geteilten Deutschland ableiteten: auf der einen Seite Ernst Jünger, der Autor der Marmorklippen, der sich 1933 in die Innere Emigration zurückgezogen hatte und nun, nach einem Veröffentlichungsverbot in den unmittelbaren Nachkriegsjahren, wieder vom Feuilleton gefeiert wurde, auf der anderen Carl Schmitt, an dem der Ruch des Aufsatzes »Der Führer schützt das Recht« hängengeblieben war, der sich 1933 für den NS-Staat engagiert hatte und nun vor allem Gespräche in der »Sicherheit des Schweigens« führte. (10)
Das persönliche Verhältnis der beiden blieb davon nicht unberührt, Spannungen bauten sich auf, blieben aber noch unausgesprochen. Daher fiel es Armin Mohler, dem ehemaligen Sekretär von Jünger und Bewunderer von Carl Schmitt, nicht schwer, letzteren zu einem Beitrag zur Festschrift zum 60. Geburtstag von Ernst Jünger zu überreden, die 1955 erscheinen sollte. Und Carl Schmitt lieferte unter der Überschrift »Die geschichtliche Struktur des heutigen Weltgegensatzes von Ost und West« Bemerkungen zum Gordischen Knoten.
Der Aufsatz von Carl Schmitt geht in eine ganz andere Richtung als Jüngers Essay, und zwar so sehr, daß Schmitt am Ende ausdrücklich vor der »Mißdeutung« warnen muß, sein Aufsatz sei gegen Jüngers bildhaftes Polaritätsdenken gerichtet. Und er betont, daß es ungerecht sei, Jüngers Schriften auf einige Formeln zu fixieren, statt ihre Kernkraft zu erproben. (11)
Dieser milde Abschluß steht im scharfen Widerspruch zu den von Carl Schmitt in seinem Aufsatz entwickelten Antithesen: Schmitt geht von den Besonderheiten aus, die sich im Laufe der Geschichte in der Auseinandersetzung zwischen Ost und West gezeigt haben, um dann auf den wichtigeren Gegensatz, den von Land und Meer, zu sprechen zu kommen. Diesen begreift er nicht, wie Jünger, als eine Polarität, sondern als eine konkrete Dialektik, die sich auf die Frage-Antwort-Struktur aller geschichtlichen Situationen und Ereignisse beziehe.
Die Dialektik, verstanden als strenger Gegensatz von Frage und Antwort, wird von Carl Schmitt allen Polaritätsvorstellungen, die von sich einander gegenseitig bedingenden Größen ausgehen, gegenübergestellt: »Die polare Spannung enthält eine Gleichzeitigkeit der sie bildenden Gegensätze, eine Gleichzeitigkeit, die sich in der Struktur immer von neuem und immer gleich wiederholt. Das konkret-geschichtliche Bild dagegen enthält eine dialektische Spannung, nämlich die Aufeinanderfolge einer konkreten Frage und einer ebenso konkreten Antwort.« (12) Das Sowohl-als-auch Jüngers kann Ost und West als Bestandteile der bipolaren Wahrheit Europas sehen, während es bei Schmitt um das Entweder-Oder von Frage und Antwort geht, mit anderen Worten: um Politik.
Carl Schmitt setzt voraus, und damit ist er nicht allein, daß jede geschichtliche Handlung die Antwort eines Menschen auf eine Frage sei, die von der Geschichte gestellt werde: »Jede Antwort erhält ihren Sinn durch die Frage, auf die sie antwortet und bleibt sinnlos für jeden, der die Frage nicht kennt.« (13) Carl Schmitt hat diese Konstellation aus der angelsächsischen Tradition entlehnt: Am bekanntesten ist die Erweiterung zur Dialektik von Herausforderung und Verhalten durch Arnold Toynbee, einen britischen Geschichtsphilosophen, dessen mehrbändiges Hauptwerk, Der Gang der Weltgeschichte, 1949 in einer deutschen Zusammenfassung erschien. Aber Carl Schmitt geht es nicht um Geschichtsgesetze, sondern um die einmalige, konkrete Situation.
