Über David Foster Wallace

PDF der Druckfassung aus Sezession 117 / Dezember 2023

Nils Wegner

Nils Wegner ist studierter Historiker, lektorierte 2015–2017 bei Antaios, IfS und Sezession und arbeitet als Übersetzer.

In Nach­ru­fen auf den im Juni ver­stor­be­nen Cor­mac McCar­thy (Die Abend­rö­te im Wes­ten) ist von ihm des öfte­ren als vom »letz­ten gro­ßen ame­ri­ka­ni­schen Erzäh­ler« gespro­chen wor­den, und das hat sicher sei­ne Berechtigung.

Was aller­dings die letz­te gro­ße ame­ri­ka­ni­sche Erzählung angeht, so läßt sich begrün­det ver­tre­ten, daß die­se schon seit 1996 vor­liegt. Es han­delt sich um einen fast 1100 Sei­ten star­ken Kavents­mann mit dem bei Shake­speare ent­lie­he­nen Titel Infi­ni­te Jest. 2009, als unter dem Titel Unend­li­cher Spaß mit mehr als 1500 Sei­ten die deut­sche Über­set­zung erschien, war sein Autor David Fos­ter Wal­lace – ein all­seits als »Wun­der­kind« gefei­er­ter Getrie­be­ner – gera­de seit einem hal­ben Jahr nicht mehr am Leben.

Auf­grund von Werk und Lebens­wan­del wird Wal­lace oft intui­tiv für einen emble­ma­ti­schen Ver­tre­ter der »Gene­ra­ti­on X« gehal­ten: sozio­kul­tu­rell vor allem durch gro­ße Auto­no­mie und gefühl­te Ver­lo­ren­heit defi­niert, skep­tisch bis hin zum Zynis­mus. Unend­li­cher Spaß ist gar – in Anleh­nung an das epo­cha­le Werk von James Joy­ce – als »Ulys­ses der Gen X« bezeich­net worden.

Tat­säch­lich gehör­te Wal­lace, 1962 gebo­ren, noch der »Babyboomer«-Alterskohorte an und wuchs in einer Aka­de­mi­ker­fa­mi­lie in den US-Bun­des­staa­ten New York und Illi­nois auf. Die Eltern lehr­ten Phi­lo­so­phie (James Donald Wal­lace stand in der Tra­di­ti­on des angel­säch­si­schen Prag­ma­tis­mus, den auch Arnold Geh­len rezi­pier­te) und Eng­lisch (Sal­ly Jean Wal­lace war bekannt dafür, selbst im gespro­che­nen Wort pedan­tisch auf kor­rek­te Gram­ma­tik zu ach­ten; ihr Sohn soll­te ihr in sei­nem Opus magnum ein lite­ra­ri­sches Denk­mal set­zen). Sie hat­ten damit bereits vor Wal­laces Geburt die Rich­tung sei­nes Lebens und Schaf­fens vor­ge­ge­ben. Ins­be­son­de­re gaben sie ihm von Kin­des­bei­nen an das prä­gen­de Gefühl, daß der gan­zen Welt an sei­ner Mei­nung gele­gen sei – Antrieb des Bedürf­nis­ses, die Leis­tun­gen ande­rer noch über­trump­fen zu wol­len, und der Sehn­sucht danach, gese­hen und beach­tet zu werden.

Wal­lace erleb­te sei­ne ers­ten depres­si­ven Epi­so­den noch im Grund­schul­al­ter, war mit 15 Jah­ren ein erfolg­rei­cher Nach­wuchs­ten­nis­spie­ler und hat­te mit 23 einen Dop­pel­ba­che­lor in Phi­lo­so­phie – über das hoch­abs­trak­te Gebiet der Modal­lo­gik – sowie Lite­ra­tur in der Tasche. Aus letz­te­rer Abschluß­ar­beit ent­wi­ckel­te er sei­nen lite­ra­risch noch klar post­mo­der­nen, deut­lich von Tho­mas Pyn­chon inspi­rier­ten Debüt-Ach­tungs­er­folg Der Besen im Sys­tem. Über bio­gra­phi­sche Details, ins­be­son­de­re die Schat­ten­sei­ten von »get­ting high, drin­king, and f*cking stran­gers« (O‑Ton über sein abge­bro­che­nes Pro­mo­ti­ons­stu­di­um an der Har­vard Uni­ver­si­ty), wäre viel zu schrei­ben, doch Klatsch kann jeder in der gül­ti­gen Bio­gra­phie nachlesen.

