Am 2. April 2023 trat Fritz-Martin Schulz, genannt FM, nach fast 50jähriger Regentschaft seine letzte große Fahrt an. Mit ihm verliert der Nerother Wandervogel als letzter in der ungebrochenen Tradition des historischen Wandervogels stehender Bund seinen charismatischen Führer und seinen Katechon vor den Wirrnissen der Moderne in all ihren Facetten.
Viele verlieren, so wie ich, einen väterlichen Freund. Mein erster Kontakt mit dem Nerother Wandervogel war literarischer Art. Im Vorwort der Neuauflage der beiden Bücher von Otto Rahn, Kreuzzug gegen den Gral und Luzifers Hofgesind, schrieb der Herausgeber von einer Burg im Hunsrück, von der junge Wandervögel zu großer Fahrt aufbrechen, um von der Katharerfestung Montségur in den Pyrenäen Steine per Tramp zurück zur Burg zu bringen.
Aus diesen entstand eine Rundbank mit Vogeltränke und umlaufend eingemeißeltem Spruch von Wolfram von Eschenbach – »huet iuach da gent unkunde wege« – sowie eine überkonfessionelle Kapelle. Die Idee geht zurück auf den Burgkaplan Martin Kuhn, der in den 1960ern dieses Tun als Geste der Versöhnung für die Ereignisse von 1244 anregte – damals waren die Katharer der römischen Kirche unterlegen gewesen und hatten auf dem Scheiterhaufen geendet.
Diese Idee begeisterte mich damals nachhaltig. Persönlich wurde ich auf FM durch sein auch heute noch mit großem Gewinn zu lesendes Interview in der Wochenzeitung Junge Freiheit vom 9. November 2001 aufmerksam. Aufhänger war das 100jährige Gründungsjubiläum der deutschen Wandervogelbewegung. Weitere Themen waren der Niedergang humanistischer Bildung, parasitäres Funktionärsunwesen in der Jugendpflege, die Käuflichkeit der 68er und die Aufblähung der Verwaltungsebenen zur Steigerung staatlicher Zuschüsse bei anderen Bünden. Begeistert vom Schneid der Formulierungen, suchte ich im Netz nach weiteren Texten von FM.
Im Leserforum des eisbrecher, einer von Eberhard Koebel, genannt »tusk«, 1932 gegründeten Zeitschrift der Jugendbewegung, wurde das Interview einseitig diskutiert. Lediglich ein Teilnehmer sprach sich zustimmend für FM aus. Wie sich herausstellte, war dies ein Altnerother, der wohl als einziger der Diskutanten FM persönlich kannte und mir zur Vertiefung meines Interesses einen Besuch auf der Burg Waldeck, dem Sitz des Nerother Wandervogel, empfahl, um FM auch persönlich kennenzulernen. Gesagt, getan.
Ich rief bei FM an, stellte mich vor und erhielt eine zeitnahe Einladung auf die Burg. Ich traf einen drahtigen, kleinen Mann mit lebendigen Augen und verschmitztem Lächeln in Knobelbechern, der seine Rolle als Gastgeber voll ausfüllte. Er hatte ein phänomenales Gedächtnis, war belesen und kunstinteressiert. Wir erkannten viele Überschneidungen bei Lektürevorlieben, trugen Jünger, Dávila, Bergengruen und Löns im Herzen, die klassischen Abenteuer- und Soldatenromane sowieso. Durch FM kam ich zu Hans Domizlaff und Pierre Loti. Als Augenmensch galt sein Interesse der bildenden Kunst. Er machte mich mit dem Werk von Rudolf Agricola, Horus Engels, Borris Goetz und Heiner Rothfuchs bekannt.
Bei dünnem Malventee und später starkem Kaffee entwickelten sich stundenlange Gespräche über die Geschichte des Nerother Bundes, untrennbar verbunden mit den Höhen und Tiefen des deutschen Vaterlandes und mit dem Weg, den FM im Bund nahm. Nach dem Tod des Bundesgründers Robert Oelbermann im KZ Dachau 1941 und dem Ende des Krieges erfüllte dessen Zwillingsbruder Karl, genannt Oelb, mit einer Belebung des Bundes und der Wiederaufnahme des Burgbaues das Vermächtnis von Robert. FM stieß 1964 zum Bund, übernahm die Führung eines Ordens (die in ihrer Gesamtheit den Bund bilden) und erlangte bald als Bauhüttenführer das Vertrauen von Oelb. Er entwickelte sich zum unentbehrlichen Begleiter und wurde bei den unterschiedlichen Orden, die zur Burg pilgerten, bekannt und geschätzt.