Dementsprechend stellt er den anderen Deutungen der Gegenwart seine eigene entgegen: »Die geschichtliche Epoche der industriellen Revolution und der entfesselten Technik als Folge des Übergangs zu einer maritimen Existenz.« (14) Letztere war dabei die Antwort auf die sich öffnenden Ozeane: »Der heutige Welt-Dualismus ist für uns nicht ein polarer, sondern ein geschichtlich-dialektischer Gegensatz von Land und Meer.« (15) Soweit die Antwort von Carl Schmitt auf Ernst Jünger, die auf dessen Ausführungen in schärfster Art und Weise reagierte und an Schmitts knappes Büchlein aus dem Jahre 1942, Land und Meer. Eine weltgeschichtliche Betrachtung, anschloß.
Ausgehend von der Dichotomie von Landtretern und Meerschäumern (ein altes Wort für Piraten), untersucht Schmitt darin das wechselvolle Verhältnis von Land und Meer, wobei er gleich zu Beginn den Determinismus ablehnt, weil ein neues Raumgefühl (eine »Raumrevolution«) sonst undenkbar wäre. Aber um den Wechsel der Struktur des Raumbegriffes geht es Schmitt, weil an ihm die politische Grundordnung, der Nomos einer jeden Epoche hänge.
Die letzte, geschichtlich vollendete Raumrevolution sei die des 16. und 17. Jahrhunderts gewesen, als die europäischen Seefahrer den Rest der Welt in Besitz nahmen: das Zeitalter der europäischen Landnahme, das durch die britische Seenahme ergänzt und vollendet worden sei. Letztere führte zu einem Wandel des Krieges, der zu See gegen den Handel und damit auch gegen Zivilisten bis zur Vernichtung geführt wurde. Mit der verkehrsmäßigen Erschließung des Meeres im Laufe des 19. Jahrhunderts verloren die Briten ihren Status als Meerschäumer und wurden »Maschinenbediener«. (16)
Deshalb, so muß man Schmitt wohl verstehen, konnten die Briten gegen das Schwinden ihrer Macht in den beiden Weltkriegen nichts unternehmen und verloren die Initiative. Aber nicht nur deswegen hätten die Briten nichts mit der im Entstehen begriffenen, neuen Raumordnung zu tun, sondern auch, weil in dieser die Unterscheidung von Land und Meer aufgehoben sei. In dieser sich vollziehenden Raumrevolution sah Schmitt eine Ergänzung zur Russischen Revolution, dem Ende der bürgerlichen Gesellschaft.
Diese Ablösung der Briten bei der Weltherrschaft ist von dem britischen Geographen Halford Mackinder bereits 1904 vorausgesehen worden. In dem Aufsatz »The Geographical Pivot of History« stellte er die These auf, daß die Weltherrschaft in Zukunft demjenigen gegeben sei, der Eurasien beherrsche. (17) Die Briten als Seemacht hatten lange das Aufkommen einer Landmacht verhindern können, wurden aber letztlich Opfer ihrer eigenen Erfindungen, der Dampfmaschine und der Lokomotive, die es den Landmächten ermöglichten, sich durch Erschließung des eurasischen Kontinents als Gegenmacht zu etablieren. Geographisch unterscheidet Mackinder zwischen der Weltinsel (Europa und Afrika), den küstennahen Inseln (Großbritannien und Japan) und den küstenfernen Inseln (Amerika und Australien). Das Herzland wiederum, das Russische Reich mit seinen westlichen und südlichen Grenzgebieten, sei das Zentrum der Weltinsel. Wer es beherrsche, beherrsche die Welt, so Mackinder.
In den 1950er Jahren, als die beiden eingangs zitierten Essays von Jünger und Schmitt erschienen, beherrschte die Sowjetunion Osteuropa, um das zwischen 1941 und 1945 erbittert gekämpft worden war, ohne jedoch deshalb bereits der Weltherrscher zu sein. Nicht ohne Grund intensivierte die Sowjetunion seit Mitte der 1950er Jahre ihre Bemühungen um Einfluß in Afghanistan.
