Sein Prophet war ein deutschnationaler Jude, sein Märtyrer ein Offizier aus altem schwäbischen Reichsadel, sein Barde ein Seher vom Mittelrhein und sein Denkmal steht seit dem 13. Jahrhundert an einer Säule im nördlichen Chor des Bamberger Doms.
Ernst Kantorowicz, Oberst Claus Schenk Graf von Stauffenberg, Stefan George sowie der Bamberger Reiter verbindet das sogenannte Geheime Deutschland.
Das, was in Stefan Georges Zirkel von Karl Wolfskehl um 1910 auf den Begriff »Geheimes Deutschland« gebracht wurde, findet sich auf keiner Landkarte, ist keine fest umrissene Größe, weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft. Und das, obwohl es tief unter den Wurzeln des tatsächlichen Deutschlands zu entdecken sein soll bzw. stets zu entdecken war und sein wird. Es handelt sich auch nicht um eine Loge, eine Partei oder esoterische Sekte, die im geheimen die Strippen zieht. Gleichwohl: Sollte es charismatische Begriffe geben, so gehörte dieser zweifellos dazu.
Seit dem Aufkommen einer Vorstellung wie eines Begriffs von einem zeitlosen Deutschland im geheimen ist es leichter anzugeben, was mit einem solchen Deutschland nicht gemeint ist. Das Geheime Deutschland ist kein Märchen, keine Utopie, kein Parteiprogramm, jedoch ein Mythos, der es freilich nie zu großer Popularität gebracht hat, was von seinen Anhängern auch keineswegs beabsichtigt war. Es ließe sich vergleichen mit anderen nationalen Mythologemen im europäischen Kulturraum, wie dem Heiligen Rußland oder dem Kosovo-Mythos der Serben, vielleicht noch mit dem sogenannten Königsheil der französischen Monarchen.
Das Geheime Deutschland gehört in die deutsche Ideengeschichte, wenn auch nicht in die prominentesten Ränge. Mit ihm bezeichneten vor allem Künstler und Literaten eine Art deutschen Parnaß, eine metaphysisch-ästhetische Erhebung über deutsche Niedrigkeiten bzw. Erniedrigungen, gleichsam als nationalen Berg Tabor. Das Geheime Deutschland galt als geistiges Korrektiv jeder deutschen Realität, vor allem dann, wenn diese Realität einmal mehr in eine deutsche »Daseinsverfehlung« (Ernst Niekisch) abzugleiten drohte.
Es wurde verstanden als Mahnung und Erinnerung an eine deutsche Eigentlichkeit, eine genuin deutsche Berufung, an einen deutschen Geistes- bzw. Kulturadel sowie an ein deutsches Urbild, das historisch zu keinem Zeitpunkt erreicht wurde, obwohl es an Versuchungen zu vorschnellen Identifikationen nie mangelte. Daß es nicht als Märchen angesehen werden wollte, beweist, daß zu ihm Persönlichkeiten aus Fleisch und Blut der deutschen Geschichte gerechnet wurden, die teilweise selbst zu Mythen geworden sind, wie zum Beispiel die beiden Staufer Friederich II. und der junge Konradin.
Dem Sacrum Imperium römisch-deutschen Kaisertums erwuchsen viele dieser Persönlichkeiten, welche durch ihr Gottesgnadentum dem Profanen wie der Profanation enthoben waren. Manchen umwehte gar eine messianische Aura. Das Geheime Deutschland war zwar wesensgleich mit allem Deutschen und dennoch eine eigenständige Person, nicht zu verwechseln mit allem, was in deutschem Namen real existierte.
Diese Meta-Erzählung von einem eigentlichen deutschen Daseinsgrund, der nur im geheimen alle Einebnung überdauern konnte, entfaltete sich bezeichnenderweise am Beginn der Moderne, am Beginn erster großer Planierungen.
1890 legte ein bis dahin unbekannter Autor, der unter dem Pseudonym »ein Deutscher« firmierte, ein Werk vor, das beim Publikum wie eine Bombe einschlug. In der Rückschau und nach Lektüre dieses Werkes könnte man es (mit einigem Wohlwollen) als eine Art geistig-kulturellen Manifests der ausgehenden Bismarckzeit ansehen. Der Titel läßt dies freilich nicht vermuten.