Bemer­kens­wert ist Wal­laces per­sön­li­ches Inter­es­se an hoch­abs­trak­ten aka­de­mi­schen Fächern bei gleich­zei­tig vor­wie­gend bel­le­tris­ti­schem Schaf­fen. Zu sei­nen lesens­wer­tes­ten Schrif­ten zählt ein qua­si popu­lär­wis­sen­schaft­li­cher Bei­trag zur Medi­en­theo­rie: 1993 erschien sei­ne schon drei Jah­re zuvor ver­faß­te Streit­schrift »E Uni­bus Plu­ram: Tele­vi­si­on and U.S. Fic­tion« in der Review of Con­tem­po­ra­ry Fic­tion, einer klei­nen Avant­gar­de-Lite­ra­tur­zeit­schrift, die 1987 mit der Ein­la­dung zur Teil­nah­me an einer Rei­he »Roman­au­to­ren als Kri­ti­ker« sei­nen Abste­cher in die Lite­ra­tur­theo­rie ange­sto­ßen hat­te. Der Titel ver­kehrt den latei­ni­schen Slo­gan »E plu­ri­bus unum« (»Aus vie­len (wird) eines«) im »Gro­ßen Sie­gel« der USA in des­sen Gegenteil.

Begin­nend mit der Instruk­ti­on »Act natu­ral« (also »Ver­hal­te dich natür­lich« bzw. »Tu so, als wärst du natür­lich«) ent­wi­ckelt der Essay, nie­der­ge­schrie­ben wäh­rend des x‑ten Psych­ia­trie­auf­ent­halts nach einem Ner­ven­zu­sam­men­bruch, eine schwung­vol­le Ankla­ge des Ein­flus­ses von Fern­seh­blick­wei­sen und ‑nar­ra­ti­ven auf die Erzähl­fä­hig­keit zeit­ge­nös­si­scher Bel­le­tris­tik und erweist sich im Rück­blick als eine Art »Schwung­holen« für den gro­ßen Wurf Unend­li­cher Spaß. Ab dem Zeit­punkt der Ein­rei­chung beim Ver­lag im Früh­jahr 1992 erschie­nen Exzerp­te des Romans in zahl­rei­chen US-Lite­ra­tur­zeit­schrif­ten, wäh­rend das Manu­skript inner­halb von knapp vier Jah­ren in Form gebracht und um nicht weni­ger als 250 Sei­ten (!) erleich­tert wur­de. War Der Besen im Sys­tem noch eine Fin­ger­übung im Stil der »alten Meis­ter« gewe­sen, fühl­te Wal­lace sich nach einem hal­ben Jahr­zehnt der Arbeit bereit, zur Erle­di­gung des rein spie­le­ri­schen Umgangs mit der Welt und dem Leben selbst zu schreiten.

Das schlug sich im Buch selbst reich­lich nie­der: Wäh­rend der Titel Ham­let ent­lehnt ist, beinhal­tet das Sujet selbst eine mehr als deut­li­che Anspie­lung auf den Sketch »Der töd­lichs­te Witz der Welt« der legen­dä­ren bri­ti­schen Kaba­ret­trup­pe Mon­ty Python, deren Mätz­chen der patho­lo­gisch fern­se­hen­de Wal­lace selbst­ver­ständ­lich in- und aus­wen­dig kann­te. Tat­säch­lich behan­delt Unend­li­cher Spaß als die Hand­lung tra­gen­des Objekt der all­sei­ti­gen Begier­de den gleich­na­mi­gen mys­te­riö­sen Film, der so unter­halt­sam ist, daß Zuschau­er ihn nur noch in Dau­er­schlei­fe sehen wol­len und dar­über alles ande­re ver­ges­sen, selbst das Essen.