Ein Nachfolger von Mackinder, der Vertreter einer »Big History«, Ian Morris, hat vor kurzem ein voluminöses Buch vorgelegt, das die These vertritt, die Entgegensetzung von Land und Meer sei durchaus noch aktuell. Der Titel des Buches, Geographie ist Schicksal, weist bereits darauf hin: Ohne die Insellage wäre die britische Geschichte zweifellos anders verlaufen. Aber Morris ist kein strenger Determinist, sondern sieht in der Insellage eine Herausforderung, auf die es eine angemessene Antwort zu finden galt. Pragmatisch heißt es: »Wir sind weder die Sklaven noch die Herren des Schicksals. Das Geheimnis des Erfolgs besteht darin zu verstehen, in welche Richtung sich der Karren bewegt, und herauszufinden, wie man das meiste daraus machen kann.« (18)
Aus der Insellage heraus wird verständlich, warum die Briten immer wieder versuchten, einen Gegenwall, möglichst weit auf dem Festland, zu errichten, um sich vor Bedrohungen zu schützen. Im Gegensatz zu Carl Schmitt sieht Morris das maritime Zeitalter bereits mit den Entdeckungsfahrten Ende des 15. Jahrhunderts (Neufundland) beginnen. Seitdem begann die Reise Großbritanniens zum Mittelpunkt der Erde, so daß aus der geographischen Rand- eine Zentrallage wurde. Die atlantische Ökonomie (und die Erfindungen im Rahmen der Industriellen Revolution) machten Großbritannien reich und, nach seinem Selbstverständnis, zum tugendhaftesten Volk der Welt. Da Morris diesem Volk selbst angehört, wird diese typisch britische Doppelmoral von ihm nicht weiter erörtert.
Es ist interessant, daß Morris nicht nur eine geographische Beziehung zwischen der Eiszeit, die die Britischen Inseln vom Kontinent trennte, und dem Brexit herstellt. Es gibt auch eine ideelle Beziehung, denn die Themen, um die es in der Geschichte immer gegangen sei, lassen sich bei ihm auf »Identität, Mobilität, Wohlstand, Sicherheit und Souveränität« zurückführen. (19) Daraus erkläre sich der Brexit, aber auch die ganze britische Geschichte bis dahin. Der Brexit sei die neue britische Antwort auf die alten geographischen Fragen.
Warum hier von alten Fragen die Rede ist, erklärt sich leicht, wenn wir noch einmal auf Carl Schmitt zurückkommen. Denn mit seiner Deutung des Ost-West-Gegensatzes war er noch nicht am Ende, vielmehr ließ er noch eine Warnung folgen. Sie besteht in dem nochmaligen Hinweis auf die konkrete Einmaligkeit einer historischen Situation: »Indem die Menschen historisch zu sein glauben und sich an das früher einmal Wahre halten, vergessen sie, daß eine geschichtliche Wahrheit nur einmal wahr ist.« Daher frage sich, was der »gegenwärtige, aktuelle Anruf der Geschichte« sei, der mit dem sich öffnenden Ozean nicht mehr identisch ist. (20) Leider sei es nur allzu natürlich, daß die Menschen auf einen neuen Anruf mit der alten Antwort reagierten. Aber gerade die Weiterführung der alten Wahrheit werde ungeschichtlich, denn »es ist deshalb allzu natürlich, daß der Sieger der vergangenen Epoche den Anruf der Geschichte am ehesten verfehlt. Denn wie sollte der Sieger verstehen, daß auch sein Sieg nur einmal wahr ist?« (21)
An dieser Stelle bricht Carl Schmitt ab, ohne sich in Spekulationen über die Art des neuen Anrufs der Geschichte zu ergehen. Allerdings ist diese These, daß die Verlierer im Hinblick auf die Zukunft die eigentlichen Sieger seien, nicht neu. Ähnliche Debatten gab es nach dem Ersten Weltkrieg, als sich in Deutschland die Konservative Revolution formierte, die durchaus der Meinung war, daß der Verlierer in bezug auf die Zukunft in der besseren Position sei. Denn alles würde sich ändern, worauf derjenige, der gerade durch seinen Sieg bestätigt worden sei, schlechter vorbereitet sein mußte als derjenige, den die Niederlage zwinge, alles in Frage zu stellen. (22)
Daß die Sieger der beiden Weltkriege die richtigen Antworten auf die drängendsten Probleme gehabt hätten, kann man wahrlich nicht behaupten. Hans-Dietrich Sander hat das für den Zweiten Weltkrieg prägnant formuliert: »Der Triumph der Sieger war ein Triumph der alten Mächte des Liberalismus und des Sozialismus. Er löste keines der wesentlichen Probleme. Er verschärfte jedes.« (23) Die Alliierten waren die Sieger, weil sie es zweimal geschafft hatten, ein eigentlich widernatürliches Bündnis auf die Beine zu stellen. Widernatürlich, weil ihre Antworten unterschiedlicher nicht hätten sein können, was sich schließlich im Kalten Krieg, der Lage, in der Jünger und Schmitt miteinander diskutierten, zeigen sollte.
