Ost und West. Über den gordischen Knoten unserer Zeit

PDF der Druckfassung aus Sezession 117/ Dezember 2023

Erik Lehnert

Erik Lehnert ist promovierter Philosoph.

Im Sep­tem­ber 1953 ver­öf­fent­lich­te Ernst Jün­ger sei­nen Essay Der gor­di­sche Kno­ten.

Nach­dem er zwei Jah­re zuvor mit dem Wald­gang für Furo­re gesorgt und den Rück­zug aus der Öffent­lich­keit pro­pa­giert hat­te, waren die Erwar­tun­gen groß.

Wor­um geht es in dem Essay? Es geht um die Geschich­te des Auf­ein­an­der­tref­fens von Ost und West, eine im Welt­ge­sche­hen ein­zig­ar­ti­ge Begeg­nung, für Jün­ger die geschicht­li­che Haupt­rich­tung über­haupt: »Die Völ­ker tre­ten mit stets neu­er Span­nung auf die alte Büh­ne und in die alte Hand­lung ein.« (1)

Und es geht bei die­ser Aus­ein­an­der­set­zung um nicht weni­ger als um den Gegen­satz zwi­schen Frei­heit und Schick­sals­zwang: »Daß frei­er Geist die Welt beherr­sche […] ist die Prü­fung, die im Opfer­gan­ge bestan­den wer­den muß.« (2)

Jün­gers Rede in Meta­phern und Bil­dern hob sich vom zeit­his­to­ri­schen Hin­ter­grund, dem weni­ge Jah­re zurück­lie­gen­den Zwei­ten Welt­krieg und dem in Blü­te ste­hen­den Kal­ten Krieg, deut­lich ab. Der Korea­krieg, der 1950 /51 als Stell­ver­tre­ter­krieg der Super­mäch­te tob­te, war im Juli 1953 durch einen Waf­fen­still­stand ein­ge­fro­ren wor­den. Inso­fern ist das titel­ge­ben­de Sym­bol, der gor­di­sche Kno­ten, mehr als nur ein Ver­weis auf die mög­li­che Welt­herr­schaft, die dem­je­ni­gen vor­her­ge­sagt wur­de, dem es gelän­ge, den Kno­ten zu lösen.

Es geht Jün­ger um den bereits erwähn­ten Gegen­satz: Der Kno­ten sei der Schick­sals­zwang, der Schwert­hieb die freie Ent­schei­dung, die eine neue Welt geschaf­fen habe. Inso­fern sei der Gegen­satz von Ost und West, von Asi­en und Euro­pa, von Mor­gen- und Abend­land kein abs­trak­ter, son­dern ein räum­lich wan­del­ba­rer, der »zwei Schich­ten des mensch­li­chen Seins« betref­fe: »Es gibt unter allem Wech­sel räum­li­cher Macht­ver­hält­nis­se eine unfehl­ba­re Kennt­nis des Unter­schieds von Ost und West. Sie hängt mit der Wer­tung der Frei­heit zusam­men […].« (3)

Die­se Wer­tung kann sehr unter­schied­lich aus­fal­len, ihre Anwen­dung hat Vor- und Nach­tei­le. Wo der freie Geist herrscht, reden vie­le mit, Ent­schei­dun­gen müs­sen müh­sam aus­ge­han­delt wer­den. Wo Zwang herrscht, besteht leich­ter die Mög­lich­keit, daß die Mas­se nach einem Wil­len for­miert wird und ent­spre­chend schlag­kräf­tig agie­ren kann. Aber in der Wil­lens­frei­heit liegt die Mög­lich­keit zum frei­en Ent­schluß, der Tat, die alles ändert. »Freie Ein­zel­kämp­fer« (4) wie­gen dann Mas­sen auf.

Jün­ger bleibt hier also sei­ner Erfah­rungs­welt treu: Der freie Ent­schluß ist die schärfs­te Waf­fe, wenn die lin­ke und die rech­te Gren­ze fest­ge­legt sind. Die­sem Prin­zip folgt letzt­lich die deut­sche Auf­trags­tak­tik seit dem 19. Jahr­hun­dert. Sie hat­te zu einer Über­le­gen­heit des deut­schen Sol­da­ten geführt, die vom Geg­ner nur mit einem wesent­lich höhe­ren Auf­ge­bot an Men­schen und Mate­ri­al gebro­chen wer­den konn­te. (5)

Die Vor­stö­ße Rich­tung Osten, so Jün­ger wei­ter, waren von der Über­nah­me öst­li­cher Wer­tun­gen bestimmt. Ob Napo­le­on oder Hit­ler: Zeit und Raum wer­den in den end­lo­sen Wei­ten zu einem Fak­tor, der dem west­li­chen Geg­ner gefähr­lich wer­den kann. »Als Regel läßt sich anneh­men, daß der euro­päi­sche Stra­te­ge das Feld sei­ner Stär­ke ver­läßt, wenn er ­Maß­nah­men trifft, die räum­lich die Ein­öde und zeit­lich den schlep­pen­den Ablauf begüns­ti­gen.« (6)

Mit ande­ren Wor­ten: Irgend­wann bleibt die Initia­ti­ve in den Wei­ten des Ostens ste­cken, weil ihr das Ziel fehlt und die über­dehn­ten Ver­sor­gungs­li­ni­en jede Bewe­gung hem­men. Die Fra­ge, was pas­siert, wenn der Osten Rich­tung Wes­ten vor­stößt, stellt Jün­ger nicht, obwohl sie im Jahr 1953, als der Osten bis zur Elbe reich­te, aktu­ell gewe­sen wäre.

