In Nachrufen auf den im Juni verstorbenen Cormac McCarthy (Die Abendröte im Westen) ist von ihm des öfteren als vom »letzten großen amerikanischen Erzähler« gesprochen worden, und das hat sicher seine Berechtigung.
Was allerdings die letzte große amerikanische Erzählung angeht, so läßt sich begründet vertreten, daß diese schon seit 1996 vorliegt. Es handelt sich um einen fast 1100 Seiten starken Kaventsmann mit dem bei Shakespeare entliehenen Titel Infinite Jest. 2009, als unter dem Titel Unendlicher Spaß mit mehr als 1500 Seiten die deutsche Übersetzung erschien, war sein Autor David Foster Wallace – ein allseits als »Wunderkind« gefeierter Getriebener – gerade seit einem halben Jahr nicht mehr am Leben.
Aufgrund von Werk und Lebenswandel wird Wallace oft intuitiv für einen emblematischen Vertreter der »Generation X« gehalten: soziokulturell vor allem durch große Autonomie und gefühlte Verlorenheit definiert, skeptisch bis hin zum Zynismus. Unendlicher Spaß ist gar – in Anlehnung an das epochale Werk von James Joyce – als »Ulysses der Gen X« bezeichnet worden.
Tatsächlich gehörte Wallace, 1962 geboren, noch der »Babyboomer«-Alterskohorte an und wuchs in einer Akademikerfamilie in den US-Bundesstaaten New York und Illinois auf. Die Eltern lehrten Philosophie (James Donald Wallace stand in der Tradition des angelsächsischen Pragmatismus, den auch Arnold Gehlen rezipierte) und Englisch (Sally Jean Wallace war bekannt dafür, selbst im gesprochenen Wort pedantisch auf korrekte Grammatik zu achten; ihr Sohn sollte ihr in seinem Opus magnum ein literarisches Denkmal setzen). Sie hatten damit bereits vor Wallaces Geburt die Richtung seines Lebens und Schaffens vorgegeben. Insbesondere gaben sie ihm von Kindesbeinen an das prägende Gefühl, daß der ganzen Welt an seiner Meinung gelegen sei – Antrieb des Bedürfnisses, die Leistungen anderer noch übertrumpfen zu wollen, und der Sehnsucht danach, gesehen und beachtet zu werden.
Wallace erlebte seine ersten depressiven Episoden noch im Grundschulalter, war mit 15 Jahren ein erfolgreicher Nachwuchstennisspieler und hatte mit 23 einen Doppelbachelor in Philosophie – über das hochabstrakte Gebiet der Modallogik – sowie Literatur in der Tasche. Aus letzterer Abschlußarbeit entwickelte er seinen literarisch noch klar postmodernen, deutlich von Thomas Pynchon inspirierten Debüt-Achtungserfolg Der Besen im System. Über biographische Details, insbesondere die Schattenseiten von »getting high, drinking, and f*cking strangers« (O‑Ton über sein abgebrochenes Promotionsstudium an der Harvard University), wäre viel zu schreiben, doch Klatsch kann jeder in der gültigen Biographie nachlesen.
Bemerkenswert ist Wallaces persönliches Interesse an hochabstrakten akademischen Fächern bei gleichzeitig vorwiegend belletristischem Schaffen. Zu seinen lesenswertesten Schriften zählt ein quasi populärwissenschaftlicher Beitrag zur Medientheorie: 1993 erschien seine schon drei Jahre zuvor verfaßte Streitschrift »E Unibus Pluram: Television and U.S. Fiction« in der Review of Contemporary Fiction, einer kleinen Avantgarde-Literaturzeitschrift, die 1987 mit der Einladung zur Teilnahme an einer Reihe »Romanautoren als Kritiker« seinen Abstecher in die Literaturtheorie angestoßen hatte. Der Titel verkehrt den lateinischen Slogan »E pluribus unum« (»Aus vielen (wird) eines«) im »Großen Siegel« der USA in dessen Gegenteil.