Der Begriff »Kalter Krieg« bezieht sich meist auf den »Eisernen Vorhang« Churchills und die Truman-Doktrin, nach der die Verhinderung der sowjetischen Expansion an erster Stelle stehen müsse. Er wurde 1947 von Walter Lippmann in die politische Debatte eingeführt. Erstmals verwendet wurde er allerdings von George Orwell, der im Oktober 1945 die Welt auf einen permanenten Zustand des »Kalten Krieges« zusteuern sah. Damit nahm er zum einen Bezug auf die Existenz der Atombombe, welche die Sowjets auch bald besitzen würden, und die daraus resultierende Monopolisierung der Macht in wenigen Großreichen, wozu Orwell neben der Sowjetunion und den USA auch China zählte.
Zum anderen bezog er sich auf das Buch Die Revolution der Manager von James Burnham, in dem er die gesellschaftspolitische Ergänzung erblickte. Beides, die Atombombe und die Herrschaft der Manager, führe zu einer neuen Epoche der Sklaverei, die ähnlich stabil wie die Antike sei. Er sieht darin »die Art von Weltanschauung, die Art von Überzeugungen und die soziale Struktur, die wahrscheinlich in einem Staat vorherrschen würden, der gleichzeitig unbesiegbar ist und sich mit seinen Nachbarn in einem permanenten Zustand des ›Kalten Krieges‹ befindet«. (24)
Ernst Nolte hat in den 1970er Jahren ein scharfsinniges Buch über den Kalten Krieg geschrieben und zwei extreme Deutungen einander gegenübergestellt: Die erste Deutung bezieht sich auf den konkreten machtpolitischen Konflikt zwischen zwei Großmächten, die seit 1949 an der innerdeutschen Grenze aufmarschiert standen. Die zweite Deutung ordnet diesen Kalten Krieg in den Weltbürgerkrieg der Ideologien ein, in eine seit 1917 anhaltende Herausforderung der »westlichen Demokratien« durch alternative Ideologien wie den Kommunismus, zu denen sich zeitweise der Nationalsozialismus gesellte. (25)
Vor diesem Hintergrund können wir nochmals fragen, worin Mitte der 1950er Jahre die Herausforderung, der Anruf bestand. Nach offizieller Lesart bestand er offensichtlich darin, Westeuropa so weit in Gleichklang zu bringen, daß der amerikanische Hegemon für seine Sicherheitsgarantien eine vernünftige Gegenleistung erwarten konnte. Was als Wiederbewaffnungsdebatte in die Geschichte einging, begann mit dem Krieg in Korea, da sich jeder Deutsche angesichts der Konstellation an der innerdeutschen Grenze ausmalen konnte, was passieren würde, wenn die Sowjets in Europa ähnlich agierten. (26) Die europäische Einigung, zunächst militärisch ganz offen gegen Deutschland gerichtet, dehnte sich bald auf den westlichen Rest dieses ehemaligen Gegners aus und mündete in die Aufnahme Deutschlands in die NATO, wovon sich vor allem die Briten eine Schwächung der französischen Position erhofften.
