Das Geheime Deutschland

-- von Marcel Kehlberg

PDF der Druckfassung aus Sezession 117/ Dezember 2023

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Sein Pro­phet war ein deutsch­na­tio­na­ler Jude, sein Mär­ty­rer ein Offi­zier aus altem schwä­bi­schen Reichs­adel, sein Bar­de ein Seher vom Mit­tel­rhein und sein Denk­mal steht seit dem 13. Jahr­hun­dert an einer Säu­le im nörd­li­chen Chor des Bam­ber­ger Doms.

Ernst Kan­to­ro­wicz, Oberst Claus Schenk Graf von Stauf­fen­berg, Ste­fan Geor­ge sowie der Bam­ber­ger Rei­ter ver­bin­det das soge­nann­te Gehei­me Deutschland.

Das, was in Ste­fan Geor­ges Zir­kel von Karl Wolfs­kehl um 1910 auf den Begriff »Gehei­mes Deutsch­land« gebracht wur­de, fin­det sich auf kei­ner Land­kar­te, ist kei­ne fest umris­se­ne Grö­ße, weder in der Ver­gan­gen­heit noch in der Zukunft. Und das, obwohl es tief unter den Wur­zeln des tat­säch­li­chen Deutsch­lands zu ent­de­cken sein soll bzw. stets zu ent­de­cken war und sein wird. Es han­delt sich auch nicht um eine Loge, eine Par­tei oder eso­te­ri­sche Sek­te, die im gehei­men die Strip­pen zieht. Gleich­wohl: Soll­te es cha­ris­ma­ti­sche Begrif­fe geben, so gehör­te die­ser zwei­fel­los dazu.

Seit dem Auf­kom­men einer Vor­stel­lung wie eines Begriffs von einem zeit­lo­sen Deutsch­land im gehei­men ist es leich­ter anzu­ge­ben, was mit einem sol­chen Deutsch­land nicht gemeint ist. Das Gehei­me Deutsch­land ist kein Mär­chen, kei­ne Uto­pie, kein Par­tei­pro­gramm, jedoch ein Mythos, der es frei­lich nie zu gro­ßer Popu­la­ri­tät gebracht hat, was von sei­nen Anhän­gern auch kei­nes­wegs beab­sich­tigt war. Es lie­ße sich ver­glei­chen mit ande­ren natio­na­len Mytho­lo­ge­men im euro­päi­schen Kul­tur­raum, wie dem Hei­li­gen Ruß­land oder dem Koso­vo-Mythos der Ser­ben, viel­leicht noch mit dem soge­nann­ten Königs­heil der fran­zö­si­schen Monarchen.

Das Gehei­me Deutsch­land gehört in die deut­sche Ideen­ge­schich­te, wenn auch nicht in die pro­mi­nen­tes­ten Rän­ge. Mit ihm bezeich­ne­ten vor allem Künst­ler und Lite­ra­ten eine Art deut­schen Par­naß, eine meta­phy­sisch-ästhe­ti­sche Erhe­bung über deut­sche Nied­rig­kei­ten bzw. Ernied­ri­gun­gen, gleich­sam als natio­na­len Berg Tabor. Das Gehei­me Deutsch­land galt als geis­ti­ges Kor­rek­tiv jeder deut­schen Rea­li­tät, vor allem dann, wenn die­se Rea­li­tät ein­mal mehr in eine deut­sche »Daseins­ver­feh­lung« (Ernst Nie­kisch) abzu­glei­ten drohte.

Es wur­de ver­stan­den als Mah­nung und Erin­ne­rung an eine deut­sche Eigent­lich­keit, eine genu­in deut­sche Beru­fung, an einen deut­schen Geis­tes- bzw. Kul­tur­adel sowie an ein deut­sches Urbild, das his­to­risch zu kei­nem Zeit­punkt erreicht wur­de, obwohl es an Ver­su­chun­gen zu vor­schnel­len Iden­ti­fi­ka­tio­nen nie man­gel­te. Daß es nicht als Mär­chen ange­se­hen wer­den woll­te, beweist, daß zu ihm Per­sön­lich­kei­ten aus Fleisch und Blut der deut­schen Geschich­te gerech­net wur­den, die teil­wei­se selbst zu Mythen gewor­den sind, wie zum Bei­spiel die bei­den Stau­fer Frie­de­rich II. und der jun­ge Konradin.