Beginnend mit der Instruktion »Act natural« (also »Verhalte dich natürlich« bzw. »Tu so, als wärst du natürlich«) entwickelt der Essay, niedergeschrieben während des x‑ten Psychiatrieaufenthalts nach einem Nervenzusammenbruch, eine schwungvolle Anklage des Einflusses von Fernsehblickweisen und ‑narrativen auf die Erzählfähigkeit zeitgenössischer Belletristik und erweist sich im Rückblick als eine Art »Schwungholen« für den großen Wurf Unendlicher Spaß. Ab dem Zeitpunkt der Einreichung beim Verlag im Frühjahr 1992 erschienen Exzerpte des Romans in zahlreichen US-Literaturzeitschriften, während das Manuskript innerhalb von knapp vier Jahren in Form gebracht und um nicht weniger als 250 Seiten (!) erleichtert wurde. War Der Besen im System noch eine Fingerübung im Stil der »alten Meister« gewesen, fühlte Wallace sich nach einem halben Jahrzehnt der Arbeit bereit, zur Erledigung des rein spielerischen Umgangs mit der Welt und dem Leben selbst zu schreiten.
Das schlug sich im Buch selbst reichlich nieder: Während der Titel Hamlet entlehnt ist, beinhaltet das Sujet selbst eine mehr als deutliche Anspielung auf den Sketch »Der tödlichste Witz der Welt« der legendären britischen Kabarettruppe Monty Python, deren Mätzchen der pathologisch fernsehende Wallace selbstverständlich in- und auswendig kannte. Tatsächlich behandelt Unendlicher Spaß als die Handlung tragendes Objekt der allseitigen Begierde den gleichnamigen mysteriösen Film, der so unterhaltsam ist, daß Zuschauer ihn nur noch in Dauerschleife sehen wollen und darüber alles andere vergessen, selbst das Essen.
Kanadische Terroristen wollen ihn in ihren Besitz bringen und als Massenvernichtungswaffe gegen die USA nutzen, die unter ihrem an Waschzwang leidenden Präsidenten Kanada genötigt haben, den gesammelten US-Giftmüll zu übernehmen. All das erschließt sich dem Leser in Nebensätzen und vor allem im »Metadiskurs« der beinahe 500 Fußnoten und Unterfußnoten des Buchs. In den von zahlreichen Querverbindungen, ähnlich menschlichen Lebenswegen, komplex verwobenen Haupterzählsträngen zwischen einer elitären Tennisakademie und einer Suchtklinik geht es um die ganz großen Themen – Familie, Abhängigkeiten, psychische Störungen, Identitätsfragen.
Und doch scheint im großen und ganzen über den Verlauf der Romanhandlung eigentlich nichts zu passieren. Daneben finden sich im Buch etliche intertextuelle Anspielungen auf oder Parallelen zu Werken anderer Autoren, vom bekannten Postmodernisten Don DeLillo bis hin zu Dostojewski. Als prägendster Einfluß läßt sich unschwer Hamlet ausmachen, und das längst nicht nur am Titel: Ganze Szenen sind nach Aspekten des Shakespeare-Stücks aufgebaut, und noch der antichronologische Aufbau der Kapitelstruktur gibt sich als Reminiszenz an die im Hamlet beklagte »aus den Fugen geratene« Zeit.
Unendlicher Spaß, dezidiert dazu geschrieben, über einen langen Zeitraum und mehrmals gelesen zu werden, war nicht zuletzt auch eine Herausforderung Wallaces an die Leser, sich schwierige Bücher zuzumuten. Im Verlag indes mehrten sich Zweifel am Projekt, und die pompöse Werbekampagne war zu einem guten Teil der Verzweiflung geschuldet, womöglich auf der Erstauflage sitzenzubleiben. Tatsächlich war das Gegenteil der Fall: Zur allseitigen Überraschung wurde das Buch ab dem Erscheinen am 1. Februar 1996 quasi aus dem Stegreif ein riesiger Erfolg.
Noch während der Lesereise zum Buch, die Wallace durch zehn US-Großstädte führte und über die der Rolling Stone-Reporter David Lipsky ein 2015 als The End of the Tour verfilmtes Buch schrieb, wurden sechs weitere Auflagen gedruckt und verkauft. Daß das Werk zuerst in Internetforen intensiv diskutiert wurde und die akademische Rezeption ein halbes Jahrzehnt auf sich warten ließ, hebt die Bedeutung von Unendlicher Spaß als fulminantem Schlußstrich unter den Monumentalroman als Literaturgattung hervor – einleuchtend, daß der Arbeitstitel »Mißlungene Unterhaltung« lautete.