Darüber hinaus sei, so Nolte, Deutschlands Geschichte »in höherem Maße eine Geschichte ideologischer Konflikte und politischer Teilungen als diejenige irgendeines anderen Staates der Welt. Als Kriegsgebiet spezifischer Art ist Deutschland weitaus älter als der Kalte Krieg, der zu einem wesentlichen Teil auf seinem Boden ausgetragen wurde«. (27) In Deutschland wurde der Marxismus geboren, und der Zweite Weltkrieg nahm hier seinen Ausgang.
Insofern ist es nicht so abwegig, wie es auf den ersten Blick scheinen mag, daß sich zwei der herausragenden Geister Deutschlands in dieser historischen Lage nicht mit der Wiederbewaffnung oder der europäischen Einigung beschäftigten, sondern, jeder auf seine Art, die Frage nach dem Hintergrund stellten, vor dem sich dieses für alle sichtbare Schauspiel vollzog.
Wir haben heute in Deutschland eine ähnliche Situation. Vordergründig geht es um unseren Anteil an der Verteidigung der westlichen Werte und die dafür notwendigen Mittel. Der Krieg in der Ukraine hat hierzulande zu einer Militarisierung der Politik geführt, die noch vor zehn Jahren undenkbar schien. Es entbehrt nicht einer gewissen Logik, daß sich die linksliberalen Grünen von einer Pazifisten- zu einer Bellizistenpartei entwickelt haben. (28) Die Frage lautet: Was geschieht unter der Oberfläche, worin besteht die geschichtliche Herausforderung für uns? Um diese Fragen zu beantworten, müssen wir einen Blick auf die Ukraine werfen, weniger auf die konkreten Kriegsursachen als den dahinterstehenden Konflikt. Es geht um Geopolitik.
Für Rußland geht es um eine rote Linie. Das Land würde durch eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine endgültig in die Rolle einer Regionalmacht gedrängt. Die USA haben genau daran ein Interesse, weil sie nur so ihre Hegemonie über Europa absichern können, die durch die Chinesen am östlichen Ende Eurasiens gerade herausgefordert wird. Einige Kommentatoren haben den Ukrainekrieg deshalb mit dem Koreakrieg verglichen, nicht nur im Hinblick auf die Aussicht, daß es auch in diesem Krieg keinen Sieger geben wird, sondern auch, was den Ausbruch des Krieges betrifft. 1950 war Korea für die USA zweitrangig, Europa das Gravitationszentrum. Heute ist es umgekehrt, die USA müssen sich auf den Ostpazifik konzentrieren – eine Konstellation, die womöglich nicht nur Putin für sich nutzen wird. (29)
Ein sicheres Indiz dafür, daß die darüber hinausgehende Deutung schwierig ist, liegt in der fehlenden Geschlossenheit der europäischen Rechten bezüglich der Frage, welche Konfliktpartei zu unterstützen sei. Auf der einen Seite steht das ukrainische Volk, das sich gegen den imperialen Aggressor wehrt und einen selbstverständlichen Nationalismus kultiviert, dabei aber auch die zivilreligiösen Dogmen seiner Verbündeten ins Land trägt und es der One-World-Ideologie unterwirft. Auf der anderen Seite steht Rußland, das sich gegen die unipolare Weltordnung, die Dekadenz des Westens und dessen Geringschätzung von Familie, Religion und Staat zur Wehr setzt, gleichzeitig aber eine »Entnazifizierung« der Ukraine anstrebt.
Diese Deutungen speisen sich vorwiegend aus Gerüchten und Vermutungen, da es schwierig ist, durch den Nebel des Krieges, die Propaganda beider Seiten, überhaupt zu erkennen, was dort jeweils vor sich geht. Aber der kulturelle Konflikt zwischen Rußland und dem Westen ist älter als der aktuelle Krieg in der Ukraine. Der Publizist Hauke Ritz hat schon frühzeitig auf die kulturelle Dimension dieser Auseinandersetzung hingewiesen. Er beschreibt einen Streit um eine moderne und eine postmoderne Weltsicht. Es gehe letztlich »um die Frage, wie die Menschheit im 21. Jahrhundert mit ihren in der bisherigen Geschichte entstandenen Traditionen umgehen soll.« (30) Sollen sie verwandelt bewahrt oder abgeschnitten werden?