Dem Sacrum Impe­ri­um römisch-deut­schen Kai­ser­tums erwuch­sen vie­le die­ser Per­sön­lich­kei­ten, wel­che durch ihr Got­tes­gna­den­tum dem Pro­fa­nen wie der Pro­fa­na­ti­on ent­ho­ben waren. Man­chen umweh­te gar eine mes­sia­ni­sche Aura. Das Gehei­me Deutsch­land war zwar wesens­gleich mit allem Deut­schen und den­noch eine eigen­stän­di­ge Per­son, nicht zu ver­wech­seln mit allem, was in deut­schem Namen real existierte.

Die­se Meta-Erzäh­lung von einem eigent­li­chen deut­schen Daseins­grund, der nur im gehei­men alle Ein­eb­nung über­dau­ern konn­te, ent­fal­te­te sich bezeich­nen­der­wei­se am Beginn der Moder­ne, am Beginn ers­ter gro­ßer Planierungen.

1890 leg­te ein bis dahin unbe­kann­ter Autor, der unter dem Pseud­onym »ein Deut­scher« fir­mier­te, ein Werk vor, das beim Publi­kum wie eine Bom­be ein­schlug. In der Rück­schau und nach Lek­tü­re die­ses Wer­kes könn­te man es (mit eini­gem Wohl­wol­len) als eine Art geis­tig-kul­tu­rel­len Mani­fests der aus­ge­hen­den Bis­marck­zeit anse­hen. Der Titel läßt dies frei­lich nicht vermuten.

Rem­brandt als Erzie­her stellt den nie­der­län­di­schen Maler als Sym­bol für das deut­sche Wesen in der Kunst dar, dem es nach­zu­ei­fern gel­te. »All­täg­li­che Gegen­stän­de und Ereig­nis­se weiß er ins Wun­der­ba­re, wun­der­ba­re Ereig­nis­se ins All­täg­li­che zu ver­klä­ren«, so faßt der Autor das Genie Rem­brandts zusam­men. Es ist die­se künst­le­ri­sche Eigen­wil­lig­keit, gepaart mit einem mys­tisch begna­de­ten Durch­blick durch den All­tag hin­durch, die er als ein Kenn­zei­chen des Deut­schen in Rem­brandt iden­ti­fi­ziert. Der deut­sche Blick blei­be nicht an der Ober­flä­che der Din­ge haf­ten, son­dern gehe tie­fer, ent­hül­le das Dar­un­ter­lie­gen­de und behan­de­le dies wie einen Schatz, den es zu hüten gelte.

Die­ser ästhe­ti­sche Sinn ste­he nun in Gefahr, von den öko­no­misch-prag­ma­ti­schen Zwän­gen der Grün­der­zeit erstickt zu wer­den. Die­se Zwän­ge sei­en nicht genu­in deutsch, son­dern ent­stamm­ten angel­säch­sisch-ame­ri­ka­ni­schem Geist. Ab 1870 habe ein kaum bese­he­ner, lang­sa­mer Ver­fall ein­ge­setzt. Davon ist der Ver­fas­ser über­zeugt und reiht sich damit ein in die Schar der inne­ren Kri­ti­ker des zwei­ten deut­schen Kaiserreichs.

Jena sei wich­ti­ger als Sedan, so sein uner­hör­ter Aus­ruf. Der Gefahr des geis­ti­gen Aus­blu­tens müs­se durch eine kon­se­quent ästhe­ti­sche, kul­tu­rell fun­dier­te Erzie­hung der Deut­schen begeg­net wer­den, die sich an his­to­ri­schen Vor­bil­dern zu ori­en­tie­ren habe, so sein Cre­do. Damit kommt er Fich­tes ­Reden an die deut­sche Nati­on, etwas mehr als 80 Jah­re zuvor ver­öf­fent­licht, sehr nahe.