Jün­gers Fazit ist ein salo­mo­ni­sches: Der Kampf zwi­schen Ost und West wer­de unent­schie­den blei­ben, da er in jedem Men­schen statt­fin­de. Bei­de, Ost und West, hät­ten den sitt­li­chen Cha­rak­ter des Men­schen geformt. »Die Begeg­nung bleibt ein stän­di­ges Pro­blem, eine stän­di­ge Auf­ga­be.« (7) Aber bei aller phi­lo­so­phi­schen Deu­tung kommt Jün­ger abschlie­ßend doch noch auf die Welt­la­ge zurück: »Der Osten und der Wes­ten begin­nen sich die Welt zu tei­len, der Osten unter der Hege­mo­nie Ruß­lands, der Wes­ten unter der Ame­ri­kas.« (8)

Und Jün­ger ver­weist auf den aus die­ser Kon­stel­la­ti­on fol­gen­den Deter­mi­nis­mus, der hier, im Gegen­ein­an­der zwei­er Atom­mäch­te, unwei­ger­lich eine Apo­ka­lyp­se fol­gen sieht. Jün­ger ist dage­gen über­zeugt: Macht­fra­gen las­sen sich nicht durch­rech­nen! Die Sub­stanz, an der sich auf wun­der­ba­re Wei­se die Welt erhält, ist unberechenbar.

Was war 1953 mit so einer Deu­tung anzu­fan­gen? Natür­lich fan­den sich zahl­rei­che begeis­ter­te Rezen­sen­ten, und das Buch muß­te inner­halb eines hal­ben Jah­res zwei­mal nach­ge­druckt wer­den. Aber beim Leser bleibt doch vor allem der Ein­druck hän­gen, daß sich Jün­ger von der Poli­tik ver­ab­schie­det hat­te – ein Ein­druck, der sich weni­ge Jah­re spä­ter im Welt­staat (1960) bestä­ti­gen soll­te, in dem Jün­ger die Block­kon­fron­ta­ti­on als etwas Vor­der­grün­di­ges inter­pre­tiert, das vor allem von der »gro­ßen und wach­sen­den Gleich­för­mig­keit, die sich über die Län­der aus­brei­tet«, ablen­ke. (9)

Es lag nahe, daß sich jemand wie Carl Schmitt, der auf kla­ren Unter­schei­dun­gen bestand, kri­tisch mit die­sen Auf­fas­sun­gen aus­ein­an­der­set­zen wür­de. Ernst Jün­ger und Carl Schmitt kann­ten sich seit den spä­ten 1920er Jah­ren und hat­ten im Drit­ten Reich sehr unter­schied­li­che Wege beschrit­ten, aus denen sich ihre Posi­tio­nen im besieg­ten und geteil­ten Deutsch­land ablei­te­ten: auf der einen Sei­te Ernst Jün­ger, der Autor der Mar­mor­klip­pen, der sich 1933 in die Inne­re Emi­gra­ti­on zurück­ge­zo­gen hat­te und nun, nach einem Ver­öf­fent­li­chungs­ver­bot in den unmit­tel­ba­ren Nach­kriegs­jah­ren, wie­der vom Feuil­le­ton gefei­ert wur­de, auf der ande­ren Carl Schmitt, an dem der Ruch des Auf­sat­zes »Der Füh­rer schützt das Recht« hän­gen­ge­blie­ben war, der sich 1933 für den NS-Staat enga­giert hat­te und nun vor allem Gesprä­che in der »Sicher­heit des Schwei­gens« führ­te. (10)

Das per­sön­li­che Ver­hält­nis der bei­den blieb davon nicht unbe­rührt, Span­nun­gen bau­ten sich auf, blie­ben aber noch unaus­ge­spro­chen. Daher fiel es Armin Moh­ler, dem ehe­ma­li­gen Sekre­tär von Jün­ger und Bewun­de­rer von Carl Schmitt, nicht schwer, letz­te­ren zu einem Bei­trag zur Fest­schrift zum 60. Geburts­tag von Ernst Jün­ger zu über­re­den, die 1955 erschei­nen soll­te. Und Carl Schmitt lie­fer­te unter der Über­schrift »Die geschicht­li­che Struk­tur des heu­ti­gen Welt­ge­gen­sat­zes von Ost und West« Bemer­kun­gen zum Gor­di­schen Kno­ten.

Der Auf­satz von Carl Schmitt geht in eine ganz ande­re Rich­tung als Jün­gers Essay, und zwar so sehr, daß Schmitt am Ende aus­drück­lich vor der »Miß­deu­tung« war­nen muß, sein Auf­satz sei gegen Jün­gers bild­haf­tes Pola­ri­täts­den­ken gerich­tet. Und er betont, daß es unge­recht sei, Jün­gers Schrif­ten auf eini­ge For­meln zu fixie­ren, statt ihre Kern­kraft zu erpro­ben. (11)

Die­ser mil­de Abschluß steht im schar­fen Wider­spruch zu den von Carl Schmitt in sei­nem Auf­satz ent­wi­ckel­ten Anti­the­sen: Schmitt geht von den Beson­der­hei­ten aus, die sich im Lau­fe der Geschich­te in der Aus­ein­an­der­set­zung zwi­schen Ost und West gezeigt haben, um dann auf den wich­ti­ge­ren Gegen­satz, den von Land und Meer, zu spre­chen zu kom­men. Die­sen begreift er nicht, wie Jün­ger, als eine Pola­ri­tät, son­dern als eine kon­kre­te Dia­lek­tik, die sich auf die Fra­ge-Ant­wort-Struk­tur aller geschicht­li­chen Situa­tio­nen und Ereig­nis­se beziehe.