Die Moderne plädiert für Bewahrung und Integration in die moderne Lebenswelt, die Postmoderne will sie dekonstruierend relativieren. Rußland hat sich für ersteres entschieden, pflegt die nationale Identität, erkennt die Kirche als Faktor an und stellt Gruppen- über Einzelidentität. Darin kann man eine Reaktion auf die sowjetische Erfahrung sehen, die als von oben brutal durchgeführte Modernisierung wahrgenommen wurde. Ritz fordert die Anerkennung der kulturellen Eigenständigkeit Rußlands durch den Westen, der dazu aber einsehen müßte, daß sein Projekt der grenzenlosen Freiheit in die Sackgasse führe. Eine solche Einsicht fällt dem Sieger der Geschichte naturgemäß schwer, der darüber hinaus sogar blind sein mag für die zersetzende Kraft des Liberalismus.
Der Konflikt zwischen Moderne und Postmoderne läßt sich im Sinne von Carl Schmitt etwas konkreter fassen, nämlich als Dialektik von Partikularismus und Universalismus. Diese spiegelt sich immer noch in der Dialektik der Land- (Rußland, China, Iran) und Seemächte (USA, UK, Japan) wider, was für Europa sofort die Frage nach der Gültigkeit dieser Einteilung aufkommen läßt: Folgt aus unserer Eigenschaft als Mächte zu Land der Partikularismus? Was ist mit Portugal, was mit Norwegen, oder sind wir durch den hierzulande kultivierten Universalismus geistig endgültig zum Anhängsel der Seemächte geworden?
Partikularismus und Universalismus sind aber unabhängig davon die Ideen, zwischen denen sich die Zukunft der Welt entscheidet. Rolf Peter Sieferle hat das bereits 1994 in aller Deutlichkeit formuliert: »Der heutige defensive Universalismus steht in einem totalen Gegensatz zwischen den Interessen der Menschen in den Wohlstandszonen und seinem letzten Ziel einer planetarisch-humanitären Gerechtigkeit.« (31) Er folgt einem abstrakten Prinzip. Der nationale Partikularismus vertritt dagegen konkrete Interessen, kommt aber in einer universalistisch geprägten Welt unter die Räder: »Visionslose Interessenvertretung gegen bodenlose Gesinnungsethik, dies mag die Konfrontation der Zukunft sein. Vielleicht haben dabei die Interessen zumindest kurzfristig die besseren Karten – das mag für den gesinnungsethischen Rigorismus jedoch lediglich Anlaß für eine größere Radikalität sein.« (32)
Wir sehen, daß sich dieses Verhältnis nicht nur als totaler Gegensatz, sondern auch als Polarität denken läßt. Universalismus und Partikularismus sind aufeinander bezogen, sind Haltungen, die einander bedingen und sich gegenseitig befeuern und die ohne ihren Gegenpol zur Entartung neigen: Aus der genügsamen Selbstbeschränkung wird ohne eine über sie hinausweisende Idee eine bornierte Selbstvergottung, aus der ausgreifenden Systemidee ohne ein begrenzendes Moment missionarisches Eifertum. In dieser Spannung leben nicht nur die Deutschen, aber vor allem die Deutschen: »Deutschland ist heute das Schlaraffenland der Erfolgswichte, denen die moralische Prostitution längst zur selbstverständlichen Voraussetzung des sozialen Aufstiegs wurde.
Zugleich aber ist und bleibt es das Land, das mit Preußen im realen und mit Hegel im idealen Rahmen die heutige Weltgestalt dermaßen prägte wie nicht viele weitere Länder […].« Das schrieb der Privatgelehrte Johannes Barnick wenige Jahre nach der Jünger-Schmitt-Debatte. Sein Anspruch, daß »wir noch nicht am Ende sind, daß unser Dasein sich für die Weltgeschichte noch lohnt«, konnte bislang noch nicht eingelöst werden, bleibt aber angesichts der gegenwärtigen Herausforderung gültig.