Bei die­sem Vor­ha­ben ist es uner­heb­lich, ob die­se Vor­bil­der im staats­bür­ger­lich-eth­ni­schen Sin­ne Deut­sche gewe­sen sind, denn der Autor des Rem­brandt »ver­deutscht« kur­zer­hand nicht nur den nie­der­län­di­schen Maler, son­dern eben­so unter ande­rem Shake­speare (sei­ne aben­teu­er­li­che Über­set­zung mit »Speer-Schütt­ler« will an alt­eng­lisch-ger­ma­ni­sche Wur­zeln rüh­ren) oder die ­Sere­nis­si­ma Vene­dig, die er zur einer deutsch-grie­chi­schen Adels­re­pu­blik (v)erklärt. Auch hier wird die enge Geis­tes-Ver­wandt­schaft zwi­schen ­Hel­las und Deutsch­land her­aus­ge­stellt, wie sie schon Höl­der­lin umtrieb und wie sie im nach­hin­ein in den Vor­stel­lun­gen um das Gehei­me Deutsch­land noch ein­mal ver­dich­tet wer­den sollte.

»Deutsch« ist hier, wie auch bei den spä­te­ren Herol­den, nicht eth­nisch oder ras­sisch ver­engt, »deutsch« bezieht sich viel­mehr auf eine bestimm­te Geistesqualität.

Juli­us Lang­behn, so der Klar­na­me des Autors, stamm­te aus Schles­wig, war Leut­nant im Krieg von 1870/71, stu­dier­ter Grä­zist, Nietz­sche-Ver­eh­rer und, ähn­lich die­sem, ein unbe­haus­ter Wan­de­rer. Der publi­zis­ti­sche Erfolg ver­schaff­te dem Öffent­lich­keits­scheu­en eine Ein­la­dung Bis­marcks, den er in sei­nem Buch mehr­fach mit Lob bedacht hat­te, obwohl er des­sen ­anti­ka­tho­li­schen Kul­tur­kampf als Kampf gegen die Kul­tur scharf ver­ur­teil­te (Lang­behn kon­ver­tier­te sie­ben Jah­re vor sei­nem Tod zur römisch-katho­li­schen Kirche).

Juli­us Lang­behn kann­te den Begriff des Gehei­men Deutsch­lands nicht, eben­so­we­nig wie sein Zeit­ge­nos­se Paul de Lag­ar­de, wel­cher wie er als Urva­ter die­ser Idee gehan­delt wird, doch ent­wirft Lang­behn in sei­nem Werk ein Pan­ora­ma deut­scher Ver­bor­gen­heit, die er als »Ahnen­saal« des Volks­geis­tes bezeich­net. Geschich­te voll­zieht sich unter die­sem Blick­win­kel als ste­te Mensch­wer­dung aller Facet­ten eines Volks­geis­tes. In his­to­ri­schen Ein­zel­per­so­nen kon­zen­trie­re sich jeweils eine Facet­te die­ses Geis­tes, der in einer meta­phy­si­schen Volks­in­di­vi­dua­li­tät behei­ma­tet sei, die allem zugrun­de lie­ge und von dort bestän­dig ausstrahle.

Wenn heu­te der Name Lang­behn fällt, wird er mit Anti­se­mi­tis­mus in Ver­bin­dung gebracht. Die Lang­behn­stra­ße in Puch bei Fürs­ten­feld­bruck, wo der Schrift­stel­ler beer­digt wur­de, soll­te vor Jah­ren nach dem Wil­len der »Zivil­ge­sell­schaft« umbe­nannt wer­den – da sich sämt­li­che Anwoh­ner dage­gen­stell­ten, heißt sie noch heu­te Langbehnstraße.

Ein ande­rer soll­te als ers­ter und ein­zi­ger den Ideen eines Gehei­men Deutsch­lands eine erfahr­ba­re Kon­tur geben, die als Fas­zi­no­sum sei­ne Leb­zeit und die sei­nes Krei­ses über­dau­ern soll­te: Ste­fan Geor­ge. Immer wie­der ist das Gehei­me Deutsch­land als Syn­onym, ja als Chif­fre für den Kreis um Geor­ge betrach­tet wor­den. Tat­säch­lich inkar­nier­ten der aura­ti­sche Dich­ter­fürst und sei­ne jugend­li­chen Jün­ger wie nie­mand sonst das Ide­al einer poe­ti­schen Gegen­grün­dung zum herr­schen­den Zeitgeist.