Kana­di­sche Ter­ro­ris­ten wol­len ihn in ihren Besitz brin­gen und als Mas­sen­ver­nich­tungs­waf­fe gegen die USA nut­zen, die unter ihrem an Wasch­zwang lei­den­den Prä­si­den­ten Kana­da genö­tigt haben, den gesam­mel­ten US-Gift­müll zu über­neh­men. All das erschließt sich dem Leser in Neben­sät­zen und vor allem im »Meta­dis­kurs« der bei­na­he 500 Fuß­no­ten und Unter­fuß­no­ten des Buchs. In den von zahl­rei­chen Quer­ver­bin­dun­gen, ähn­lich mensch­li­chen Lebens­we­gen, kom­plex ver­wo­be­nen Haupt­er­zähl­strän­gen zwi­schen einer eli­tä­ren Ten­nis­aka­de­mie und einer Sucht­kli­nik geht es um die ganz gro­ßen The­men – Fami­lie, Abhän­gig­kei­ten, psy­chi­sche Stö­run­gen, Identitätsfragen.

Und doch scheint im gro­ßen und gan­zen über den Ver­lauf der Roman­hand­lung eigent­lich nichts zu pas­sie­ren. Dane­ben fin­den sich im Buch etli­che inter­tex­tu­el­le Anspie­lun­gen auf oder Par­al­le­len zu Wer­ken ande­rer Autoren, vom bekann­ten Post­mo­der­nis­ten Don DeL­il­lo bis hin zu Dos­to­jew­ski. Als prä­gends­ter Ein­fluß läßt sich unschwer Ham­let aus­ma­chen, und das längst nicht nur am Titel: Gan­ze Sze­nen sind nach Aspek­ten des Shake­speare-Stücks auf­ge­baut, und noch der anti­chro­no­lo­gi­sche Auf­bau der Kapi­tel­struk­tur gibt sich als Remi­nis­zenz an die im Ham­let beklag­te »aus den Fugen gera­te­ne« Zeit.

Unend­li­cher Spaß, dezi­diert dazu geschrie­ben, über einen lan­gen Zeit­raum und mehr­mals gele­sen zu wer­den, war nicht zuletzt auch eine Her­aus­for­de­rung Wal­laces an die Leser, sich schwie­ri­ge Bücher zuzu­mu­ten. Im Ver­lag indes mehr­ten sich Zwei­fel am Pro­jekt, und die pom­pö­se Wer­be­kam­pa­gne war zu einem guten Teil der Ver­zweif­lung geschul­det, womög­lich auf der Erst­auf­la­ge sit­zen­zu­blei­ben. Tat­säch­lich war das Gegen­teil der Fall: Zur all­sei­ti­gen Über­ra­schung wur­de das Buch ab dem Erschei­nen am 1. Febru­ar 1996 qua­si aus dem Steg­reif ein rie­si­ger Erfolg.

Noch wäh­rend der Lese­rei­se zum Buch, die Wal­lace durch zehn US-Groß­städ­te führ­te und über die der Rol­ling Stone-Repor­ter David Lips­ky ein 2015 als The End of the Tour ver­film­tes Buch schrieb, wur­den sechs wei­te­re Auf­la­gen gedruckt und ver­kauft. Daß das Werk zuerst in Inter­net­fo­ren inten­siv dis­ku­tiert wur­de und die aka­de­mi­sche Rezep­ti­on ein hal­bes Jahr­zehnt auf sich war­ten ließ, hebt die Bedeu­tung von Unend­li­cher Spaß als ful­mi­nan­tem Schluß­strich unter den Monu­men­tal­ro­man als Lite­ra­tur­gat­tung her­vor – ein­leuch­tend, daß der Arbeits­ti­tel »Miß­lun­ge­ne Unter­hal­tung« lautete.