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(1) – Ernst Jünger: Der gordische Knoten, Frankfurt a. M. 41954, S. 5.
(2) – Ebd., S. 7.
(3) – Ebd., S. 25.
(4) – Ebd., S. 31.
(5) – Vgl. Martin van Creveld: Kampfkraft. Militärische Organisation und Leistung 1939 – 1945, Graz 2005.
(6) – Jünger: Knoten, S. 122.
(7) – Ebd., S. 142.
(8) – Ebd., S. 143.
(9) –Ernst Jünger: Der Weltstaat. Organismus und Organisation, Stuttgart 1960, S. 23.
(10) – Vgl. zuletzt: Norbert Dietka: Ernst Jünger und Carl Schmitt. Eine ambivalente Beziehung, Heidelberg 2023.
(11) – Vgl. Carl Schmitt: »Die geschichtliche Struktur des heutigen Weltgegensatzes von Ost und West«, in: Armin Mohler (Hrsg.): Freundschaftliche Begegnungen. Festschrift für Ernst Jünger zum 60. Geburtstag, Frankfurt a. M. 1955, S. 135 – 167, hier S. 166 f.
(12) – Ebd., S. 147.
(13) – Ebd., S. 151.
(14) – Ebd., S. 166.
(15) – Ebd.
(16) – Carl Schmitt: Land und Meer. Eine weltgeschichtliche Betrachtung, Stuttgart 82006, S. 99.
(17) – Vgl. Halford John Mackinder: Der Schlüssel zur Weltherrschaft. Die Heartland-Theorie, mit einem Lagebericht von Willy Wimmer, Frankfurt a. M. 2019.
(18) – Ian Morris: Geographie ist Schicksal. Machtkampf zwischen Großbritannien, Europa und der Welt – eine 10 000jährige Geschichte, Frankfurt a. M. 2022, S. 571.
(19) – Ebd., S. 11.
(20) – Schmitt: Struktur, S. 166.
(21) – Ebd.
(22) – Vgl. Wolfgang Schivelbusch: Die Kultur der Niederlage. Der amerikanische Süden 1865, Frankreich 1871, Deutschland 1918, Berlin ²2001, S. 225 – 285.
(23) – Hans-Dietrich Sander: Die Auflösung aller Dinge. Zur geschichtlichen Lage des Judentums in den Metamorphosen der Moderne, München o. J. [1988], S. 163.
(24) – George Orwell: »You and the Atom Bomb«, in: Tribune vom 19. Oktober 1945 (www.orwellfoundation.com).
(25) – Vgl. Ernst Nolte: Deutschland und der kalte Krieg, München 1974, S. 39.
(26) – Vgl. ebd., S. 287.
(27) – Ebd., S. 57 f.
(28) – Vgl. Stefan Luft: »Die Grünen und der Krieg«, in: Sandra Kostner, Stefan Luft (Hrsg.): Ukrainekrieg. Warum Europa eine neue Entspannungspolitik braucht, Frankfurt a. M. 2023, S. 259 – 287.
(29) – Vgl. Chaoting Cheng: »Das chinesisch-russisch-iranische Bündnis ist der geopolitische Albtraum der USA«, in: Berliner Zeitung vom 23. März 2023
(www.berliner-zeitung.de).
(30) – Hauke Ritz: »Besitzt der gegenwärtige Konflikt mit Rußland eine kulturelle Dimension?«, in: Ost / Letter. Wissenschaftliche Internetzeitschrift des Ostinstitutes Wismar 3/2014
(www.ostinstitut.de).
(31) – Rolf Peter Sieferle: Epochenwechsel. Die Deutschen an der Schwelle zum 21. Jahrhundert (1994), Berlin 2017, S. 478.
(32) – Ebd., S. 479 f.
(33) – Johannes Barnick: Deutsch-russische Nachbarschaft (1959), mit einem Vorwort von Thomas Fasbender, Neuruppin 2022, S. 171.