Die Dia­lek­tik, ver­stan­den als stren­ger Gegen­satz von Fra­ge und Ant­wort, wird von Carl Schmitt allen Pola­ri­täts­vor­stel­lun­gen, die von sich ein­an­der gegen­sei­tig bedin­gen­den Grö­ßen aus­ge­hen, gegen­über­ge­stellt: »Die pola­re Span­nung ent­hält eine Gleich­zei­tig­keit der sie bil­den­den Gegen­sät­ze, eine Gleich­zei­tig­keit, die sich in der Struk­tur immer von neu­em und immer gleich wie­der­holt. Das kon­kret-geschicht­li­che Bild dage­gen ent­hält eine dia­lek­ti­sche Span­nung, näm­lich die Auf­ein­an­der­fol­ge einer kon­kre­ten Fra­ge und einer eben­so kon­kre­ten Ant­wort.« (12) Das Sowohl-als-auch Jün­gers kann Ost und West als Bestand­tei­le der bipo­la­ren Wahr­heit Euro­pas sehen, wäh­rend es bei Schmitt um das Ent­we­der-Oder von Fra­ge und Ant­wort geht, mit ande­ren Wor­ten: um Politik.

Carl Schmitt setzt vor­aus, und damit ist er nicht allein, daß jede geschicht­li­che Hand­lung die Ant­wort eines Men­schen auf eine Fra­ge sei, die von der Geschich­te gestellt wer­de: »Jede Ant­wort erhält ihren Sinn durch die Fra­ge, auf die sie ant­wor­tet und bleibt sinn­los für jeden, der die Fra­ge nicht kennt.« (13) Carl Schmitt hat die­se Kon­stel­la­ti­on aus der angel­säch­si­schen Tra­di­ti­on ent­lehnt: Am bekann­tes­ten ist die Erwei­te­rung zur Dia­lek­tik von Her­aus­for­de­rung und Ver­hal­ten durch Arnold Toyn­bee, einen bri­ti­schen Geschichts­phi­lo­so­phen, des­sen mehr­bän­di­ges Haupt­werk, Der Gang der Welt­ge­schich­te, 1949 in einer deut­schen Zusam­men­fas­sung erschien. Aber Carl Schmitt geht es nicht um Geschichts­ge­set­ze, son­dern um die ein­ma­li­ge, kon­kre­te Situation.

Dem­entspre­chend stellt er den ande­ren Deu­tun­gen der Gegen­wart sei­ne eige­ne ent­ge­gen: »Die geschicht­li­che Epo­che der indus­tri­el­len Revo­lu­ti­on und der ent­fes­sel­ten Tech­nik als Fol­ge des Über­gangs zu einer mari­ti­men Exis­tenz.« (14) Letz­te­re war dabei die Ant­wort auf die sich öff­nen­den Ozea­ne: »Der heu­ti­ge Welt-Dua­lis­mus ist für uns nicht ein pola­rer, son­dern ein geschicht­lich-dia­lek­ti­scher Gegen­satz von Land und Meer.« (15) Soweit die Ant­wort von Carl Schmitt auf Ernst Jün­ger, die auf des­sen Aus­füh­run­gen in schärfs­ter Art und Wei­se reagier­te und an Schmitts knap­pes Büch­lein aus dem Jah­re 1942, Land und Meer. Eine welt­ge­schicht­li­che Betrach­tung, anschloß.

Aus­ge­hend von der Dicho­to­mie von Land­tre­tern und Meer­schäu­mern (ein altes Wort für Pira­ten), unter­sucht Schmitt dar­in das wech­sel­vol­le Ver­hält­nis von Land und Meer, wobei er gleich zu Beginn den Deter­mi­nis­mus ablehnt, weil ein neu­es Raum­ge­fühl (eine »Raum­re­vo­lu­ti­on«) sonst undenk­bar wäre. Aber um den Wech­sel der Struk­tur des Raum­be­grif­fes geht es Schmitt, weil an ihm die poli­ti­sche Grund­ord­nung, der Nomos einer jeden Epo­che hänge.

Die letz­te, geschicht­lich voll­ende­te Raum­re­vo­lu­ti­on sei die des 16. und 17. Jahr­hun­derts gewe­sen, als die euro­päi­schen See­fah­rer den Rest der Welt in Besitz nah­men: das Zeit­al­ter der euro­päi­schen Land­nah­me, das durch die bri­ti­sche See­nah­me ergänzt und voll­endet wor­den sei. Letz­te­re führ­te zu einem Wan­del des Krie­ges, der zu See gegen den Han­del und damit auch gegen Zivi­lis­ten bis zur Ver­nich­tung geführt wur­de. Mit der ver­kehrs­mä­ßi­gen Erschlie­ßung des Mee­res im Lau­fe des 19. Jahr­hun­derts ver­lo­ren die Bri­ten ihren Sta­tus als Meer­schäu­mer und wur­den »Maschi­nen­be­die­ner«. (16)

Des­halb, so muß man Schmitt wohl ver­ste­hen, konn­ten die Bri­ten gegen das Schwin­den ihrer Macht in den bei­den Welt­krie­gen nichts unter­neh­men und ver­lo­ren die Initia­ti­ve. Aber nicht nur des­we­gen hät­ten die Bri­ten nichts mit der im Ent­ste­hen begrif­fe­nen, neu­en Raum­ord­nung zu tun, son­dern auch, weil in die­ser die Unter­schei­dung von Land und Meer auf­ge­ho­ben sei. In die­ser sich voll­zie­hen­den Raum­re­vo­lu­ti­on sah Schmitt eine Ergän­zung zur Rus­si­schen Revo­lu­ti­on, dem Ende der bür­ger­li­chen Gesellschaft.