Als Reme­dur gegen die alles durch­seu­chen­de Iro­nie schweb­te dem Schrift­stel­ler ein Fokus auf Rea­lis­mus bar jeder Schmin­ke vor, selbst um den Preis des erzäh­le­ri­schen Leer­laufs. Der Leser müs­se not­falls die Lan­ge­wei­le neu erler­nen, um aus dem Hams­ter­rad der blo­ßen Unter­hal­tung in Rich­tung Sinn aus­zu­bre­chen. Auf einen Satz gebracht: Das tat­säch­li­che Leben ist über­wie­gend banal, aber es ist auch sehr schön – man muß nur (wie­der) ler­nen, undra­ma­ti­sche Schön­heit zu sehen.

In »E Uni­bus Plu­ram« hat­te er pro­phe­zeit: »Die nächs­ten ech­ten lite­ra­ri­schen ›Rebel­len‹ in die­sem Land könn­ten nur zu gut ein schrä­ger Hau­fen von Antirebel­len sein, gebo­re­ne Gaf­fer, die sich irgend­wie trau­en, vor dem iro­ni­schen Schau­en zurück­zu­scheu­en, die die kind­li­che Unver­fro­ren­heit mit­brin­gen, allen Erns­tes ein­deu­ti­ge Prin­zi­pi­en auf­zu­stel­len und zu ver­fech­ten. […] Natür­lich wären die­se Anti­re­bel­len ver­al­tet, bevor sie die ers­te Zei­le zu Papier gebracht hät­ten. Lite­ra­ri­sche Tot­ge­bur­ten. Zu auf­rich­tig. Ein­deu­tig ver­klemmt. Rück­stän­dig, drol­lig, naiv, ana­chro­nis­tisch. Viel­leicht geht es genau dar­um. Viel­leicht sind sie genau des­we­gen die nächs­ten ech­ten Rebel­len. Soweit ich das beur­tei­len kann, ris­kie­ren ech­te Rebel­len Miß­fal­len.« Tat­säch­lich soll­ten ab Ende der 1990er Freun­de und Epi­go­nen wie Jona­than Fran­zen (Die Kor­rek­tu­ren) und ins­be­son­de­re Dave Eggers (Ein herz­zer­rei­ßen­des Werk von umwer­fen­der Genia­li­tät) in eine sol­che Ker­be schlagen.

Wer der­ar­ti­ge Hin­ga­be an den Ernst im stel­len­wei­se bizar­ren Unend­li­chen Spaß – zumin­dest auf den ers­ten Blick – ver­geb­lich sucht, der bli­cke statt des­sen auf Wal­laces nicht­bel­le­tris­ti­sches Schaf­fen: »Am Bei­spiel des Hum­mers« etwa, erschie­nen 2004 in einem Gour­met­ma­ga­zin, führt von einem jähr­li­chen Hum­mer­indus­trie-Fes­ti­val hin zur Ver­wei­ge­rung des Nach­den­kens über exis­ten­ti­el­le Fra­gen. Dann sind da die Kurz­ge­schich­ten, die einen Gut­teil des Œuvre dar­stel­len – und die nach Unend­li­cher Spaß spür­bar erns­ter wer­den, teils gar fins­ter. Aus­drück­lich zu war­nen ist etwa vor »Ver­ges­sen­heit« (2004), einer zutiefst beun­ru­hi­gen­den Medi­ta­ti­on über fami­liä­re Trau­ma­ta, sowie vor der schlicht ent­setz­li­chen »Inkar­na­tio­nen gebrann­ter Kin­der« (2000). Ein posi­ti­ves Pars pro toto für das Gesamt­werk bie­tet das gefei­er­te »In alter Ver­traut­heit« (2001), in dem ein ein­sa­mer Wer­be­fach­mann sein ent­leer­tes Leben an sich vor­über­zie­hen läßt, bis zum abrup­ten und unaus­weich­li­chen End­punkt hin.