Rembrandt als Erzieher stellt den niederländischen Maler als Symbol für das deutsche Wesen in der Kunst dar, dem es nachzueifern gelte. »Alltägliche Gegenstände und Ereignisse weiß er ins Wunderbare, wunderbare Ereignisse ins Alltägliche zu verklären«, so faßt der Autor das Genie Rembrandts zusammen. Es ist diese künstlerische Eigenwilligkeit, gepaart mit einem mystisch begnadeten Durchblick durch den Alltag hindurch, die er als ein Kennzeichen des Deutschen in Rembrandt identifiziert. Der deutsche Blick bleibe nicht an der Oberfläche der Dinge haften, sondern gehe tiefer, enthülle das Darunterliegende und behandele dies wie einen Schatz, den es zu hüten gelte.
Dieser ästhetische Sinn stehe nun in Gefahr, von den ökonomisch-pragmatischen Zwängen der Gründerzeit erstickt zu werden. Diese Zwänge seien nicht genuin deutsch, sondern entstammten angelsächsisch-amerikanischem Geist. Ab 1870 habe ein kaum besehener, langsamer Verfall eingesetzt. Davon ist der Verfasser überzeugt und reiht sich damit ein in die Schar der inneren Kritiker des zweiten deutschen Kaiserreichs.
Jena sei wichtiger als Sedan, so sein unerhörter Ausruf. Der Gefahr des geistigen Ausblutens müsse durch eine konsequent ästhetische, kulturell fundierte Erziehung der Deutschen begegnet werden, die sich an historischen Vorbildern zu orientieren habe, so sein Credo. Damit kommt er Fichtes Reden an die deutsche Nation, etwas mehr als 80 Jahre zuvor veröffentlicht, sehr nahe.
Bei diesem Vorhaben ist es unerheblich, ob diese Vorbilder im staatsbürgerlich-ethnischen Sinne Deutsche gewesen sind, denn der Autor des Rembrandt »verdeutscht« kurzerhand nicht nur den niederländischen Maler, sondern ebenso unter anderem Shakespeare (seine abenteuerliche Übersetzung mit »Speer-Schüttler« will an altenglisch-germanische Wurzeln rühren) oder die Serenissima Venedig, die er zur einer deutsch-griechischen Adelsrepublik (v)erklärt. Auch hier wird die enge Geistes-Verwandtschaft zwischen Hellas und Deutschland herausgestellt, wie sie schon Hölderlin umtrieb und wie sie im nachhinein in den Vorstellungen um das Geheime Deutschland noch einmal verdichtet werden sollte.
»Deutsch« ist hier, wie auch bei den späteren Herolden, nicht ethnisch oder rassisch verengt, »deutsch« bezieht sich vielmehr auf eine bestimmte Geistesqualität.
Julius Langbehn, so der Klarname des Autors, stammte aus Schleswig, war Leutnant im Krieg von 1870/71, studierter Gräzist, Nietzsche-Verehrer und, ähnlich diesem, ein unbehauster Wanderer. Der publizistische Erfolg verschaffte dem Öffentlichkeitsscheuen eine Einladung Bismarcks, den er in seinem Buch mehrfach mit Lob bedacht hatte, obwohl er dessen antikatholischen Kulturkampf als Kampf gegen die Kultur scharf verurteilte (Langbehn konvertierte sieben Jahre vor seinem Tod zur römisch-katholischen Kirche).
Julius Langbehn kannte den Begriff des Geheimen Deutschlands nicht, ebensowenig wie sein Zeitgenosse Paul de Lagarde, welcher wie er als Urvater dieser Idee gehandelt wird, doch entwirft Langbehn in seinem Werk ein Panorama deutscher Verborgenheit, die er als »Ahnensaal« des Volksgeistes bezeichnet. Geschichte vollzieht sich unter diesem Blickwinkel als stete Menschwerdung aller Facetten eines Volksgeistes. In historischen Einzelpersonen konzentriere sich jeweils eine Facette dieses Geistes, der in einer metaphysischen Volksindividualität beheimatet sei, die allem zugrunde liege und von dort beständig ausstrahle.