Die­se Ablö­sung der Bri­ten bei der Welt­herr­schaft ist von dem bri­ti­schen Geo­gra­phen Hal­ford Mack­in­der bereits 1904 vor­aus­ge­se­hen wor­den. In dem Auf­satz »The Geo­gra­phi­cal Pivot of Histo­ry« stell­te er die The­se auf, daß die Welt­herr­schaft in Zukunft dem­je­ni­gen gege­ben sei, der Eura­si­en beherr­sche. (17) Die Bri­ten als See­macht hat­ten lan­ge das Auf­kom­men einer Land­macht ver­hin­dern kön­nen, wur­den aber letzt­lich Opfer ihrer eige­nen Erfin­dun­gen, der Dampf­ma­schi­ne und der Loko­mo­ti­ve, die es den Land­mäch­ten ermög­lich­ten, sich durch Erschlie­ßung des eura­si­schen Kon­ti­nents als Gegen­macht zu eta­blie­ren. Geo­gra­phisch unter­schei­det Mack­in­der zwi­schen der Welt­in­sel (Euro­pa und Afri­ka), den küs­ten­na­hen Inseln (Groß­bri­tan­ni­en und Japan) und den küs­ten­fer­nen Inseln (Ame­ri­ka und Aus­tra­li­en). Das Herz­land wie­der­um, das Rus­si­sche Reich mit sei­nen west­li­chen und süd­li­chen Grenz­ge­bie­ten, sei das Zen­trum der Welt­in­sel. Wer es beherr­sche, beherr­sche die Welt, so Mackinder.

In den 1950er Jah­ren, als die bei­den ein­gangs zitier­ten Essays von Jün­ger und Schmitt erschie­nen, beherrsch­te die Sowjet­uni­on Ost­eu­ro­pa, um das zwi­schen 1941 und 1945 erbit­tert gekämpft wor­den war, ohne jedoch des­halb bereits der Welt­herr­scher zu sein. Nicht ohne Grund inten­si­vier­te die Sowjet­uni­on seit Mit­te der 1950er Jah­re ihre Bemü­hun­gen um Ein­fluß in Afghanistan.

Ein Nach­fol­ger von Mack­in­der, der Ver­tre­ter einer »Big Histo­ry«, Ian Mor­ris, hat vor kur­zem ein volu­mi­nö­ses Buch vor­ge­legt, das die The­se ver­tritt, die Ent­ge­gen­set­zung von Land und Meer sei durch­aus noch aktu­ell. Der Titel des Buches, Geo­gra­phie ist Schick­sal, weist bereits dar­auf hin: Ohne die Insel­la­ge wäre die bri­ti­sche Geschich­te zwei­fel­los anders ver­lau­fen. Aber Mor­ris ist kein stren­ger Deter­mi­nist, son­dern sieht in der Insel­la­ge eine Her­aus­for­de­rung, auf die es eine ange­mes­se­ne Ant­wort zu fin­den galt. Prag­ma­tisch heißt es: »Wir sind weder die Skla­ven noch die Her­ren des Schick­sals. Das Geheim­nis des Erfolgs besteht dar­in zu ver­ste­hen, in wel­che Rich­tung sich der Kar­ren bewegt, und her­aus­zu­fin­den, wie man das meis­te dar­aus machen kann.« (18)

Aus der Insel­la­ge her­aus wird ver­ständ­lich, war­um die Bri­ten immer wie­der ver­such­ten, einen Gegen­wall, mög­lichst weit auf dem Fest­land, zu errich­ten, um sich vor Bedro­hun­gen zu schüt­zen. Im Gegen­satz zu Carl Schmitt sieht Mor­ris das mari­ti­me Zeit­al­ter bereits mit den Ent­de­ckungs­fahr­ten Ende des 15. Jahr­hun­derts (Neu­fund­land) begin­nen. Seit­dem begann die Rei­se Groß­bri­tan­ni­ens zum Mit­tel­punkt der Erde, so daß aus der geo­gra­phi­schen Rand- eine Zen­tral­la­ge wur­de. Die atlan­ti­sche Öko­no­mie (und die Erfin­dun­gen im Rah­men der Indus­tri­el­len Revo­lu­ti­on) mach­ten Groß­bri­tan­ni­en reich und, nach sei­nem Selbst­ver­ständ­nis, zum tugend­haf­tes­ten Volk der Welt. Da Mor­ris die­sem Volk selbst ange­hört, wird die­se typisch bri­ti­sche Dop­pel­mo­ral von ihm nicht wei­ter erörtert.

Es ist inter­es­sant, daß Mor­ris nicht nur eine geo­gra­phi­sche Bezie­hung zwi­schen der Eis­zeit, die die Bri­ti­schen Inseln vom Kon­ti­nent trenn­te, und dem Brexit her­stellt. Es gibt auch eine ideel­le Bezie­hung, denn die The­men, um die es in der Geschich­te immer gegan­gen sei, las­sen sich bei ihm auf »Iden­ti­tät, Mobi­li­tät, Wohl­stand, Sicher­heit und Sou­ve­rä­ni­tät« zurück­füh­ren. (19) Dar­aus erklä­re sich der Brexit, aber auch die gan­ze bri­ti­sche Geschich­te bis dahin. Der Brexit sei die neue bri­ti­sche Ant­wort auf die alten geo­gra­phi­schen Fragen.

War­um hier von alten Fra­gen die Rede ist, erklärt sich leicht, wenn wir noch ein­mal auf Carl Schmitt zurück­kom­men. Denn mit sei­ner Deu­tung des Ost-West-Gegen­sat­zes war er noch nicht am Ende, viel­mehr ließ er noch eine War­nung fol­gen. Sie besteht in dem noch­ma­li­gen Hin­weis auf die kon­kre­te Ein­ma­lig­keit einer his­to­ri­schen Situa­ti­on: »Indem die Men­schen his­to­risch zu sein glau­ben und sich an das frü­her ein­mal Wah­re hal­ten, ver­ges­sen sie, daß eine geschicht­li­che Wahr­heit nur ein­mal wahr ist.« Daher fra­ge sich, was der »gegen­wär­ti­ge, aktu­el­le Anruf der Geschich­te« sei, der mit dem sich öff­nen­den Oze­an nicht mehr iden­tisch ist. (20) Lei­der sei es nur all­zu natür­lich, daß die Men­schen auf einen neu­en Anruf mit der alten Ant­wort reagier­ten. Aber gera­de die Wei­ter­füh­rung der alten Wahr­heit wer­de unge­schicht­lich, denn »es ist des­halb all­zu natür­lich, daß der Sie­ger der ver­gan­ge­nen Epo­che den Anruf der Geschich­te am ehes­ten ver­fehlt. Denn wie soll­te der Sie­ger ver­ste­hen, daß auch sein Sieg nur ein­mal wahr ist?« (21)