Mit den von der benachbarten Arbeitsgemeinschaft Burg Waldeck organisierten Festivals »Chanson Folklore International« (ab 1964) kam es zum kulturellen Zusammenstoß zwischen den handfesten, wertkonservativen Nerothern und dem eher linken Liedermacherpublikum mit langen Haaren und Nietenhosen. 1968 verschärfte sich der Ton, da politisierte Revoluzzer und Gammler das Festival okkupierten, Künstler bei den Auftritten behinderten, beträchtliche Flurschäden durch Müll und wildes Parken sowie linke Schmierereien in den benachbarten Hunsrückdörfern hinterließen. 1969 war der Spuk zu Ende. FM erlebte all dies hautnah mit, und es prägte ihn.
Als neue Gefährdung für das zeitlose nerothane Wandervogelideal zeigten sich im Zuge der 68er-Revolte eine zunehmende »Proletisierung« mancher Nerother Gruppen und der Einfall von einzelnen älteren Männern, die unter dem Vorwand des »pädagogischen Eros« Befriedigung ihrer päderastischen oder ephebischen Neigungen in den Gruppen suchten. Früh erkannte FM die Gefahr für den Bund.
Oelb, gesundheitlich angeschlagen und als rheinische Frohnatur persönliche Konflikte scheuend, hatte nicht die Kraft, drastische Entscheidungen zu treffen. So nahm sich FM des Problems an und wußte sich mit der übergroßen Schar der Nerother einig. Bei einer Bundesversammlung 1973 wurde reinen Tisch gemacht, die belasteten Personen wurden des Bundes verwiesen. Später betrieb er auch den Ausschluß von Personen, deren politische Betätigung Bezüge zu totalitären historischen Modellen aufwies. Denn der Nerother Bund ist aus seiner Geschichte heraus antitotalitär.
Im Oktober 1974 starb Oelb auf Burg Waldeck. FM, der den Rückzug in die bürgerliche Welt schon angetreten hatte, kehrte auf die Burg zurück und organisierte mit den Getreuen der Bauhütte die Beisetzung. Altnerother und Schriftsteller Werner Helwig sandte eine Karte mit einem einzigen Satz: »FM, ich rechne mit Dir!« und schrieb ein Manifest an alle Altnerother, in dem er für FM warb. Der frühere Kanzler Dr. Götze schlug gemeinsam mit dem Ritterkapitel FM als neuen Bundesführer vor, und dieser wurde mit fast 90 Prozent der Stimmen gewählt. Mit der Annahme der Wahl auf Lebenszeit entschied sich FM für die Ehelosigkeit, für den Wohnort Burg Waldeck ohne zivilisatorischen Komfort, für ein Leben ohne bürgerliches Einkommen, getragen durch Beiträge der Nerother und Spenden von Verfechtern der Bundesidee.
Der Präambel seines ersten Rundbriefes als Bundesführer stellte er Immanuel Kants Worte voran: »Eine Handlung muß mir wert sein, nicht, weil sie mit meiner Neigung stimmt, sondern weil ich dadurch meine Pflicht erfülle.« Hier kommt seine soldatische Grundhaltung zum Tragen. Geboren 1941 in Wünsdorf bei Zossen, wuchs er in einer Kaserne auf und flüchtete mit der kämpfenden Truppe 1945 im Panzer nach Schleswig-Holstein. In seiner Jugend unternahm er Wanderfahrten durch Deutschland, Europa und die Levante, als Soldat tat er Dienst in Aufklärungseinheiten der Luftwaffe. Nach einer ersten Begegnung mit Nerothern auf Fahrt blieb er diesen verbunden, weil dort das Abenteuerlich-Romantische und Soldatisch-Männliche gelebt wurden.