Wenn heute der Name Langbehn fällt, wird er mit Antisemitismus in Verbindung gebracht. Die Langbehnstraße in Puch bei Fürstenfeldbruck, wo der Schriftsteller beerdigt wurde, sollte vor Jahren nach dem Willen der »Zivilgesellschaft« umbenannt werden – da sich sämtliche Anwohner dagegenstellten, heißt sie noch heute Langbehnstraße.
Ein anderer sollte als erster und einziger den Ideen eines Geheimen Deutschlands eine erfahrbare Kontur geben, die als Faszinosum seine Lebzeit und die seines Kreises überdauern sollte: Stefan George. Immer wieder ist das Geheime Deutschland als Synonym, ja als Chiffre für den Kreis um George betrachtet worden. Tatsächlich inkarnierten der auratische Dichterfürst und seine jugendlichen Jünger wie niemand sonst das Ideal einer poetischen Gegengründung zum herrschenden Zeitgeist.
Unmittelbare Vorbilder für Stefan George waren zwar der Kreis um den französischen Symbolisten Stéphane Mallarmé in der Rue de Rome in Paris sowie der Bund zwischen Goethe und Schiller in Weimar, dennoch überschritt das Selbstverständnis Georges diese Einrahmungen um ein Vielfaches. Bald schon ging es um nichts weniger als eine Art geistiger Translatio imperii. Antike Geistesherrschaft fand in seinem Kreis wie selbstverständlich ihre rechtmäßige Fortführung. Georges Reich war nicht von dieser Welt und doch in ihr vorhanden, als Lebensbund zumeist junger Dichternaturen mit dem »Gestus der ästhetischen Opposition« (Ernst Osterkamp).
Ein eigenes Organ, die Blätter für die Kunst, sowie eine Fülle programmatischer Gedichte in archaisch-evozierender Sprache, die in kultischem Rhythmus von Geistigem künden, überführten Georges Visionen in eine Wirklichkeit, die der bürgerlichen Realitätsverwaltung die Dichterstirn zu bieten vermochte. Man reihte sich ein in die überlieferten Mythen, etwa vom sagenhaften Staat der Hesperiden im äußersten Nordwesten (George träumte eine Zeitlang von einem antipreußischen Rheinbund), oder konstituierte sich als familien- und ständeübergreifende Bruderschaft, ähnlich der provenzalischen Troubadours.
Mit allen Geistesgrößen der Vergangenheit trat George mit seinem Kreis in ein Gespräch, entdeckte Göttliches wie Heroisches, das er sogleich für seine Adepten fruchtbar zu machen suchte. Auch er gab den antiken Griechen den Vorzug vor den römisch-lateinischen Vermittlern und stellte Homer über das Alte Testament, mit Ausnahme der geistbewegten Propheten. Alles war noch lebendig und teilte sich den Berufenen mit.
In seinem Gedicht »Geheimes Deutschland« gibt George davon eine Kostprobe, wenn er auf das ekstatische Erlebnis des Archäologen Hans von Prott anspielt, der 1903 über einer Ausgrabungsstätte in Griechenland eine Götter-Theophanie erlebte und sich in verwirrter Ergriffenheit das Leben nahm. Begegnung war Begnadung und konnte zum Schicksal oder zu einem Auftrag werden. Stefan George sah die Verantwortung, die dem Erwählten daraus erwuchs, der zum Vate, zum Seher (lat. vates) wurde, wie in Italien Vollblut-Dichter (etwa D’Annunzio) betitelt werden.
Und wie schon in der Romantik wird der Jesus der christlichen Überlieferung zu einer Herakles-Gestalt erweitert, welche den semitischen Monotheismus aufbricht und eine Rückkehr zu althergebrachten Gottheiten ermöglicht. Deutschland kommt in dieser Vision die entscheidende Brückenfunktion einer griechisch-germanischen Symbiose zu, geographisch vorgegeben durch die relative Nähe der großen Ströme Europas, Donau und Rhein. Archaik und Weihe treffen im deutschen Reichsgedanken schließlich auf ihre zivilisatorische Ausformung, doch ist letztere dem Verfall aller historischen Realität preisgegeben.