Als Remedur gegen die alles durchseuchende Ironie schwebte dem Schriftsteller ein Fokus auf Realismus bar jeder Schminke vor, selbst um den Preis des erzählerischen Leerlaufs. Der Leser müsse notfalls die Langeweile neu erlernen, um aus dem Hamsterrad der bloßen Unterhaltung in Richtung Sinn auszubrechen. Auf einen Satz gebracht: Das tatsächliche Leben ist überwiegend banal, aber es ist auch sehr schön – man muß nur (wieder) lernen, undramatische Schönheit zu sehen.
In »E Unibus Pluram« hatte er prophezeit: »Die nächsten echten literarischen ›Rebellen‹ in diesem Land könnten nur zu gut ein schräger Haufen von Anti rebellen sein, geborene Gaffer, die sich irgendwie trauen, vor dem ironischen Schauen zurückzuscheuen, die die kindliche Unverfrorenheit mitbringen, allen Ernstes eindeutige Prinzipien aufzustellen und zu verfechten. […] Natürlich wären diese Antirebellen veraltet, bevor sie die erste Zeile zu Papier gebracht hätten. Literarische Totgeburten. Zu aufrichtig. Eindeutig verklemmt. Rückständig, drollig, naiv, anachronistisch. Vielleicht geht es genau darum. Vielleicht sind sie genau deswegen die nächsten echten Rebellen. Soweit ich das beurteilen kann, riskieren echte Rebellen Mißfallen.« Tatsächlich sollten ab Ende der 1990er Freunde und Epigonen wie Jonathan Franzen (Die Korrekturen) und insbesondere Dave Eggers (Ein herzzerreißendes Werk von umwerfender Genialität) in eine solche Kerbe schlagen.
Wer derartige Hingabe an den Ernst im stellenweise bizarren Unendlichen Spaß – zumindest auf den ersten Blick – vergeblich sucht, der blicke statt dessen auf Wallaces nichtbelletristisches Schaffen: »Am Beispiel des Hummers« etwa, erschienen 2004 in einem Gourmetmagazin, führt von einem jährlichen Hummerindustrie-Festival hin zur Verweigerung des Nachdenkens über existentielle Fragen. Dann sind da die Kurzgeschichten, die einen Gutteil des Œuvre darstellen – und die nach Unendlicher Spaß spürbar ernster werden, teils gar finster. Ausdrücklich zu warnen ist etwa vor »Vergessenheit« (2004), einer zutiefst beunruhigenden Meditation über familiäre Traumata, sowie vor der schlicht entsetzlichen »Inkarnationen gebrannter Kinder« (2000). Ein positives Pars pro toto für das Gesamtwerk bietet das gefeierte »In alter Vertrautheit« (2001), in dem ein einsamer Werbefachmann sein entleertes Leben an sich vorüberziehen läßt, bis zum abrupten und unausweichlichen Endpunkt hin.
Wallaces eigener Endpunkt vervielfachte die (populär-)wissenschaftliche Beschäftigung mit ihm. 2012 veröffentlichte ein Journalist die bis heute alternativlose Biographie über den Schriftsteller; seither erschienen zahllose Essays und Bücher. Dies und der erwähnte Film The End of the Tour mit dem populären Jason Segel (How I Met Your Mother) in der Hauptrolle machten ihn als Zielscheibe für Aktivisten attraktiv: Auf dem Höhepunkt des #MeToo-Onlinetrends äußerte sich die Schriftstellerin Mary Karr per Twitter über ihre seinerzeitige Affäre mit dem sieben Jahre jüngeren Wallace. Dieser habe obsessive Züge an den Tag gelegt und sein Suchtverhalten auf sie, selbst eine trockene Alkoholikerin mit Ehemann und einem damals fünfjährigen Sohn, umgelenkt – einschließlich körperlicher Übergriffe, weil Karr für ihn nicht ihre Familie verlassen wollte.