Unmit­tel­ba­re Vor­bil­der für Ste­fan Geor­ge waren zwar der Kreis um den fran­zö­si­schen Sym­bo­lis­ten Sté­pha­ne Mall­ar­mé in der Rue de Rome in Paris sowie der Bund zwi­schen Goe­the und Schil­ler in Wei­mar, den­noch über­schritt das Selbst­ver­ständ­nis Geor­ges die­se Ein­rah­mun­gen um ein Viel­fa­ches. Bald schon ging es um nichts weni­ger als eine Art geis­ti­ger Trans­la­tio impe­rii. Anti­ke Geis­tes­herr­schaft fand in sei­nem Kreis wie selbst­ver­ständ­lich ihre recht­mä­ßi­ge Fort­füh­rung. Geor­ges Reich war nicht von die­ser Welt und doch in ihr vor­han­den, als Lebens­bund zumeist jun­ger Dich­ter­na­tu­ren mit dem »Ges­tus der ästhe­ti­schen Oppo­si­ti­on« (Ernst Osterkamp).

Ein eige­nes Organ, die Blät­ter für die Kunst, sowie eine Fül­le pro­gram­ma­ti­scher Gedich­te in archa­isch-evo­zie­ren­der Spra­che, die in kul­ti­schem Rhyth­mus von Geis­ti­gem kün­den, über­führ­ten Geor­ges Visio­nen in eine Wirk­lich­keit, die der bür­ger­li­chen Rea­li­täts­ver­wal­tung die Dich­ter­stirn zu bie­ten ver­moch­te. Man reih­te sich ein in die über­lie­fer­ten Mythen, etwa vom sagen­haf­ten Staat der Hes­pe­ri­den im äußers­ten Nord­wes­ten (Geor­ge träum­te eine Zeit­lang von einem anti­preu­ßi­schen Rhein­bund), oder kon­sti­tu­ier­te sich als fami­li­en- und stän­de­über­grei­fen­de Bru­der­schaft, ähn­lich der pro­ven­za­li­schen Troubadours.

Mit allen Geis­tes­grö­ßen der Ver­gan­gen­heit trat Geor­ge mit sei­nem Kreis in ein Gespräch, ent­deck­te Gött­li­ches wie Heroi­sches, das er sogleich für sei­ne Adep­ten frucht­bar zu machen such­te. Auch er gab den anti­ken Grie­chen den Vor­zug vor den römisch-latei­ni­schen Ver­mitt­lern und stell­te Homer über das Alte Tes­ta­ment, mit Aus­nah­me der geist­be­weg­ten Pro­phe­ten. Alles war noch leben­dig und teil­te sich den Beru­fe­nen mit.

In sei­nem Gedicht »Gehei­mes Deutsch­land« gibt Geor­ge davon eine Kost­pro­be, wenn er auf das eksta­ti­sche Erleb­nis des Archäo­lo­gen Hans von Prott anspielt, der 1903 über einer Aus­gra­bungs­stät­te in Grie­chen­land eine Göt­ter-Theo­pha­nie erleb­te und sich in ver­wirr­ter Ergrif­fen­heit das Leben nahm. Begeg­nung war Begna­dung und konn­te zum Schick­sal oder zu einem Auf­trag wer­den. Ste­fan Geor­ge sah die Ver­ant­wor­tung, die dem Erwähl­ten dar­aus erwuchs, der zum Vate, zum Seher (lat. vates) wur­de, wie in Ita­li­en Voll­blut-Dich­ter (etwa D’Annunzio) beti­telt werden.

Und wie schon in der Roman­tik wird der Jesus der christ­li­chen Über­lie­fe­rung zu einer Hera­kles-Gestalt erwei­tert, wel­che den semi­ti­schen Mono­the­is­mus auf­bricht und eine Rück­kehr zu alt­her­ge­brach­ten Gott­hei­ten ermög­licht. Deutsch­land kommt in die­ser Visi­on die ent­schei­den­de Brücken­funktion einer grie­chisch-ger­ma­ni­schen Sym­bio­se zu, ­geo­gra­phisch vor­ge­ge­ben durch die rela­ti­ve Nähe der gro­ßen Strö­me Euro­pas, Donau und Rhein. Archa­ik und Wei­he tref­fen im deut­schen Reichs­ge­dan­ken schließ­lich auf ihre zivi­li­sa­to­ri­sche Aus­for­mung, doch ist letz­te­re dem Ver­fall aller his­to­ri­schen Rea­li­tät preisgegeben.