Stefan George äußerte einmal gegenüber Max Weber, daß jedes geistige Reich stets die äußere Welt zum Feind habe. Der Hermetismus seines Kreises, verbunden mit seiner persönlichen Autorität, sollte vor Infiltration durch weltliche Verfallsmächte schützen – und doch blieb auch sein Kreis vom Todfeind der Poesie, der Politik, nicht verschont.
Ab 1900 bildete sich um den Meister eine Hierarchie aus, wie man sie sonst nur in Mönchsorden findet. Man trat nicht bei, sondern wurde aufgenommen. Der Meister entschied, und man erhielt gewissermaßen Novizenmeister als erste Erzieher beigestellt. Im Jahr 1923 waren dies für die Brüder Stauffenberg Ernst Kantorowicz und der später in Ungnade gefallene Max Kommerell. Georges Kreis umfaßte wechselnde Generationen, die trotz des Arkanums den jeweils herrschenden Zeitgeist mit einbrachten. Das gilt für die von George nicht vollends geteilte Kriegsbegeisterung 1914, das gilt noch mehr für die Zeit des beginnenden Nationalsozialismus, der zu einer gefährlichen Zerreißprobe des Kreises werden sollte. Manche bloß »Eingereihte« (Norbert von Hellingrath) gaben sich als Eingeweihte aus, welche die äußere politische Situation als die gekommene Verwirklichung von Georges vermeintlicher Naherwartung deuteten.
Stefan George widerstand den Versuchungen, zu Johannes dem Täufer zu werden, der auf die Tagesaktualität als auf das Gekommene hinweist. Vielmehr verweigerte sich George dem Tag und der Politik, also dem Ungeheimen. Eine Ausnahme bildeten allein seine homoerotischen Projektionen auf bestimmte Kreismitglieder, in denen er Göttliches inkarniert zu sehen gewillt war. Das Deutschland aber, das er sah, blieb weiterhin geheim und für die groben Finger der Profangeschichte unerreichbar.
Der Nationalsozialismus brachte den Kreis schnell an den Rand der Auflösung, beschleunigt durch Stefan Georges Tod 1933 im schweizerischen Exil. Gleichzeitig provozierte Hitlers Regierungsantritt manche Kreismitglieder, an die breitere Öffentlichkeit zu treten, auch und gerade um des Geheimen Deutschlands willen.
Die Generation der jüngeren Georgeaner war politisierter als jene um die Jahrhundertwende. Man begann, sich als verschworene Gemeinschaft, als Staat im Staate zu betrachten. Die Politik beanspruchte in der Krisenzeit nach dem Weltkrieg und der anhebenden Weimarer Republik die gesamte Aufmerksamkeit der Zeitgenossen, was nicht vor der Klausur des George-Kreises haltmachte.
Zu den Besonderheiten des Kreises gehörte es, daß in ihm auch Deutsche jüdischer Abkunft ihren festen Platz hatten. Zu ihnen zählten etwa die eifrigsten Propagandisten des Meisters, wie der Dichter Karl Wolfskehl (Präger des Begriffs »Geheimes Deutschland«) und der Schriftsteller Ernst Morwitz.
Manche von ihnen sahen eine lang schwelende Sehnsucht erfüllt, Deutsches und Jüdisches endlich organisch verschmelzen zu können, ohne die eine oder andere Abstoßungsreaktion auszulösen. George selbst äußerte wohl die Ansicht, Germanen und Juden stünden sich in ihrer gestaltlosen Gottesvorstellung nahe, doch mündeten solche und andere orakelhafte Aussprüche nie in konkrete Formen. Stefan George blieb distanziert und sphinxhaft. Eine Ergebenheitsadresse an das neue Regime blieb ebenso aus wie eine explizite Solidarisierung mit den jüdischen Kreismitgliedern. Unter ihnen befand sich ein ehemaliger Frontoffizier und Freikorpskämpfer, der in dieser Situation die Ehrenrettung des Geheimen Deutschlands übernahm, noch bevor eine Fehldeutung seitens der Machthaber und ihrer Parteigänger innerhalb des Kreises einsetzen konnte: Ernst Kantorowicz.
Am 14. November 1933, wenige Wochen vor dem Tod Georges in Minusio, hielt er eine Antrittsvorlesung, die er angesichts der politischen Lage ausdrücklich als Bekenntnis bezeichnete. In ihr wird zum ersten und einzigen Mal konkret, was unter dem Geheimen Deutschland zu verstehen sei. Diese Rede ist in ihrer deutschen Ursprungsversion nicht mehr auffindbar, und so stützt sich das Folgende auf eine italienische Ausgabe.
