Wesentliche Unterscheidung

-- von Uwe Jochum

PDF der Druckfassung aus Sezession 117/ Dezember 2023

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Reden ist Unter­schei­den. Wenn wir nicht mehr unter­schei­den kön­nen, dann kön­nen wir auch nicht mehr reden.

Das post­mo­der­ne Den­ken und der aus ihm her­vor­ge­gan­ge­ne Wokeis­mus behaup­ten hin­ge­gen, wir müß­ten das binä­re Unter­schei­den – also das Abhe­ben von etwas als etwas vor dem Hin­ter­grund eines ande­ren – blei­ben las­sen, denn alles Unter­schei­den sei dis­kri­mi­nie­rend. Und was dis­kri­mi­nie­rend sei, sei unterdrückend.

Man zwin­ge näm­lich durch das Unter­schei­den und folg­lich durch das Dis­kri­mi­nie­ren ein Etwas in die Rol­le eines fixen Etwas, und das mache es unmög­lich, daß die­ses Etwas auch anders wer­den oder zumin­dest unter neu­em Licht als ein ande­res erschei­nen kön­ne. Im Unter­schei­den, so scheint man zu mei­nen, ver­stei­ne­re die Welt zu har­ten Unter­schie­den, die uns allen den frei­en Atem näh­men, uns und die Welt zu verändern.

Nun machen wir aber bestän­dig Unter­schie­de, wenn wir reden. Wir nen­nen die Stra­ßen­bahn »Stra­ßen­bahn« und nicht »Kamel«, wir nen­nen den Hund »Hund« und nicht »Kat­ze«, und wir mei­nen, das müs­se so sein, weil die Stra­ßen­bahn kein Kamel und der Hund kei­ne Kat­ze sei. Und schon wer­den wir der Nai­vi­tät geschol­ten: Das sei­en alles nur Wör­ter für Din­ge und Sach­ver­hal­te, sagt man uns; und da die­se Wör­ter mit den Din­gen und Sach­ver­hal­ten nicht fest ver­drah­tet sei­en, kön­ne man sie jeder­zeit auch ändern.

Ob also ein Hund ein Hund sei, hän­ge nicht davon ab, ob der Hund wirk­lich ein Hund sei, son­dern davon, daß eine Sprach­ge­mein­schaft irgend­wann ein­mal ent­schie­den habe, daß ein Hund »Hund« hei­ßen sol­le. Die­se Ent­schei­dung wie­der­um sei nicht nach lan­gen Bera­tun­gen gefal­len, son­dern beru­he letzt­lich auf Macht­pro­zes­sen: Wie wir etwas nenn­ten, hän­ge davon ab, wel­che Macht uns die Benen­nung auf­ge­nö­tigt habe.

Aus die­ser Per­spek­ti­ve wird die Wahr­heits­fra­ge – ob der Hund wirk­lich ein Hund sei – ersetzt durch die Macht­fra­ge: Wel­che Macht hat uns dazu gebracht, den Hund »Hund« zu nen­nen? Seit­her wer­den wis­sen­schaft­li­che Debat­ten (und nicht nur die­se) von einer Logik des Ver­dachts regiert: Jeder Anspruch, etwas Wah­res zu sagen, wird abge­wie­sen und durch den Anspruch ersetzt, die Moti­ve des Wahr-Sagens zu ent­hül­len und dar­auf­hin zu prü­fen, ob das Gesag­te mög­lichst dis­kri­mi­nie­rungs­frei ist.

Da man dabei aber immer wie­der ent­deckt, daß das Ver­mei­den eines Unter­schieds und also einer Dis­kri­mi­nie­rung an irgend­ei­ner Stel­le dann doch etwas von etwas unter­schei­det, dreht sich seit­her das Rad der Ver­däch­ti­gun­gen, und die Wahr­heits­fra­ge wird gänz­lich zur Moral­fra­ge. Näm­lich zu der Fra­ge, wie ein dis­kri­mi­nie­rungs­frei­er Dis­kurs zu füh­ren ist, der nur als dis­kri­mi­nie­rungs­frei­er Dis­kurs auch wahr sein kann und sich in dem Moment als falsch ent­hüllt, da er unter­schei­dend dis­kri­mi­niert. Wird folg­lich, in wel­cher Debat­te auch immer, auch nur die lei­ses­te Spur einer Unter­schei­dung ent­deckt, wird aus dem Unter­schei­den ein Dis­kri­mi­nie­ren und aus dem Dis­kri­mi­nie­ren ein macht­ba­siert-oppres­si­ves Spre­chen, das den Ansprü­chen auf Dis­kri­mi­nie­rungs­frei­heit nicht genüge.

Wenn es gelingt, ein Spre­chen der Dis­kri­mi­nie­rung zu über­füh­ren, weil irgend­wo in der Rede ein Unter­schied steckt, wird aus dem Ver­feh­len des Anspruchs auf dis­kri­mi­nie­rungs­frei­es Spre­chen der Vor­wurf der grund­le­gends­ten aller Sprach- und Macht­sün­den: nicht dis­kri­mi­nie­rungs­frei, son­dern oppres­siv gespro­chen zu haben. Und folg­lich wird der Spre­cher in die Höl­le ver­bannt: in die aka­de­mi­sche Höl­le des hin­fort Beschwie­ge­nen, in die gesell­schaft­li­che Höl­le des ab jetzt Gecancelten.