Wal­laces eige­ner End­punkt ver­viel­fach­te die (populär-)wissenschaftliche Beschäf­ti­gung mit ihm. 2012 ver­öf­fent­lich­te ein Jour­na­list die bis heu­te alter­na­tiv­lo­se Bio­gra­phie über den Schrift­stel­ler; seit­her erschie­nen zahl­lo­se Essays und Bücher. Dies und der erwähn­te Film The End of the Tour mit dem popu­lä­ren Jason Segel (How I Met Your Mother) in der Haupt­rol­le mach­ten ihn als Ziel­schei­be für Akti­vis­ten attrak­tiv: Auf dem Höhe­punkt des #MeToo-Online­trends äußer­te sich die Schrift­stel­le­rin Mary Karr per Twit­ter über ihre sei­ner­zei­ti­ge Affä­re mit dem sie­ben Jah­re jün­ge­ren ­Wal­lace. Die­ser habe obses­si­ve Züge an den Tag gelegt und sein Sucht­ver­hal­ten auf sie, selbst eine tro­cke­ne Alko­ho­li­ke­rin mit Ehe­mann und einem damals fünf­jäh­ri­gen Sohn, umge­lenkt – ein­schließ­lich kör­per­li­cher Über­grif­fe, weil Karr für ihn nicht ihre Fami­lie ver­las­sen wollte.

Die »Ent­hül­lung« fand wenig Wider­hall, weil die Welt all das schon aus der Wal­lace-Bio­gra­phie (die laut Karr zu sehr von Wal­lace und zu wenig von ihr han­del­te) wuß­te. Ein kur­zer »Auf­schrei« in links­li­be­ra­len Medi­en wur­de schnell von pro­mi­nen­te­ren Opfer­per­spek­ti­ven über­la­gert. Seit­her aber wer­den Unend­li­cher Spaß und sein Autor als Warn­si­gna­le für Frau­en gedeu­tet, die auf bil­dungs­schnö­se­li­ge Schür­zen­jä­ger und / oder zwangs­ge­stör­te Frau­en­schlä­ger hin­deu­ten sol­len. Eine wei­te­re Par­al­le­le zwi­schen Wal­lace und Hemingway …

Wo der Erzäh­ler Neal in »In alter Ver­traut­heit« einen kra­chen­den Abgang wählt, voll­zog sich der Aus­stieg des David Fos­ter Wal­lace aus der Welt im stil­len. Nach einer Herz­at­ta­cke im Som­mer 2007 hat­te er sich ent­schlos­sen, sein anti­quier­tes Anti­de­pres­si­vum Nar­dil nach 22 Jah­ren abrupt abzu­set­zen, was ihn see­lisch und kör­per­lich zer­rüt­te­te. Der Ver­such, clean zu blei­ben, schlug eben­so fehl wie ein Umstieg auf moder­ne­re Medi­ka­ti­on. Ein Jahr spä­ter unter­nahm er einen Sui­zid­ver­such (nicht sei­nen ers­ten) und sah als letz­ten Aus­weg die Elek­tro­krampf­be­hand­lung, die ihm 20 Jah­re zuvor Lin­de­rung ver­schafft hat­te. Als auch das nichts half und ihn nur noch insta­bi­ler mach­te, kehr­te er in tiefs­ter Ver­zweif­lung zum Nar­dil zurück, aber fand nicht mehr die Geduld für den all­mäh­li­chen Wirkungseintritt.