An die­ser Stel­le bricht Carl Schmitt ab, ohne sich in Spe­ku­la­tio­nen über die Art des neu­en Anrufs der Geschich­te zu erge­hen. Aller­dings ist die­se The­se, daß die Ver­lie­rer im Hin­blick auf die Zukunft die eigent­li­chen Sie­ger sei­en, nicht neu. Ähn­li­che Debat­ten gab es nach dem Ers­ten Welt­krieg, als sich in Deutsch­land die Kon­ser­va­ti­ve Revo­lu­ti­on for­mier­te, die durch­aus der Mei­nung war, daß der Ver­lie­rer in bezug auf die Zukunft in der bes­se­ren Posi­ti­on sei. Denn alles wür­de sich ändern, wor­auf der­je­ni­ge, der gera­de durch sei­nen Sieg bestä­tigt wor­den sei, schlech­ter vor­be­rei­tet sein muß­te als der­je­ni­ge, den die Nie­der­la­ge zwin­ge, alles in Fra­ge zu stel­len. (22)

Daß die Sie­ger der bei­den Welt­krie­ge die rich­ti­gen Ant­wor­ten auf die drän­gends­ten Pro­ble­me gehabt hät­ten, kann man wahr­lich nicht behaup­ten. Hans-Diet­rich San­der hat das für den Zwei­ten Welt­krieg prä­gnant for­mu­liert: »Der Tri­umph der Sie­ger war ein Tri­umph der alten Mäch­te des Libe­ra­lis­mus und des Sozia­lis­mus. Er lös­te kei­nes der wesent­li­chen Pro­ble­me. Er ver­schärf­te jedes.« (23) Die Alli­ier­ten waren die Sie­ger, weil sie es zwei­mal geschafft hat­ten, ein eigent­lich wider­na­tür­li­ches Bünd­nis auf die Bei­ne zu stel­len. Wider­na­tür­lich, weil ihre Ant­wor­ten unter­schied­li­cher nicht hät­ten sein kön­nen, was sich schließ­lich im Kal­ten Krieg, der Lage, in der Jün­ger und Schmitt mit­ein­an­der dis­ku­tier­ten, zei­gen sollte.

Der Begriff »Kal­ter Krieg« bezieht sich meist auf den »Eiser­nen Vor­hang« Chur­chills und die Tru­man-Dok­trin, nach der die Ver­hin­de­rung der sowje­ti­schen Expan­si­on an ers­ter Stel­le ste­hen müs­se. Er wur­de 1947 von Wal­ter Lipp­mann in die poli­ti­sche Debat­te ein­ge­führt. Erst­mals ver­wen­det wur­de er aller­dings von Geor­ge Orwell, der im Okto­ber 1945 die Welt auf einen per­ma­nen­ten Zustand des »Kal­ten Krie­ges« zusteu­ern sah. Damit nahm er zum einen Bezug auf die Exis­tenz der Atom­bom­be, wel­che die Sowjets auch bald besit­zen wür­den, und die dar­aus resul­tie­ren­de Mono­po­li­sie­rung der Macht in weni­gen Groß­rei­chen, wozu Orwell neben der Sowjet­uni­on und den USA auch Chi­na zählte.

Zum ande­ren bezog er sich auf das Buch Die Revo­lu­ti­on der Mana­ger von James Burn­ham, in dem er die gesell­schafts­po­li­ti­sche Ergän­zung erblick­te. Bei­des, die Atom­bom­be und die Herr­schaft der Mana­ger, füh­re zu einer neu­en Epo­che der Skla­ve­rei, die ähn­lich sta­bil wie die Anti­ke sei. Er sieht dar­in »die Art von Welt­an­schau­ung, die Art von Über­zeu­gun­gen und die sozia­le Struk­tur, die wahr­schein­lich in einem Staat vor­herr­schen wür­den, der gleich­zei­tig unbe­sieg­bar ist und sich mit sei­nen Nach­barn in einem per­ma­nen­ten Zustand des ›Kal­ten Krie­ges‹ befin­det«. (24)

Ernst Nol­te hat in den 1970er Jah­ren ein scharf­sin­ni­ges Buch über den Kal­ten Krieg geschrie­ben und zwei extre­me Deu­tun­gen ein­an­der gegen­über­ge­stellt: Die ers­te Deu­tung bezieht sich auf den kon­kre­ten macht­po­li­ti­schen Kon­flikt zwi­schen zwei Groß­mäch­ten, die seit 1949 an der inner­deut­schen Gren­ze auf­mar­schiert stan­den. Die zwei­te Deu­tung ord­net die­sen Kal­ten Krieg in den Welt­bür­ger­krieg der Ideo­lo­gien ein, in eine seit 1917 anhal­ten­de Her­aus­for­de­rung der »west­li­chen Demo­kra­tien« durch alter­na­ti­ve Ideo­lo­gien wie den Kom­mu­nis­mus, zu denen sich zeit­wei­se der Natio­nal­so­zia­lis­mus gesell­te. (25)

Vor die­sem Hin­ter­grund kön­nen wir noch­mals fra­gen, wor­in Mit­te der 1950er Jah­re die Her­aus­for­de­rung, der Anruf bestand. Nach offi­zi­el­ler Les­art bestand er offen­sicht­lich dar­in, West­eu­ro­pa so weit in Gleich­klang zu brin­gen, daß der ame­ri­ka­ni­sche Hege­mon für sei­ne Sicher­heits­ga­ran­tien eine ver­nünf­ti­ge Gegen­leis­tung erwar­ten konn­te. Was als Wie­der­be­waff­nungs­de­bat­te in die Geschich­te ein­ging, begann mit dem Krieg in Korea, da sich jeder Deut­sche ange­sichts der Kon­stel­la­ti­on an der inner­deut­schen Gren­ze aus­ma­len konn­te, was pas­sie­ren wür­de, wenn die Sowjets in Euro­pa ähn­lich agier­ten. (26) Die euro­päi­sche Eini­gung, zunächst mili­tä­risch ganz offen gegen Deutsch­land gerich­tet, dehn­te sich bald auf den west­li­chen Rest die­ses ehe­ma­li­gen Geg­ners aus und mün­de­te in die Auf­nah­me Deutsch­lands in die NATO, wovon sich vor allem die Bri­ten eine Schwä­chung der fran­zö­si­schen Posi­ti­on erhofften.