Nach der richtungsweisenden Trennung von den Päderasten galt es, auch in der Außenwirkung die Signatur des neuen Bundesführers aufzuzeigen. Dazu diente das 6. Überbündische Treffen auf dem Allenspacher Hof zu Pfingsten 1977 mit 3700 Teilnehmern aus 66 Bünden. Begründet wurden diese Treffen in den 1950ern durch die Pfadfinderschaft Graue Reiter, weitere richteten die Nerother auf Burg Waldeck aus.
Das Treffen fand in einer Zeit der bündischen Konsolidierung statt, nachdem sich der zersetzende Einfluß der 68er-Bewegung etwas abgeschwächt hatte. Der Beginn war fulminant, ein Augenzeuge berichtete in der bündischen Zeitschrift der eisbrecher: »Wo blieben die Nerother? Grad wollte man zum Mahle schreiten, da passierte es: Landsknechtstrommeln in der Ferne. Und näher und näher wälzte sich die Heerschau. Fahnen so groß, so groß. Das Lager starrte sie an: die Nerother. Ich wußte nicht, daß es so viele sind. Und sie zogen durch die ganze Länge des Lagers, da ihr Platz tatsächlich im hintersten Eck lag. Zum Schluß der Kreis, der riesengroße, und dann das Bundeslied: Horridoh!! Bebte die Erde? Nein. Aber gekonnt hätte sie es leicht. Mein Abendbrot hatte ich vergessen. Faszination!«
Es blieb der letzte große Auftritt bei einem überbündischen Treffen. Die Nerother nahmen weder an den Meißnerlagern 1988 und 2013 noch am Jubiläumstreffen »40 Jahre Allenspacher Hof« 2017 teil, weil sie nicht Teil einer staatlich finanzierten Jugendpflege sein wollten. FM richtete nun seine ganze Kraft als Bundesführer in die Gestaltung abenteuerlicher Schülergroßfahrten in die Weiten des mittleren Westens von Amerika, nach Alaska und Neumexiko. Das westliche Amerika wurde ihm zur zweiten Heimat. Er schätzte den ländlichen und offenen Menschenschlag, erkannte aber auch früh die Dekadenz und die Probleme der Zivilisation, die in den USA zutage traten. Er prägte eine asketische Fahrtenpraxis mit geringem materiellen Einsatz, karger Verpflegung und anspruchsvollen Strecken in unberührter Wildnis. Motto: »Aushalten, haushalten, Maul halten!«
Ein unbenannter Berg in Alaska wurde 1978 bestiegen und Mount Oelbermann getauft. Er wurde zum Sehnsuchtsziel besonders verwegener Nerother. Abenteuerliche Tramps auf Schiffen, Schienen und Pneus mit Strecken von mehreren hundert Meilen wurden bewältigt. Die vielen Postkarten aus aller Welt von Nerothern auf großer Fahrt, die FM auf der Burg erreichten, waren beredtes Zeugnis der Fahrtensehnsucht, die er in die Herzen der Jungen gepflanzt hatte. Parallel dazu trieb er den Burgbau voran. Als Autodidakt im Bauwesen erwarb er Kenntnisse im Trockenmauern und verknüpfte die Visionen des Burgbaumeisters Karl Buschhüter mit seinen baulich-ästhetischen Vorstellungen, die stark von Paul Schmitthenner beeinflußt waren.
Dies fand seinen Niederschlag in den Burggebäuden, die unter seiner Ägide entstanden. Nachdem der jahrzehntelange juristische Streit um das Eigentum des Geländes oberhalb der Burg durch Niedertracht, Tücke und Lüge verloren gegangen war – das Gelände wurde der Arbeitsgemeinschaft Burg Waldeck zugeschlagen –, konnte die Bastion der Burgruine erworben werden, und dem Diensthaus folgten weitere Gebäude: das Torhaus, die Jungenbleibe und eine überkonfessionelle Burgkapelle, die aus den mitgebrachten Steinen des Montségur-Tramps errichtet wurde.