Am spä­ten Nach­mit­tag des 12. Sep­tem­ber 2008 schlug Wal­lace sei­ner Frau vor, nach ihrer Gale­rie in der Innen­stadt zu sehen. Nach­dem sie das Haus ver­las­sen hat­te, ging er in sei­ne Schreib­stu­be in der Gara­ge. Er schal­te­te alle Lich­ter an, such­te sei­ne unzäh­li­gen Noti­zen und Manu­skript­sei­ten zusam­men, ord­ne­te alles auf dem Schreib­tisch an und schrieb einen zwei­sei­ti­gen Brief, den er oben­auf leg­te. Dann ging er quer durchs Haus auf die Veran­da und erhäng­te sich an einem Dach­bal­ken – nie wie­der Tablet­ten. Es war, wie sein Bio­graph D. T. Max schrieb, »nicht das Ende, das irgend jemand für ihn gewollt hat­te, son­dern jenes, das er selbst gewählt hat­te«. Wal­lace war 46 Jah­re alt. Einer der letz­ten Sät­ze sei­ner nach­ge­las­se­nen Frag­ment­samm­lung Der blei­che König, die nicht abschlie­ßen zu kön­nen ihn in eine fata­le Abwärts­spi­ra­le der Min­der­wer­tig­keits­ge­füh­le gestürzt hat­te, lau­tet: »Da wir alle atmen, die gan­ze Zeit, ist es selt­sam, wenn jemand anders uns anweist, wie und wann wir atmen sol­len.« Wenn das nicht iro­nisch ist …

Böse Zun­gen haben sei­nen Sui­zid gar als zynisch bezeich­net: Der zwang­haft auf sei­ne Außen­wir­kung fixier­te Wal­lace habe die »Ver­ewi­gung« als Opfer der Depres­si­on dem all­mäh­li­chen Ver­eb­ben sei­nes lite­ra­ri­schen Ruhms vor­ge­zo­gen. Häu­fi­ger ist aller­dings, daß Schrift­stel­ler kurz vor oder nach ihrem gro­ßen Erfolg tra­gisch ver­ster­ben. Man den­ke an den japa­ni­schen moder­nen Klas­si­ker Osa­mu Dazai (1909 – 1948) mit sei­nem kur­zen Leben vol­ler Wohl­stands­ver­wahr­lo­sung, Depres­sio­nen, Sucht und Sui­zid­ver­su­chen, der bin­nen Jah­res­frist nach sei­nem gro­ßen lite­ra­ri­schen Durch­bruch den halb­au­to­bio­gra­phi­schen Roman Gezeich­net über einen empa­thie- und bezie­hungs­un­fä­hi­gen Mann ver­faß­te und sich anschlie­ßend mit sei­ner Gelieb­ten in einem Kanal ertränkte.

Oder an den Chi­le­nen Rober­to Bola­ño (1953 – 2003), der nur vier Jah­re nach dem ers­ten Auf­wind sei­ner Lauf­bahn an Leber­ver­sa­gen starb, weil ihm nicht recht­zei­tig ein Trans­plan­tat zuge­wie­sen wur­de – und der mit dem hin­ter­las­se­nen Epi­so­den­ro­man 2666 post­hum zu welt­wei­ter Bekannt­heit als »Legen­de der latein­ame­ri­ka­ni­schen Lite­ra­tur« (FAZ) gelang­te. Was das kur­ze Leben David Fos­ter Wal­laces von die­sen Bei­spie­len abhebt, ist sei­ne authen­ti­sche Suche nach Sinn zu Beginn einer Zeit, die die­sen durch blo­ßen Kon­sum zu erset­zen such­te und bis heu­te damit durch­kommt. Sei­ne aktu­el­len Nach­fah­ren im Bereich der non­kon­for­men US-Nach­wuchs­bel­le­tris­tik, sowohl in Lang­form (Mar­ty Phil­lips: Mill­en­ni­um, Dan Bal­tic: NUTCRANKR) als auch bei den Kurz­ge­schich­ten (Shawn Bell: Post–), machen eines klar: Solan­ge die­se Leer­stel­le offen­ge­hal­ten wird, kann »DFW« kaum veralten.

Nils Wegner

Nils Wegner ist studierter Historiker, lektorierte 2015–2017 bei Antaios, IfS und Sezession und arbeitet als Übersetzer.

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