Seit­dem die Din­ge sich in die­ser Wei­se ent­wi­ckelt haben, dreht sich alles nur noch um »Nar­ra­ti­ve«, also »Erzäh­lun­gen« von einer Wirk­lich­keit, von der nie­mand mehr wis­sen will, wie sie wirk­lich ist, weil sie, so mei­nen jetzt alle, als sol­che gar nicht sag­bar sei, son­dern eben im Spre­chen und Schrei­ben der Men­schen nar­ra­tiv erzeugt wer­de – wes­halb alles dar­auf ankom­me, das Nar­ra­tiv abso­lut dis­kri­mi­nie­rungs­frei zu hal­ten, denn nur das dis­kri­mi­nie­rungs­freie Nar­ra­tiv kön­ne über­haupt wahr sein, näm­lich in dem Sin­ne, daß es die Wirk­lich­keit nicht durch Dis­kri­mi­nie­rungs- und also Macht­pro­zes­se verzerre.

Geht ein sol­ches Spre­chen dann an irgend­ei­ner Stel­le nicht auf, weil das, was man sagt, mit der Wirk­lich­keit nicht har­mo­niert, wird die Dis­har­mo­nie zwi­schen Spre­chen und Wirk­lich­keit nicht als Falsch­heit des Gespro­che­nen aus­ge­legt, son­dern als Man­gel des Nar­ra­tivs. Es sei, so meint man, nur noch nicht mäch­tig genug, um die Wirk­lich­keit unter sei­ne dis­kri­mi­nie­rungs­freie Knu­te zu zwin­gen. Und es sei des­halb nicht mäch­tig genug, weil noch viel zu vie­le der Mei­nung anhin­gen, das Spre­chen müs­se wirk­lich­keits­ad­äquat sein.

Es kommt folg­lich in die­ser Sicht dar­auf an, den Men­schen ihr fal­sches, wirk­lich­keits­ad­äqua­tes Spre­chen und Schrei­ben abzu­ge­wöh­nen, not­falls durch Sprach­ver­bo­te und Rede­sank­tio­nen, und bes­ser noch juris­tisch, indem man ein Spre­chen, das dem gewünsch­ten Nar­ra­tiv nicht ent­spricht, als dis­kri­mi­nie­ren­des Spre­chen mar­kiert und als »Het­ze« straf­recht­lich verfolgt.

Das ist die Lage. Sie ist ein Rück­fall. Denn für jedes Spre­chen und Schrei­ben gilt, daß es Unter­schie­de machen muß. Nur so kann über­haupt etwas Sinn­vol­les gesagt wer­den. Die in den letz­ten Jah­ren sich ver­stär­ken­den Krie­ge um aller­lei »Nar­ra­ti­ve« sind von hier aus gera­de nicht als ein Aus­weg aus dem Dis­kri­mi­nie­ren zu begrei­fen, son­dern als ein Irr­weg in den nicht nur sprach­li­chen Bür­ger­krieg, der den Kon­takt zur Wirk­lich­keit ver­lo­ren hat und sich nur noch um sich selbst dreht, weil er nur noch Nar­ra­ti­ve und Macht kennt. Die Wirk­lich­keit kennt er nicht mehr und auch nicht den Sinn der Welt, der von sich aus besteht und auf uns zukommt, wenn wir uns die Mühe machen, auf ihn zuzugehen.

Wer daher den Rück­fall und den aus dem Rück­fall wach­sen­den Bür­ger­krieg ver­mei­den will, wird sich an jene Stel­le bege­ben müs­sen, an der die Moder­ne auf einen Irr­weg und die Post­mo­der­ne auf einen Abweg gera­ten ist. Die­se Stel­le ist jene, an der man zu mei­nen begann, daß Spra­che und Wirk­lich­keit nichts mit­ein­an­der zu tun hät­ten, Spra­che nur Eti­ket­ten an Sach­ver­hal­te kle­be, die jeder­zeit auch ein ande­res Eti­kett tra­gen könn­ten. Es ist die Stel­le, an der man zu mei­nen begann, daß alles irgend­wie auch anders hei­ßen kön­ne und wir in unse­rem Spre­chen und Den­ken nicht in der Lage sei­en, Sach­hal­ti­ges über die Wirk­lich­keit als sol­che auszusagen.

Geht man von der Stel­le, an der die Moder­ne falsch abge­bo­gen ist, einen Schritt zurück, dann ste­hen wir in einer von Aris­to­te­les gebahn­ten Spur, die über Tho­mas von Aquin und Meis­ter Eck­hart bis zu Hegel führt und mit der Auf­schrift »objek­ti­ver Idea­lis­mus« in eine Schub­la­de gesteckt und lie­gen­ge­las­sen wur­de. