Benny Morris ist ein israelischer Historiker, der dafür bekannt ist, endgültig mit dem Mythos aufgeräumt zu haben, die in Palästina lebenden Araber hätten das Land im Laufe des israelischen Unabhängigkeitskrieges 1948 »freiwillig« verlassen, weil die Führer der arabischen Welt sie per Rundfunk dazu aufgefordert hätten.
Er zählt aber nicht zu jenen Israelis (wie etwa Ilan Pappé), die die »ethnische Säuberung« Palästinas für eine politische Erbsünde Israels halten, die durch Zugeständnisse an die Palästinenser gesühnt werden muß.
Vielmehr äußerte er in einem Interview die Ansicht, daß eine »vollständige« – und nicht nur wie geschehen eine teilweise – Vertreibung »den Staat Israel für Generationen stabilisiert« hätte. (1) Man könnte hinzufügen: ebenso wie Europa nachhaltig durch Flucht und Vertreibung von etwa 14 Millionen Deutschen »stabilisiert« wurde.
Gefragt, ob er sich auch heute an Vertreibungen beteiligen würde, verneinte er dies aus moralischen und realistischen Gründen, fügte jedoch hinzu, daß er sich derartiges »unter anderen, apokalyptischen Umständen, die in fünf oder zehn Jahren eintreten könnten«, durchaus vorstellen könne: »Wenn wir mit Atomwaffen um uns herum konfrontiert werden, oder wenn es einen allgemeinen arabischen Angriff auf uns gibt und eine Kriegssituation mit Arabern, die im Hinterland Konvois auf dem Weg zur Front beschießen, werden Vertreibungsaktionen völlig vernünftig sein. Sie könnten sogar unabdingbar sein.«
Seit dem Angriff der Hamas auf israelische grenznahe Kibbuze und Kleinstädte am 7. Oktober 2023 und den darauffolgenden wochenlangen Bombardements des Gazastreifens durch israelische Streitkräfte scheinen diese »apokalyptischen Umstände« näher als je zuvor gerückt zu sein. Massenvertreibungen haben noch nicht stattgefunden; sollte es dazu kommen, ist mit einem Eingriff weiterer Parteien in den Krieg zu rechnen, der schlimmstenfalls den Konflikt zu einem Weltkrieg ausweiten könnte. »Alle Optionen sind auf dem Tisch«, drohte der Generalsekretär der Hisbollah, Hassan Nasrallah, am 3. November. »Alle Möglichkeiten an unseren libanesischen Fronten sind in Reichweite.« Am 6. November, als die Zahl der getöteten Zivilisten in Gaza mit angeblich über zehntausend jene des russisch-ukrainischen Krieges überschritten hatte, äußerte der jordanische Ministerpräsident Bisher al-Khasawneh, sein Land werde jeglichen Versuch einer Vertreibung der Palästinenser als »Kriegserklärung« betrachten.
Die Kriegsrhetorik der israelischen Führung hat inzwischen einen kaum noch zu überbietenden Erhitzungsgrad erreicht. Der Verteidigungsminister Joav Gallant kündete eine »komplette Belagerung« des Gazastreifens an und bezeichnete dessen Bevölkerung als »menschliche Tiere«. Der Minister für Kulturerbe, Amichai Elijahu, zog in Betracht, eine Atombombe auf Gaza zu werfen, während Staatspräsident Herzog meinte, es sei »eine ganze Nation da draußen«, die für die Taten der Hamas »verantwortlich« sei.
Ministerpräsident Netanjahu spickte eine Kriegsrede mit Bibelzitaten, inklusive der berüchtigten Beschwörung: »Erinnert euch daran, was Amalek euch angetan hat« (2. Mose 17,8), die einen genozidalen Kontext hat: Im ersten Buch Samuel (15,2–3) fordert Jahwe König Saul auf: »Ich habe nicht vergessen, was die Amalekiter meinem Volk angetan haben. […] Darum sollst du nun gegen dieses Volk in den Kampf ziehen und mein Urteil an ihnen vollstrecken! Verschone nichts und niemanden, sondern töte Männer und Frauen, Kinder und Säuglinge, Rinder und Schafe, Kamele und Esel.«
Am 28. Oktober veröffentlichte das israelische Magazin Mekomit ein geleaktes Dokument aus dem Ministerium für Nachrichtendienste, datiert auf den 13. Oktober, das vorsieht, den Gazastreifen zu besetzen und dessen über zwei Millionen Bewohner zu vertreiben. Von Netanjahu als »vorläufiges Papier« abgetan, stehen Pläne dieser Art in einer langen Tradition, die bis zu den Wurzeln des Staates Israel zurückreicht. Um in dem britischen Mandatsgebiet Palästina einen jüdischen Staat errichten zu können, bedurfte es einer jüdischen Bevölkerungsmehrheit, die die Zionisten seit Ende des Ersten Weltkriegs durch gezielte Einwanderung zu erreichen suchten.
Die »Balfour-Deklaration« von 1917 verlangte die Berücksichtigung der »bürgerlichen und religiösen Rechte der bestehenden nichtjüdischen Gemeinschaften in Palästina«, die zu diesem Zeitpunkt noch die Mehrheit stellten. Um einen »homogenen jüdischen Staat oder zumindest einen Staat mit einer überwältigenden jüdischen Mehrheit zu schaffen« (Benny Morris), genügte die bloße Einwanderung von Juden jedoch nicht. Tom Segev, ein weiterer israelischer Historiker, berichtet: »Der Transfer-Gedanke war von Anfang an Teil der zionistischen Bewegung. Im Kern bestand der zionistische Traum darin, die Araber ›zum Verschwinden zu bringen‹, was zugleich eine Grundvoraussetzung für die Existenz dieses Traums war.« (2)
Nur wenige Zionisten zweifelten daran, daß ein solcher Transfer moralisch vertretbar sei, nicht zuletzt, weil es doch genügend arabische Nachbarstaaten gebe, in denen die Araber Palästinas stattdessen leben könnten. Einige hegten die Hoffnung, dieser Transfer könne auf friedlichem Wege, durch »Übereinkunft«, geschehen, während andere realistischerweise mit erheblichem Widerstand der Transferobjekte rechneten. Die wachsende Furcht der Araber, zur Minderheit im eigenen Land zu werden, führte bereits in den 1920er Jahren zu »punktuellen, nicht selten grausamen oder chaotischen Ausbrüchen von Gewalt gegenüber einzelnen Juden oder kleinen jüdischen Siedlungen«. (3)
In den dreißiger Jahren führte die antisemitische Politik der Nationalsozialisten zu weiteren Einwanderungswellen. Der arabische Widerstand kulminierte schließlich im Aufstand von 1936 / 39, der von der britischen Kolonialmacht im Verbund mit jüdischen paramilitärischen Truppen niedergeschlagen wurde. 1945 bis 1948, nach Ende des Zweiten Weltkriegs und des nationalsozialistischen Völkermords, strömten weitere Wellen illegaler jüdischer Einwanderer nach Palästina und erzeugten eine »Flüchtlingskrise«, die die Briten unter erheblichen Druck setzte, den Forderungen der Zionisten nach Teilung des Landes nachzugeben.
Der Krieg von 1948, dessen Ursachen der von den Arabern abgelehnte Teilungsplan der UNO und die Unabhängigkeitserklärung des Staates Israel waren, schuf schließlich den von manchen radikalen Zionisten ersehnten Ausnahmezustand, der es ermöglichte, rund 700 000 Araber, etwa die Hälfte der Vorkriegspopulation, gewaltsam zu vertreiben, zum Teil mit ausgesprochenen Terrormethoden. Damit war das »demographic engineering«, das dem Staat Israel sein ethnokulturelles Fundament geben sollte, jedoch noch nicht abgeschlossen. Bis 1951 sollte sich die jüdische Bevölkerung Israels verdoppeln, vor allem durch den Zufluß orientalischer Juden, die nun ihrerseits zu Hunderttausenden aus Ländern wie dem Irak, Ägypten, Libyen und Jemen vertrieben oder hinausgepreßt wurden.
Israels Existenz steht und fällt nach wie vor mit der demographischen Frage. Geopolitisch gesehen, ist Israel eine jüdische Insel in einem Meer von Arabern, die vorwiegend als feindlicher westlicher Kolonialstaat, heterogenes »Einsprengsel von ›Modernität‹« (Nolte) und mit Nuklearwaffen ausgestatteter Arm des amerikanischen Imperialismus wahrgenommen wird. Wer sich auf Israel positiv als »Vorposten des Westens« bezieht, bestätigt seitenverkehrt dieses Bild.
Israel steht heute einem wachsenden arabischen »youth bulge« gegenüber, sowohl innerhalb seines Staatsgebiets als auch im Westjordanland und in Gaza, wo die Hälfte der etwa 2,048 Millionen Einwohner unter 18 Jahre alt ist. Seine Bewohner betrachten ihren Kinderreichtum als »demographische Waffe«, und praktisch jeder einzelne, der dort lebt, ist der Ansicht, daß Israel gestohlenes Land sei, das rechtmäßig seinem eigenen Volk zustehe. Zukunftsperspektiven gibt es fast keine, dafür aber Armut, Arbeitslosigkeit und einen über Generationen aufgestauten Zorn über wiederholt erlittenes Unrecht.
Wer Gunnar Heinsohns Söhne und Weltmacht gelesen hat, weiß, daß dies eine äußerst explosive und gewaltträchtige Mischung ist. Der Anteil der arabischen Staatsbürger Israels, eine »Minderheit im eigenen Land«, beträgt rund 21 Prozent (1,89 Millionen), und etliche von ihnen erwarten sehnsüchtig den Tag, an dem sie »ihr« Land wieder zurückholen können. Laut einem Bericht der Organisation Human Rights Watch vom 27. April 2021 stehen sich im »großisraelischen« Gesamtraum zwischen Mittelmeer und Jordan nun exakt 6,8 Millionen Juden und 6,8 Millionen Araber gegenüber.
In diesem demographischen Wettrüsten hat Israel den Beschleunigungsgang eingelegt: Die Siedler der »Westbank« und die Juden in Israel holen geburtenmäßig allmählich auf (3,13 Kinder pro Frau im Jahr 2021), allerdings vor allem in relativer Hinsicht, weil die Geburtenrate der Araber gesunken ist (seit 2016 auf 2,85 Kinder pro Frau). Innerhalb des Landes sind es heute die ultraorthodoxen Haredim, die mit einer Geburtenrate von 6,6 Kindern pro Frau am stärksten zum jüdischen Bevölkerungswachstum beitragen, zugleich aber aufgrund ihres religiösen Antizionismus für erhebliche gesellschaftliche Spannungen sorgen.
Zugespitzt gesagt, ist das entscheidende, existentielle Interesse Israels, so viele Araber wie möglich loszuwerden. So ist es kaum verwunderlich, daß im Inneren des Staates Pläne zu ethnischen Säuberungen diskutiert werden, die mit Sicherheit schon länger in den Schubladen liegen. Doch wohin mit den Vertriebenen, wenn sich die arabischen Nachbarländer weigern, sie aufzunehmen? Das von Mekomit geleakte Dokument sieht ihre Ansiedlung vor allem in Ägypten, auf das zu diesem Zweck über die USA Druck ausgeübt werden soll, sowie in verschiedenen europäisch-westlichen Ländern vor, aus irgendeinem Grund insbesondere in Griechenland, Spanien und Kanada.
Wer nun aufgrund der massiven Präsenz militant israelfeindlicher, häufig islamistischer Araber und artverwandter Einwanderer auf den Straßen Europas denkt, Europa und Israel würden »denselben« Kampf kämpfen, der unterliegt einer optischen Täuschung. Die Situation ist seitenverkehrt: Israel ist ein Staat, der von Einwanderern und Flüchtlingen im Zuge eines »großen Austausches« auf Kosten der ansässigen Bevölkerung errichtet wurde, die sich jedoch nicht geschlagen gibt und danach strebt, auf ihrem angestammten Gebiet wieder die Mehrheit zu stellen, womit der sie beherrschende Staat zunehmend in ein »südafrikanisches« Dilemma gerät.
An dieser Tatsache ändert auch die zionistische Ideologie der »Alija« nichts, die die jüdische Einwanderung nach Israel-Palästina als »Rückkehr« nach nahezu zweitausend Jahren Exil deutet – ein erstaunlicher, nach Nolte welthistorisch »singulärer« Anspruch. In Deutschland hingegen sind die arabischen Minderheiten Teil eines Bevölkerungsaustausches durch heterogene Einwanderer und Flüchtlinge, der auf lange Sicht die Deutschen zur Minderheit im eigenen Land machen könnte, was in manchen Städten und Stadtvierteln bereits der Fall ist.
Eine offizielle Zählung der in Deutschland lebenden Staatsbürger arabischer Länder ergab Ende Dezember 2021 1 492 660 Personen (etwa fünfmal so viele, wie 2008 gezählt wurden). Wie viele davon Palästinenser sind, ist schwer zu bestimmen, da diese entweder staatenlos sind oder libanesische, jordanische, ägyptische und andere Pässe besitzen; das Redaktionsnetzwerk Deutschland nennt eine Zahl von »175 000 bis 225 000 Menschen«. Unberücksichtigt ist in diesen Statistiken die Zahl jener arabischen »Migrationshintergründler«, die bereits eingebürgert sind und somit als »Deutsche« gezählt werden. Ihre Zahl beträgt vermutlich mehrere hunderttausend.
Das größte arabische Kontingent in Deutschland stellen Syrer mit über 867 500 Menschen, eine Folge der Merkelschen Asylpolitik, die auch von hiesigen jüdischen Organisationen unterstützt wurde. Der prozionistische Publizist Michael Wolffsohn sprach von einem »Geschenk des Himmels«, ehe er seine Meinung nach Angriffen dieser Geschenke auf Mitglieder seines eigenen Volkes etwas modifizierte. In diesem Zusammenhang von Belang ist auch die Tatsache, daß die Flüchtlingskrise von 2015 Folge eines von vielen Nahost-Kriegen war, an denen die Vereinigten Staaten von Amerika und Israel maßgeblich mitgemischt haben. Das Muster »invade them, invite them« (etwa: bei ihnen einfallen, sie einladen), das sich in der Bush-Ära nach »9/11« verfestigt hatte, ist auch hier wirksam.
Aus ethnokultureller Sicht hätte Deutschland, wenn es keine antideutsch orientierte Regierung hätte, ein Interesse an Remigration dieser allochthonen Araber, während Israel ein Interesse an Expulsion »seiner« autochthonen Araber hat. Es wirkt nun fast schon wie ein ironischer Schachzug, wenn Olaf Scholz und andere als Antwort auf die propalästinensischen Aufmärsche Aufnahmestopps und Abschiebungen »im großen Stil« für »Antisemiten« fordern. Damit wäre der Kanalisierung einer Flüchtlingswelle aus Gaza Richtung Deutschland theoretisch ein Riegel vorgeschoben, wobei noch abzuwarten ist, ob diesen Sprüchen auch wirklich Taten folgen werden. »Mainstream« geworden sind nun jedenfalls etliche Forderungen von »Islamkritikern« der alten Garde, die das Unbehagen an der Islamisierung häufig in eine bedingungslose Parteinahme für Israel umzumünzen versuchten.
Aus rein machiavellistischer Sicht könnte die Präsenz von Millionen Muslimen in Westeuropa für Zionisten etliche Vorteile bieten: Sie weckt bei breiten Bevölkerungsschichten antiarabische Ressentiments und prozionistische Sympathien und mag auch viele Diasporajuden zur »Alija« bewegen. Wie der Hauptfigur aus dem Roman Unterwerfung steht uns jedoch kein Israel zur Verfügung, in das wir fliehen können, sollte es in der Zukunft zu islamischen Machtübernahmen oder bürgerkriegsartigen Verwerfungen kommen, wie von Michel Houellebecq prophezeit.
Mit Gewalt und Terroranschlägen ist jedenfalls angesichts der Massen an israelfeindlichen Einwanderern und Asylanten auch in Deutschland zu rechnen, sollte sich der laufende Krieg ausweiten und die deutsche Regierung sich weiterhin blindlings zu Israel bekennen. Wir Rechten sind nun in der unerquicklichen Lage, wie die Zionisten der Gründergeneration über möglichst friedliche und freiwillige »Transfers« (wir nennen es: »Remigration«) nachdenken zu müssen, ohne ein Äquivalent der Zionistischen Weltorganisation hinter uns zu haben. Denn auch unserem Volk könnte eines Tages eine »Nakba«, eine ethnische Säuberung, bevorstehen, mindestens aber der Status als Minderheit im eigenen Land.
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(1) – Vgl. counterpunch.org vom 12. Januar 2004.
(2) – Alle Zitate aus: Norman Finkelstein: Der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern, Kreuzlingen / München 2002.
(3) – Ernst Nolte: Die dritte radikale Widerstandsbewegung: Der Islamismus, Berlin 2009, S. 180.