Ste­fan Geor­ge äußer­te ein­mal gegen­über Max Weber, daß jedes geis­ti­ge Reich stets die äuße­re Welt zum Feind habe. Der Her­me­tis­mus sei­nes Krei­ses, ver­bun­den mit sei­ner per­sön­li­chen Auto­ri­tät, soll­te vor Infil­tra­ti­on durch welt­li­che Ver­falls­mäch­te schüt­zen – und doch blieb auch sein Kreis vom Tod­feind der Poe­sie, der Poli­tik, nicht verschont.

Ab 1900 bil­de­te sich um den Meis­ter eine Hier­ar­chie aus, wie man sie sonst nur in Mönchs­or­den fin­det. Man trat nicht bei, son­dern wur­de auf­ge­nom­men. Der Meis­ter ent­schied, und man erhielt gewis­ser­ma­ßen Novi­zen­meis­ter als ers­te Erzie­her bei­gestellt. Im Jahr 1923 waren dies für die Brü­der Stauf­fen­berg Ernst Kan­to­ro­wicz und der spä­ter in Ungna­de gefal­le­ne Max Kom­me­rell. Geor­ges Kreis umfaß­te wech­seln­de Gene­ra­tio­nen, die trotz des Arka­nums den jeweils herr­schen­den Zeit­geist mit ein­brach­ten. Das gilt für die von Geor­ge nicht voll­ends geteil­te Kriegs­be­geis­te­rung 1914, das gilt noch mehr für die Zeit des begin­nen­den Natio­nal­so­zia­lis­mus, der zu einer gefähr­li­chen Zer­reiß­pro­be des Krei­ses wer­den soll­te. Man­che bloß »Ein­ge­reih­te« (Nor­bert von Hel­ling­rath) gaben sich als Ein­ge­weih­te aus, wel­che die äuße­re poli­ti­sche Situa­ti­on als die gekom­me­ne Ver­wirk­li­chung von Geor­ges ver­meint­li­cher Nah­erwar­tung deuteten.

Ste­fan Geor­ge wider­stand den Ver­su­chun­gen, zu Johan­nes dem Täu­fer zu wer­den, der auf die Tages­ak­tua­li­tät als auf das Gekom­me­ne hin­weist. Viel­mehr ver­wei­ger­te sich Geor­ge dem Tag und der Poli­tik, also dem Unge­hei­men. Eine Aus­nah­me bil­de­ten allein sei­ne homo­ero­ti­schen Pro­jek­tio­nen auf bestimm­te Kreis­mit­glie­der, in denen er Gött­li­ches inkar­niert zu sehen gewillt war. Das Deutsch­land aber, das er sah, blieb wei­ter­hin geheim und für die gro­ben Fin­ger der Pro­fan­ge­schich­te unerreichbar.

Der Natio­nal­so­zia­lis­mus brach­te den Kreis schnell an den Rand der Auf­lö­sung, beschleu­nigt durch Ste­fan Geor­ges Tod 1933 im schwei­ze­ri­schen Exil. Gleich­zei­tig pro­vo­zier­te Hit­lers Regie­rungs­an­tritt man­che Kreis­mit­glie­der, an die brei­te­re Öffent­lich­keit zu tre­ten, auch und gera­de um des Gehei­men Deutsch­lands willen.

Die Gene­ra­ti­on der jün­ge­ren Geor­geaner war poli­ti­sier­ter als jene um die Jahr­hun­dert­wen­de. Man begann, sich als ver­schwo­re­ne Gemein­schaft, als Staat im Staa­te zu betrach­ten. Die Poli­tik bean­spruch­te in der Kri­sen­zeit nach dem Welt­krieg und der anhe­ben­den Wei­ma­rer Repu­blik die gesam­te Auf­merk­sam­keit der Zeit­ge­nos­sen, was nicht vor der Klau­sur des Geor­ge-Krei­ses haltmachte.

Zu den Beson­der­hei­ten des Krei­ses gehör­te es, daß in ihm auch Deut­sche jüdi­scher Abkunft ihren fes­ten Platz hat­ten. Zu ihnen zähl­ten etwa die eif­rigs­ten Pro­pa­gan­dis­ten des Meis­ters, wie der Dich­ter Karl Wolfs­kehl (Prä­ger des Begriffs »Gehei­mes Deutsch­land«) und der Schrift­stel­ler Ernst Morwitz.