Die »Enthüllung« fand wenig Widerhall, weil die Welt all das schon aus der Wallace-Biographie (die laut Karr zu sehr von Wallace und zu wenig von ihr handelte) wußte. Ein kurzer »Aufschrei« in linksliberalen Medien wurde schnell von prominenteren Opferperspektiven überlagert. Seither aber werden Unendlicher Spaß und sein Autor als Warnsignale für Frauen gedeutet, die auf bildungsschnöselige Schürzenjäger und / oder zwangsgestörte Frauenschläger hindeuten sollen. Eine weitere Parallele zwischen Wallace und Hemingway …
Wo der Erzähler Neal in »In alter Vertrautheit« einen krachenden Abgang wählt, vollzog sich der Ausstieg des David Foster Wallace aus der Welt im stillen. Nach einer Herzattacke im Sommer 2007 hatte er sich entschlossen, sein antiquiertes Antidepressivum Nardil nach 22 Jahren abrupt abzusetzen, was ihn seelisch und körperlich zerrüttete. Der Versuch, clean zu bleiben, schlug ebenso fehl wie ein Umstieg auf modernere Medikation. Ein Jahr später unternahm er einen Suizidversuch (nicht seinen ersten) und sah als letzten Ausweg die Elektrokrampfbehandlung, die ihm 20 Jahre zuvor Linderung verschafft hatte. Als auch das nichts half und ihn nur noch instabiler machte, kehrte er in tiefster Verzweiflung zum Nardil zurück, aber fand nicht mehr die Geduld für den allmählichen Wirkungseintritt.
Am späten Nachmittag des 12. September 2008 schlug Wallace seiner Frau vor, nach ihrer Galerie in der Innenstadt zu sehen. Nachdem sie das Haus verlassen hatte, ging er in seine Schreibstube in der Garage. Er schaltete alle Lichter an, suchte seine unzähligen Notizen und Manuskriptseiten zusammen, ordnete alles auf dem Schreibtisch an und schrieb einen zweiseitigen Brief, den er obenauf legte. Dann ging er quer durchs Haus auf die Veranda und erhängte sich an einem Dachbalken – nie wieder Tabletten. Es war, wie sein Biograph D. T. Max schrieb, »nicht das Ende, das irgend jemand für ihn gewollt hatte, sondern jenes, das er selbst gewählt hatte«. Wallace war 46 Jahre alt. Einer der letzten Sätze seiner nachgelassenen Fragmentsammlung Der bleiche König, die nicht abschließen zu können ihn in eine fatale Abwärtsspirale der Minderwertigkeitsgefühle gestürzt hatte, lautet: »Da wir alle atmen, die ganze Zeit, ist es seltsam, wenn jemand anders uns anweist, wie und wann wir atmen sollen.« Wenn das nicht ironisch ist …
Böse Zungen haben seinen Suizid gar als zynisch bezeichnet: Der zwanghaft auf seine Außenwirkung fixierte Wallace habe die »Verewigung« als Opfer der Depression dem allmählichen Verebben seines literarischen Ruhms vorgezogen. Häufiger ist allerdings, daß Schriftsteller kurz vor oder nach ihrem großen Erfolg tragisch versterben. Man denke an den japanischen modernen Klassiker Osamu Dazai (1909 – 1948) mit seinem kurzen Leben voller Wohlstandsverwahrlosung, Depressionen, Sucht und Suizidversuchen, der binnen Jahresfrist nach seinem großen literarischen Durchbruch den halbautobiographischen Roman Gezeichnet über einen empathie- und beziehungsunfähigen Mann verfaßte und sich anschließend mit seiner Geliebten in einem Kanal ertränkte.
Oder an den Chilenen Roberto Bolaño (1953 – 2003), der nur vier Jahre nach dem ersten Aufwind seiner Laufbahn an Leberversagen starb, weil ihm nicht rechtzeitig ein Transplantat zugewiesen wurde – und der mit dem hinterlassenen Episodenroman 2666 posthum zu weltweiter Bekanntheit als »Legende der lateinamerikanischen Literatur« (FAZ) gelangte. Was das kurze Leben David Foster Wallaces von diesen Beispielen abhebt, ist seine authentische Suche nach Sinn zu Beginn einer Zeit, die diesen durch bloßen Konsum zu ersetzen suchte und bis heute damit durchkommt. Seine aktuellen Nachfahren im Bereich der nonkonformen US-Nachwuchsbelletristik, sowohl in Langform (Marty Phillips: Millennium, Dan Baltic: NUTCRANKR) als auch bei den Kurzgeschichten (Shawn Bell: Post–), machen eines klar: Solange diese Leerstelle offengehalten wird, kann »DFW« kaum veralten.