Dar­über hin­aus sei, so Nol­te, Deutsch­lands Geschich­te »in höhe­rem Maße eine Geschich­te ideo­lo­gi­scher Kon­flik­te und poli­ti­scher Tei­lun­gen als die­je­ni­ge irgend­ei­nes ande­ren Staa­tes der Welt. Als Kriegs­ge­biet spe­zi­fi­scher Art ist Deutsch­land weit­aus älter als der Kal­te Krieg, der zu einem wesent­li­chen Teil auf sei­nem Boden aus­ge­tra­gen wur­de«. (27) In Deutsch­land wur­de der Mar­xis­mus gebo­ren, und der Zwei­te Welt­krieg nahm hier sei­nen Ausgang.

Inso­fern ist es nicht so abwe­gig, wie es auf den ers­ten Blick schei­nen mag, daß sich zwei der her­aus­ra­gen­den Geis­ter Deutsch­lands in die­ser his­to­ri­schen Lage nicht mit der Wie­der­be­waff­nung oder der euro­päi­schen Eini­gung beschäf­tig­ten, son­dern, jeder auf sei­ne Art, die Fra­ge nach dem Hin­ter­grund stell­ten, vor dem sich die­ses für alle sicht­ba­re Schau­spiel vollzog.

Wir haben heu­te in Deutsch­land eine ähn­li­che Situa­ti­on. Vor­der­grün­dig geht es um unse­ren Anteil an der Ver­tei­di­gung der west­li­chen Wer­te und die dafür not­wen­di­gen Mit­tel. Der Krieg in der Ukrai­ne hat hier­zu­lan­de zu einer Mili­ta­ri­sie­rung der Poli­tik geführt, die noch vor zehn Jah­ren undenk­bar schien. Es ent­behrt nicht einer gewis­sen Logik, daß sich die links­li­be­ra­len Grü­nen von einer Pazi­fis­ten- zu einer Bel­li­zis­ten­par­tei ent­wi­ckelt haben. (28) Die Fra­ge lau­tet: Was geschieht unter der Ober­flä­che, wor­in besteht die geschicht­li­che Her­aus­for­de­rung für uns? Um die­se Fra­gen zu beant­wor­ten, müs­sen wir einen Blick auf die Ukrai­ne wer­fen, weni­ger auf die kon­kre­ten Kriegs­ur­sa­chen als den dahin­ter­ste­hen­den Kon­flikt. Es geht um Geopolitik.

Für Ruß­land geht es um eine rote Linie. Das Land wür­de durch eine NATO-Mit­glied­schaft der Ukrai­ne end­gül­tig in die Rol­le einer Regio­nal­macht gedrängt. Die USA haben genau dar­an ein Inter­es­se, weil sie nur so ihre Hege­mo­nie über Euro­pa absi­chern kön­nen, die durch die Chi­ne­sen am öst­li­chen Ende Eura­si­ens gera­de her­aus­ge­for­dert wird. Eini­ge Kom­men­ta­to­ren haben den Ukrai­ne­krieg des­halb mit dem Korea­krieg ver­gli­chen, nicht nur im Hin­blick auf die Aus­sicht, daß es auch in die­sem Krieg kei­nen Sie­ger geben wird, son­dern auch, was den Aus­bruch des Krie­ges betrifft. 1950 war Korea für die USA zweit­ran­gig, Euro­pa das Gra­vi­ta­ti­ons­zen­trum. Heu­te ist es umge­kehrt, die USA müs­sen sich auf den Ost­pa­zi­fik kon­zen­trie­ren – eine Kon­stel­la­ti­on, die womög­lich nicht nur Putin für sich nut­zen wird. (29)

Ein siche­res Indiz dafür, daß die dar­über hin­aus­ge­hen­de Deu­tung schwie­rig ist, liegt in der feh­len­den Geschlos­sen­heit der euro­päi­schen Rech­ten bezüg­lich der Fra­ge, wel­che Kon­flikt­par­tei zu unter­stüt­zen sei. Auf der einen Sei­te steht das ukrai­ni­sche Volk, das sich gegen den impe­ria­len Aggres­sor wehrt und einen selbst­ver­ständ­li­chen Natio­na­lis­mus kul­ti­viert, dabei aber auch die zivil­re­li­giö­sen Dog­men sei­ner Ver­bün­de­ten ins Land trägt und es der One-World-Ideo­lo­gie unter­wirft. Auf der ande­ren Sei­te steht Ruß­land, das sich gegen die uni­po­la­re Welt­ord­nung, die Deka­denz des Wes­tens und des­sen Gering­schät­zung von Fami­lie, Reli­gi­on und Staat zur Wehr setzt, gleich­zei­tig aber eine »Ent­na­zi­fi­zie­rung« der Ukrai­ne anstrebt.