Man­che von ihnen sahen eine lang schwe­len­de Sehn­sucht erfüllt, Deut­sches und Jüdi­sches end­lich orga­nisch ver­schmel­zen zu kön­nen, ohne die eine oder ande­re Absto­ßungs­re­ak­ti­on aus­zu­lö­sen. Geor­ge selbst äußer­te wohl die Ansicht, Ger­ma­nen und Juden stün­den sich in ihrer gestalt­lo­sen Got­tes­vor­stel­lung nahe, doch mün­de­ten sol­che und ande­re ora­kel­haf­te Aus­sprü­che nie in kon­kre­te For­men. Ste­fan Geor­ge blieb distan­ziert und sphinx­haft. Eine Erge­ben­heits­adres­se an das neue Regime blieb eben­so aus wie eine expli­zi­te Soli­da­ri­sie­rung mit den jüdi­schen Kreis­mit­glie­dern. Unter ihnen befand sich ein ehe­ma­li­ger Front­of­fi­zier und Frei­korps­kämp­fer, der in die­ser Situa­ti­on die Ehren­ret­tung des Gehei­men Deutsch­lands über­nahm, noch bevor eine Fehl­deu­tung sei­tens der Macht­ha­ber und ihrer Par­tei­gän­ger inner­halb des Krei­ses ein­set­zen konn­te: Ernst Kantorowicz.

Am 14. Novem­ber 1933, weni­ge Wochen vor dem Tod Geor­ges in Minus­io, hielt er eine Antritts­vor­le­sung, die er ange­sichts der poli­ti­schen Lage aus­drück­lich als Bekennt­nis bezeich­ne­te. In ihr wird zum ers­ten und ein­zi­gen Mal kon­kret, was unter dem Gehei­men Deutsch­land zu ver­ste­hen sei. Die­se Rede ist in ihrer deut­schen Ursprungs­ver­si­on nicht mehr auf­find­bar, und so stützt sich das Fol­gen­de auf eine ita­lie­ni­sche Ausgabe.

Für den His­to­ri­ker Kan­to­ro­wicz gehört das Gehei­me Deutsch­land zur deut­schen Ori­gi­na­li­tät, die stets danach trach­te­te, gleich den Hel­le­nen, Gött­li­ches und Mensch­li­ches zur form­voll­ende­ten Har­mo­nie zu brin­gen. Am reins­ten gelang das in einem See­len­reich, das die Geschich­te der Deut­schen unge­se­hen beglei­tet. Die­ses Reich hat nie den Durch­bruch in die pro­fa­ne Wirk­lich­keit geschafft, allen­falls in der Idee des Hei­li­gen Römi­schen Rei­ches, das den­noch his­to­risch hin­ter sei­ner Beru­fung zurückblieb.

Allein der Geist blieb intakt, nahm gleich­sam den pries­ter­li­chen Cha­rac­ter inde­le­bi­lis, das unaus­lösch­li­che Sie­gel an und wirk­te als unter­grün­di­ger Kraft­strom wei­ter, oft genug gegen die Fließ­rich­tung der Geschich­te. Die­ses Reich wird von den gro­ßen Geis­tern der deut­schen Geschich­te bewohnt, die im kol­lek­ti­ven Unbe­wuß­ten wei­ter aktiv sind, gleich geis­ti­gen Vul­ka­nen. Zu ihnen zählt er die Otto­nen, die Stau­fer, aber eben­so Luther, Dürer, Höl­der­lin, Nietz­sche und natür­lich Ste­fan George.

Die­ses Reich ist kei­ne Repu­blik, kei­ne Demo­kra­tie, son­dern eine Herr­schaft der Bes­ten, wie es die Über­set­zung des Begriffs Aris­to­kra­tie fest­legt. Dane­ben bewoh­nen es unzäh­li­ge Unbe­kann­te, die beru­fen waren, die­sen Geist zu Leb­zei­ten zu emp­fan­gen und zu beher­ber­gen. Sie alle sind Begna­de­te im augus­ti­ni­schen Sinn. Für den deut­schen Juden Kan­to­ro­wicz ist es über­dies ein exis­ten­ti­el­les Anlie­gen, zu beto­nen, daß man aus die­sem Reich nicht ver­trie­ben wer­den kön­ne. Auch erobern kön­ne man es nicht.