Für den Historiker Kantorowicz gehört das Geheime Deutschland zur deutschen Originalität, die stets danach trachtete, gleich den Hellenen, Göttliches und Menschliches zur formvollendeten Harmonie zu bringen. Am reinsten gelang das in einem Seelenreich, das die Geschichte der Deutschen ungesehen begleitet. Dieses Reich hat nie den Durchbruch in die profane Wirklichkeit geschafft, allenfalls in der Idee des Heiligen Römischen Reiches, das dennoch historisch hinter seiner Berufung zurückblieb.
Allein der Geist blieb intakt, nahm gleichsam den priesterlichen Character indelebilis, das unauslöschliche Siegel an und wirkte als untergründiger Kraftstrom weiter, oft genug gegen die Fließrichtung der Geschichte. Dieses Reich wird von den großen Geistern der deutschen Geschichte bewohnt, die im kollektiven Unbewußten weiter aktiv sind, gleich geistigen Vulkanen. Zu ihnen zählt er die Ottonen, die Staufer, aber ebenso Luther, Dürer, Hölderlin, Nietzsche und natürlich Stefan George.
Dieses Reich ist keine Republik, keine Demokratie, sondern eine Herrschaft der Besten, wie es die Übersetzung des Begriffs Aristokratie festlegt. Daneben bewohnen es unzählige Unbekannte, die berufen waren, diesen Geist zu Lebzeiten zu empfangen und zu beherbergen. Sie alle sind Begnadete im augustinischen Sinn. Für den deutschen Juden Kantorowicz ist es überdies ein existentielles Anliegen, zu betonen, daß man aus diesem Reich nicht vertrieben werden könne. Auch erobern könne man es nicht.
Bei aller Idealisierung gelte es aber auch, das Dämonische oder, nietzscheanisch gewendet, das Dionysische innerhalb dieses Reiches in die Betrachtung einzubeziehen. Kantorowicz erläutert dies am Beispiel Friedrich II., des Stupor mundi, der seinen Zeitgenossen je nach Standpunkt als Messias oder als Antichrist galt.
Als Ikone der wahren Beheimatung dieses Reiches ließe sich noch der glücklose Thronprätendent Konradin anführen, der 16jährig als letzter Staufer 1268 in Neapel hingerichtet wurde. Sein von der Geschichte und ihrer Machtbezogenheit zerstörtes Erbrecht findet sich nur mehr im Geheimen Deutschland erfüllt. Es existiert unabhängig von einem irdischen Territorium. Damit ist das Geheime Deutschland zu einer Art spirituellem Ghibellismus geworden. Gerade sein historisches Scheitern verbürgt in dieser Lesart sein metaphysisches Herkommen.
Ernst Kantorowicz, dessen Überlegungen in seinem Hauptwerk Die zwei Körper des Königs noch weiter ausgeführt werden sollten, war einer der Novizenmeister der Brüder Stauffenberg. Zur Initiation gehörte eine Reise nach Italien an den Sarkophag Friedrichs II. im Dom zu Palermo, wo man auf den mysteriösen Kranz mit der Aufschrift »Seinen Kaisern und Helden. Das Geheime Deutschland« stieß, der anscheinend noch bis zu Beginn der 1990er Jahre dort gelegen haben soll (Manfred Riedel).
Der junge Claus Schenk Graf von Stauffenberg gehörte mit seinen Brüdern Berthold und Alexander zu den von Stefan George Erweckten. Sie bildeten mit anderen die letzte Generation dieses Kreises. Über seinen inneren Weg zum Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 ist viel gerätselt worden. Es darf aber festgestellt bleiben, daß die Prägung durch den Meister im Angesicht einer totalen nationalen Katastrophe zu seiner Handlungsmotivation gehört haben muß.
Der Kreis zerfiel, und viele seiner Mitglieder wurden vom NS-Regime in die verschiedensten Schicksale gezwungen: Ernst Kantorowicz ins Exil, die Stauffenbergs in den Widerstand, Percy Gothein in die KZ-Haft und Frank Mehnert an die Ostfront.