Die­se Deu­tun­gen spei­sen sich vor­wie­gend aus Gerüch­ten und Ver­mu­tun­gen, da es schwie­rig ist, durch den Nebel des Krie­ges, die Pro­pa­gan­da bei­der Sei­ten, über­haupt zu erken­nen, was dort jeweils vor sich geht. Aber der kul­tu­rel­le Kon­flikt zwi­schen Ruß­land und dem Wes­ten ist älter als der aktu­el­le Krieg in der Ukrai­ne. Der Publi­zist Hau­ke Ritz hat schon früh­zei­tig auf die kul­tu­rel­le Dimen­si­on die­ser Aus­ein­an­der­set­zung hin­ge­wie­sen. Er beschreibt einen Streit um eine moder­ne und eine post­mo­der­ne Welt­sicht. Es gehe letzt­lich »um die Fra­ge, wie die Mensch­heit im 21. Jahr­hun­dert mit ihren in der bis­he­ri­gen Geschich­te ent­stan­de­nen Tra­di­tio­nen umge­hen soll.« (30) Sol­len sie ver­wan­delt bewahrt oder abge­schnit­ten werden?

Die Moder­ne plä­diert für Bewah­rung und Inte­gra­ti­on in die moder­ne Lebens­welt, die Post­mo­der­ne will sie dekon­stru­ie­rend rela­ti­vie­ren. Ruß­land hat sich für ers­te­res ent­schie­den, pflegt die natio­na­le Iden­ti­tät, erkennt die Kir­che als Fak­tor an und stellt Grup­pen- über Ein­zel­i­den­ti­tät. Dar­in kann man eine Reak­ti­on auf die sowje­ti­sche Erfah­rung sehen, die als von oben bru­tal durch­ge­führ­te Moder­ni­sie­rung wahr­ge­nom­men wur­de. Ritz for­dert die Aner­ken­nung der kul­tu­rel­len Eigen­stän­dig­keit Ruß­lands durch den Wes­ten, der dazu aber ein­se­hen müß­te, daß sein Pro­jekt der gren­zen­lo­sen Frei­heit in die Sack­gas­se füh­re. Eine sol­che Ein­sicht fällt dem Sie­ger der Geschich­te natur­ge­mäß schwer, der dar­über hin­aus sogar blind sein mag für die zer­set­zen­de Kraft des Liberalismus.

Der Kon­flikt zwi­schen Moder­ne und Post­mo­der­ne läßt sich im Sin­ne von Carl Schmitt etwas kon­kre­ter fas­sen, näm­lich als Dia­lek­tik von Par­ti­ku­la­ris­mus und Uni­ver­sa­lis­mus. Die­se spie­gelt sich immer noch in der Dia­lek­tik der Land- (Ruß­land, Chi­na, Iran) und See­mäch­te (USA, UK, Japan) wider, was für Euro­pa sofort die Fra­ge nach der Gül­tig­keit die­ser Ein­tei­lung auf­kom­men läßt: Folgt aus unse­rer Eigen­schaft als Mäch­te zu Land der Par­ti­ku­la­ris­mus? Was ist mit Por­tu­gal, was mit Nor­we­gen, oder sind wir durch den hier­zu­lan­de kul­ti­vier­ten Uni­ver­sa­lis­mus geis­tig end­gül­tig zum Anhäng­sel der See­mäch­te geworden?

Par­ti­ku­la­ris­mus und Uni­ver­sa­lis­mus sind aber unab­hän­gig davon die Ideen, zwi­schen denen sich die Zukunft der Welt ent­schei­det. Rolf Peter Sie­fer­le hat das bereits 1994 in aller Deut­lich­keit for­mu­liert: »Der heu­ti­ge defen­si­ve Uni­ver­sa­lis­mus steht in einem tota­len Gegen­satz zwi­schen den Inter­es­sen der Men­schen in den Wohl­stands­zo­nen und sei­nem letz­ten Ziel einer pla­ne­ta­risch-huma­ni­tä­ren Gerech­tig­keit.« (31) Er folgt einem abs­trak­ten Prin­zip. Der natio­na­le Par­ti­ku­la­ris­mus ver­tritt dage­gen kon­kre­te Inter­es­sen, kommt aber in einer uni­ver­sa­lis­tisch gepräg­ten Welt unter die Räder: »Visi­ons­lo­se Inter­es­sen­ver­tre­tung gegen boden­lo­se Gesin­nungs­ethik, dies mag die Kon­fron­ta­ti­on der Zukunft sein. Viel­leicht haben dabei die Inter­es­sen zumin­dest kurz­fris­tig die bes­se­ren Kar­ten – das mag für den gesin­nungs­ethi­schen Rigo­ris­mus jedoch ledig­lich Anlaß für eine grö­ße­re Radi­ka­li­tät sein.« (32)

Wir sehen, daß sich die­ses Ver­hält­nis nicht nur als tota­ler Gegen­satz, son­dern auch als Pola­ri­tät den­ken läßt. Uni­ver­sa­lis­mus und Par­ti­ku­la­ris­mus sind auf­ein­an­der bezo­gen, sind Hal­tun­gen, die ein­an­der bedin­gen und sich gegen­sei­tig befeu­ern und die ohne ihren Gegen­pol zur Ent­ar­tung nei­gen: Aus der genüg­sa­men Selbst­be­schrän­kung wird ohne eine über sie hin­aus­wei­sen­de Idee eine bor­nier­te Selbst­ver­got­tung, aus der aus­grei­fen­den Sys­tem­idee ohne ein begren­zen­des Moment mis­sio­na­ri­sches Eifer­tum. In die­ser Span­nung leben nicht nur die Deut­schen, aber vor allem die Deut­schen: »Deutsch­land ist heu­te das Schla­raf­fen­land der Erfolgs­wich­te, denen die mora­li­sche Pro­sti­tu­ti­on längst zur selbst­ver­ständ­li­chen Vor­aus­set­zung des sozia­len Auf­stiegs wurde.