Bei aller Idea­li­sie­rung gel­te es aber auch, das Dämo­ni­sche oder, nietz­schea­nisch gewen­det, das Dio­ny­si­sche inner­halb die­ses Rei­ches in die Betrach­tung ein­zu­be­zie­hen. Kan­to­ro­wicz erläu­tert dies am Bei­spiel ­Fried­rich II., des Stu­por mun­di, der sei­nen Zeit­ge­nos­sen je nach Stand­punkt als Mes­si­as oder als Anti­christ galt.

Als Iko­ne der wah­ren Behei­ma­tung die­ses Rei­ches lie­ße sich noch der glück­lo­se Thron­prä­ten­dent Kon­ra­din anfüh­ren, der 16jährig als letz­ter Stau­fer 1268 in Nea­pel hin­ge­rich­tet wur­de. Sein von der Geschich­te und ihrer Macht­be­zo­gen­heit zer­stör­tes Erbrecht fin­det sich nur mehr im Gehei­men Deutsch­land erfüllt. Es exis­tiert unab­hän­gig von einem irdi­schen Ter­ri­to­ri­um. Damit ist das Gehei­me Deutsch­land zu einer Art spi­ri­tu­el­lem Ghi­bel­lis­mus gewor­den. Gera­de sein his­to­ri­sches Schei­tern ver­bürgt in die­ser Les­art sein meta­phy­si­sches Herkommen.

Ernst Kan­to­ro­wicz, des­sen Über­le­gun­gen in sei­nem Haupt­werk Die zwei Kör­per des Königs noch wei­ter aus­ge­führt wer­den soll­ten, war einer der Novi­zen­meis­ter der Brü­der Stauf­fen­berg. Zur Initia­ti­on gehör­te eine Rei­se nach Ita­li­en an den Sar­ko­phag Fried­richs II. im Dom zu Paler­mo, wo man auf den mys­te­riö­sen Kranz mit der Auf­schrift »Sei­nen Kai­sern und Hel­den. Das Gehei­me Deutsch­land« stieß, der anschei­nend noch bis zu Beginn der 1990er Jah­re dort gele­gen haben soll (Man­fred Riedel).

Der jun­ge Claus Schenk Graf von Stauf­fen­berg gehör­te mit sei­nen Brü­dern Bert­hold und Alex­an­der zu den von Ste­fan Geor­ge Erweck­ten. Sie bil­de­ten mit ande­ren die letz­te Gene­ra­ti­on die­ses Krei­ses. Über sei­nen inne­ren Weg zum Atten­tat auf Hit­ler am 20. Juli 1944 ist viel gerät­selt wor­den. Es darf aber fest­ge­stellt blei­ben, daß die Prä­gung durch den Meis­ter im Ange­sicht einer tota­len natio­na­len Kata­stro­phe zu sei­ner Hand­lungs­mo­ti­va­ti­on gehört haben muß.

Der Kreis zer­fiel, und vie­le sei­ner Mit­glie­der wur­den vom NS-Regime in die ver­schie­dens­ten Schick­sa­le gezwun­gen: Ernst Kan­to­ro­wicz ins Exil, die Stauf­fen­bergs in den Wider­stand, Per­cy Gothein in die KZ-Haft und Frank Meh­nert an die Ostfront.

Claus Schenk Graf von Stauf­fen­berg hat­te die mili­tä­ri­sche Lauf­bahn ein­ge­schla­gen und war 19jährig stan­des­be­wußt in das Rei­ter­re­gi­ment 17 in Bam­berg ein­ge­tre­ten. Es war ihm, wenn man Zeu­gen­be­rich­ten Glau­ben schen­ken will, nicht ent­gan­gen, daß im Dom die­ser Stadt ein ande­rer Rei­ter der Wis­sen­schaft seit jeher Rät­sel auf­gab. Stellt der waf­fen­lo­se, gekrön­te Rei­ter König Ste­phan I. von Ungarn dar, König Phil­ipp von Schwa­ben? Einen der Stau­fer oder eine Figur der Apo­ka­lyp­se, viel­leicht den Mes­si­as selbst?

Der bri­ti­sche His­to­ri­ker Sir John Whee­ler-Ben­nett ging sogar so weit, ihn als mit­tel­al­ter­li­ches Vor­aus­bild von Claus von Stauf­fen­berg zu betrach­ten. Auch wenn man von gläu­bi­gen »Hosi­an­na-Rufen« in der Ineinsset­zung des Gra­fen mit dem goti­schen Rei­ter Abstand neh­men möch­te, so ist doch unver­kenn­bar, wie in Stauf­fen­bergs Tat das Gehei­me Deutsch­land ein ein­zi­ges Mal macht­voll sei­nen Anspruch in der deut­schen Geschich­te kund­ge­tan hat.