Claus Schenk Graf von Stauffenberg hatte die militärische Laufbahn eingeschlagen und war 19jährig standesbewußt in das Reiterregiment 17 in Bamberg eingetreten. Es war ihm, wenn man Zeugenberichten Glauben schenken will, nicht entgangen, daß im Dom dieser Stadt ein anderer Reiter der Wissenschaft seit jeher Rätsel aufgab. Stellt der waffenlose, gekrönte Reiter König Stephan I. von Ungarn dar, König Philipp von Schwaben? Einen der Staufer oder eine Figur der Apokalypse, vielleicht den Messias selbst?
Der britische Historiker Sir John Wheeler-Bennett ging sogar so weit, ihn als mittelalterliches Vorausbild von Claus von Stauffenberg zu betrachten. Auch wenn man von gläubigen »Hosianna-Rufen« in der Ineinssetzung des Grafen mit dem gotischen Reiter Abstand nehmen möchte, so ist doch unverkennbar, wie in Stauffenbergs Tat das Geheime Deutschland ein einziges Mal machtvoll seinen Anspruch in der deutschen Geschichte kundgetan hat.
Als das Erschießungskommando im Hof des Bendlerblocks noch einmal auf ihn anlegt, nachdem sein Adjutant Oberleutnant Werner von Haeften die ersten Kugeln mit seinem Körper abgefangen hat, ruft Oberst Claus Schenk Graf von Stauffenberg: »Es lebe das Geheime Deutschland!«
Der Mythos von einem Geheimen Deutschland gewann immer dann an Kraft, wenn dieses Land der Deutschen vom real existierenden Deutschland oder seiner Umgebung bedroht wurde. Er mochte bei der metahistorischen Einordnung und Bannung historischer Entwicklungen in Deutschland helfen, konnte damit aber nicht vom tagtäglichen, traumatischen Geschichtsvollzug schützen. Im Vergleich mit diesem Mythos kann heutigen Deutschen noch einmal schmerzhaft zu Bewußtsein kommen, in welch einem untoten Land man seit 1945 gelebt hat.
Heutige Machthaber wollen offenbar die letzten Deutschen von der vermeintlichen deutschen Daseinsverfehlung überzeugen, um ihr bald schon ehemaliges Land nun endgültig dem Grab übergeben zu können. Sie tun es mit ebensolchem religiösen Eifer und ebensolchem mythomanischen Sendungsbewußtsein.
Der Glaube an ein Geheimes Deutschland löst da keine tagespolitischen Probleme (kein Glaube tut das), er kann aber das Bewußtsein vor solcher Dauer-Einflüsterung abschirmen. Dieser Mythos wäre im besten Fall ein Mythos im Sinne Georges Sorels, das heißt eine individuelle wie kollektive Kraftquelle, gespeist aus der unkündbaren Zugehörigkeit zu einem deutschen Seinsgrund, der nicht von der NS-Fixierung versiegelt werden kann, weil er für diese Geschichte nicht ursächlich gewesen sein konnte. Ernst Kantorowicz hätte es schwerlich so leidenschaftlich verteidigt; auch wenn er in späteren Jahren nur melancholisch aus der Ferne zurückschaute.
Ernst Jünger sah in seinem großen Essay An der Zeitmauer voraus, daß in der jetzigen, sich in Jahrzehnten ankündigenden globalen Umbruchsphase Mythisches wieder durch die Bruchstellen aufsteigen würde, dem Rauch der Pythia vergleichbar. Und doch sind es wieder nur sehr wenige in unserer »heutigen pathosentwöhnten Zeit« (Baal Müller), die dafür noch eine Antenne hätten.
Die traditionellen Religionen, die Kirchen zumal, kommen bei dieser planetarischen Umwälzung, die mit dem Ende der Humangeschichte (nicht im Sinne Fukuyamas wohlgemerkt!) einhergehen wird, schlecht weg. Sie sind längst Symptome und keine Alternativen mehr. Es braucht Tieferes und damit zugleich Höheres. Mit einem provokanten Augenzwinkern in Richtung Schultheologie ließe sich behaupten: Das Geheime Deutschland ist eine Provinz des Reiches Gottes: mitten unter uns und immer noch im Kommen.