Zugleich aber ist und bleibt es das Land, das mit Preu­ßen im rea­len und mit Hegel im idea­len Rah­men die heu­ti­ge Welt­ge­stalt der­ma­ßen präg­te wie nicht vie­le wei­te­re Län­der […].« Das schrieb der Pri­vat­ge­lehr­te Johan­nes Bar­nick weni­ge Jah­re nach der Jün­ger-Schmitt-Debat­te. Sein Anspruch, daß »wir noch nicht am Ende sind, daß unser Dasein sich für die Welt­ge­schich­te noch lohnt«, konn­te bis­lang noch nicht ein­ge­löst wer­den, bleibt aber ange­sichts der gegen­wär­ti­gen Her­aus­for­de­rung gültig.

– – –

(1) – Ernst Jün­ger: Der gor­di­sche Kno­ten, Frank­furt a. M. 41954, S. 5.

(2) – Ebd., S. 7.

(3) – Ebd., S. 25.

(4) – Ebd., S. 31.

(5) – Vgl. Mar­tin van Cre­veld: Kampf­kraft. Mili­tä­ri­sche Orga­ni­sa­ti­on und Leis­tung 1939 – 1945, Graz 2005.

(6) – Jün­ger: Kno­ten, S. 122.

(7) – Ebd., S. 142.

(8) – Ebd., S. 143.

(9) –Ernst Jün­ger: Der Welt­staat. Orga­nis­mus und Orga­ni­sa­ti­on, Stutt­gart 1960, S. 23.

(10) – Vgl. zuletzt: Nor­bert Diet­ka: Ernst Jün­ger und Carl Schmitt. Eine ambi­va­len­te Bezie­hung, Hei­del­berg 2023.

(11) – Vgl. Carl Schmitt: »Die geschicht­li­che Struk­tur des heu­ti­gen Welt­ge­gen­sat­zes von Ost und West«, in: Armin Moh­ler (Hrsg.): Freund­schaft­li­che Begeg­nun­gen. Fest­schrift für Ernst Jün­ger zum 60. Geburts­tag, Frank­furt a. M. 1955, S. 135 – 167, hier S. 166 f.

(12) – Ebd., S. 147.

(13) – Ebd., S. 151.

(14) – Ebd., S. 166.

(15) – Ebd.

(16) – Carl Schmitt: Land und Meer. Eine welt­ge­schicht­li­che Betrach­tung, Stutt­gart 82006, S. 99.

(17) – Vgl. Hal­ford John ­Mack­in­der: Der Schlüs­sel zur Welt­herr­schaft. Die Heart­land-Theo­rie, mit einem Lage­be­richt von Wil­ly Wim­mer, Frank­furt a. M. 2019.

(18) – Ian Mor­ris: Geo­gra­phie ist Schick­sal. Macht­kampf zwi­schen Groß­bri­tan­ni­en, Euro­pa und der Welt – eine 10 000jährige Geschich­te, Frank­furt a. M. 2022, S. 571.

(19) – Ebd., S. 11.

(20) – Schmitt: Struk­tur, S. 166.

(21) – Ebd.

(22) – Vgl. Wolf­gang Schi­vel­busch: Die Kul­tur der Nie­der­la­ge. Der ame­ri­ka­ni­sche Süden 1865, Frank­reich 1871, Deutsch­land 1918, Ber­lin ²2001, S. 225 – 285.

(23) – Hans-Diet­rich ­San­der: Die Auf­lö­sung aller Din­ge. Zur geschicht­li­chen Lage des Juden­tums in den Meta­mor­pho­sen der ­Moder­ne, Mün­chen o. J. [1988], S. 163.

(24) – Geor­ge Orwell: »You and the Atom Bomb«, in: Tri­bu­ne vom 19. Okto­ber 1945 (www.orwell­foundation.com).

(25) – Vgl. Ernst Nol­te: Deutsch­land und der kal­te Krieg, Mün­chen 1974, S. 39.

(26) – Vgl. ebd., S. 287.

(27) – Ebd., S. 57 f.

(28) – Vgl. Ste­fan Luft: »Die Grü­nen und der Krieg«, in: San­dra Kost­ner, ­Ste­fan Luft (Hrsg.): Ukrai­ne­krieg. War­um Euro­pa eine neue Ent­span­nungs­po­li­tik braucht, Frank­furt a. M. 2023, S. 259 – 287.

(29) – Vgl. Chao­ting Cheng: »Das chi­ne­sisch-rus­sisch-ira­ni­sche Bünd­nis ist der geo­po­li­ti­sche Alb­traum der USA«, in: Ber­li­ner Zei­tung vom 23. März 2023
(www.berliner-zeitung.de).

(30) – Hau­ke Ritz: »Besitzt der gegen­wär­ti­ge Kon­flikt mit Ruß­land eine kul­tu­rel­le ­Dimen­si­on?«, in: Ost / Let­ter. Wis­sen­schaft­li­che Internet­zeitschrift des Ost­institutes Wis­mar 3/2014
(www.ostinstitut.de).

(31) – Rolf Peter Sie­fer­le: ­Epo­chen­wech­sel. Die Deut­schen an der Schwel­le zum 21. Jahr­hun­dert (1994), ­Ber­lin 2017, S. 478.

(32) – Ebd., S. 479 f.

(33) – Johan­nes Bar­nick: Deutsch-rus­si­sche Nach­bar­schaft (1959), mit einem Vor­wort von Tho­mas Fas­ben­der, Neu­rup­pin 2022, S. 171.

Erik Lehnert

Erik Lehnert ist promovierter Philosoph.

Nichts schreibt sich
von allein!

Das Blog der Zeitschrift Sezession ist die wichtigste rechtsintellektuelle Stimme im Netz. Es lebt vom Fleiß, von der Lesewut und von der Sprachkraft seiner Autoren. Wenn Sie diesen Federn Zeit und Ruhe verschaffen möchten, können Sie das mit einem Betrag Ihrer Wahl tun.

Sezession
DE58 8005 3762 1894 1405 98
NOLADE21HAL

Kommentare (0)