Als das Erschie­ßungs­kom­man­do im Hof des Bend­ler­blocks noch ein­mal auf ihn anlegt, nach­dem sein Adju­tant Ober­leut­nant Wer­ner von ­Haef­ten die ers­ten Kugeln mit sei­nem Kör­per abge­fan­gen hat, ruft Oberst Claus Schenk Graf von Stauf­fen­berg: »Es lebe das Gehei­me Deutschland!«

Der Mythos von einem Gehei­men Deutsch­land gewann immer dann an Kraft, wenn die­ses Land der Deut­schen vom real exis­tie­ren­den Deutsch­land oder sei­ner Umge­bung bedroht wur­de. Er moch­te bei der meta­his­to­ri­schen Ein­ord­nung und Ban­nung his­to­ri­scher Ent­wick­lun­gen in Deutsch­land hel­fen, konn­te damit aber nicht vom tag­täg­li­chen, trau­ma­ti­schen Geschichts­voll­zug schüt­zen. Im Ver­gleich mit die­sem Mythos kann heu­ti­gen Deut­schen noch ein­mal schmerz­haft zu Bewußt­sein kom­men, in welch einem unto­ten Land man seit 1945 gelebt hat.

Heu­ti­ge Macht­ha­ber wol­len offen­bar die letz­ten Deut­schen von der ver­meint­li­chen deut­schen Daseins­ver­feh­lung über­zeu­gen, um ihr bald schon ehe­ma­li­ges Land nun end­gül­tig dem Grab über­ge­ben zu kön­nen. Sie tun es mit eben­sol­chem reli­giö­sen Eifer und eben­sol­chem mytho­ma­ni­schen Sendungsbewußtsein.

Der Glau­be an ein Gehei­mes Deutsch­land löst da kei­ne tages­po­li­ti­schen Pro­ble­me (kein Glau­be tut das), er kann aber das Bewußt­sein vor sol­cher Dau­er-Ein­flüs­te­rung abschir­men. Die­ser Mythos wäre im bes­ten Fall ein Mythos im Sin­ne Geor­ges Sor­els, das heißt eine indi­vi­du­el­le wie kol­lek­ti­ve Kraft­quel­le, gespeist aus der unkünd­ba­ren Zuge­hö­rig­keit zu einem deut­schen Seins­grund, der nicht von der NS-Fixie­rung ver­sie­gelt wer­den kann, weil er für die­se Geschich­te nicht ursäch­lich gewe­sen sein konn­te. Ernst Kan­to­ro­wicz hät­te es schwer­lich so lei­den­schaft­lich ver­tei­digt; auch wenn er in spä­te­ren Jah­ren nur melan­cho­lisch aus der Fer­ne zurückschaute.

Ernst Jün­ger sah in sei­nem gro­ßen Essay An der Zeit­mau­er vor­aus, daß in der jet­zi­gen, sich in Jahr­zehn­ten ankün­di­gen­den glo­ba­len Umbruchs­phase Mythi­sches wie­der durch die Bruch­stel­len auf­stei­gen wür­de, dem Rauch der Pythia ver­gleich­bar. Und doch sind es wie­der nur sehr weni­ge in unse­rer »heu­ti­gen pat­hos­ent­wöhn­ten Zeit« (Baal Mül­ler), die dafür noch eine Anten­ne hätten.

Die tra­di­tio­nel­len Reli­gio­nen, die Kir­chen zumal, kom­men bei die­ser pla­ne­ta­ri­schen Umwäl­zung, die mit dem Ende der Human­ge­schich­te (nicht im Sin­ne Fuku­ya­mas wohl­ge­merkt!) ein­her­ge­hen wird, schlecht weg. Sie sind längst Sym­pto­me und kei­ne Alter­na­ti­ven mehr. Es braucht Tie­fe­res und damit zugleich Höhe­res. Mit einem pro­vo­kan­ten Augen­zwin­kern in Rich­tung Schul­theo­lo­gie lie­ße sich behaup­ten: Das Gehei­me Deutsch­land ist eine Pro­vinz des Rei­ches Got­tes: mit­ten unter uns und immer noch im Kommen.

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