Als 2008 die 1000 metallenen Kreuze, welche als Zeichen der Steinpilgerschaft 1964 geprägt worden waren, zur Neige gingen, ließ ich mich von einem befreundeten Nerother vom Orden der Pachanten überreden, gemeinsam diesen Tramp von der Burg Waldeck zur Montségur und wieder zurück anzugehen. Es wurde eine unvergeßliche Fahrt, und als ich am Ende einen, in meinen Augen beträchtlichen Brocken bei FM ablieferte, überreichte er mir das Katharerkreuz mit den Worten: »Man braucht auch kleine Steine zum Bauen.«
Das jährliche Bundestreffen über Pfingsten findet nach wie vor im Herzen Deutschlands in abgeschiedener Natur statt und bietet den Jungen der verschiedenen Orden Begegnung und Austausch. Zum Mittsommerfest auf Burg Waldeck versammeln sich Altnerother und Freunde des Bundes. Unvergeßlich sind FMs Feuerreden zu diesem Anlaß. Seiner lakonischen Mahnung, Fotografieren und technische Aufzeichnungen zu unterlassen, weil man sich damit des Gefühls des Augenblicks berauben würde, folgten stets wohlgefügte Worte zum Selbstverständnis des Nerother Bundes, das Bekenntnis, als Wandervogel die kulturelle Zugehörigkeit zum deutschen Volk zu manifestieren, und der Aufruf an die Altnerother, durch Unterstützung des vermögentragenden Vereins ihrem Jugenderlebnis Dank zu sagen.
FM lobte selten und wenn, dann über Dritte. Ein Nerother sagte mal zu meiner stillen Freude: »FM meint, du wärst in Ordnung. Dir geht es um Deutschland.« Als Radiohörer und Zeitungsleser beklagte FM den Sprachverfall dieser Medien. Anfänglich versuchte er, mit Leserbriefen entgegenzuwirken, später las er selbst mit Vorliebe Leserbriefe, die er oft über dem Niveau der redaktionellen Beiträge verortete. Ich besuchte ihn ein- bis zweimal im Jahr, zum Geburtstag und zu Weihnachten sandte ich Brief- und Paketgrüße, die immer postwendend mit selbstgefertigten Bildkarten beantwortet wurden.
In den letzten Jahren konnten enge Mitstreiter eine gewisse Altersmilde bei ihm feststellen. Hatte er sich in jungen Jahren den Ruf des »Großinquisitors« erarbeitet, lag der Schwerpunkt seines Wirkens nun in der freundschaftlichen Fürsorge um den einzelnen und seine Charakter- und Herzensbildung sowie in der Formung eines humanen und redlichen Menschen. Zu seinem letzten großen Vortrag im November 2022 kamen Nerother aus ganz Deutschland nach Martinfeld ins Thüringische, um ihren Bundesführer bei seinem mit Histörchen gespickten Vortrag zu erleben und anschließend bis weit nach Mitternacht gemeinsam ihre Lieder zu singen.
Im Dezember 2022 erschien, nach 25jähriger Wartezeit, die Bundeszeitschrift Herold (Nr. 16) – viele Jahre angekündigt und nun endlich vollendet. Die Nachricht von seinem Tod kam überraschend. Im Rundbrief zum Jahreswechsel deutete nichts darauf hin. Die Betroffenheit war groß. Die von FM geprägten Nerother gestalteten eine Beerdigung, die einen tiefen Eindruck hinterließ. Unter großer Anteilnahme wurde er auf dem Friedhof Dorweiler im Hunsrück beigesetzt, wo auch die Bundesgründer ihre letzte Ruhestätte haben. Der amtierende Kanzler des Nerother Wandervogels, Sacha Baustian, sprach am Grab von der laut FM wichtigsten Eigenschaft eines Nerothers: dem Humor, der die Skurrilität des Lebens und manch Verschrobenheit der Menschen als Teile des Daseins begreift und jeder Situation etwas abgewinnen kann. Baustian endete mit einem Gedicht, das FM anläßlich seines 70. Geburtstages bewußt in Form der Knittelverse geschrieben hatte und das ihn treffend beschreibt.
Der neugewählte Bundesführer ist promovierter Akademiker und ausgewiesener Kenner japanischer Kultur. Damit kann die Traditionslinie von den rheinischen Dragonern über den asketischen Preußen mit einem kontemplativen Samurai fortgeschrieben werden. Darauf ein kräftiges Horridoh!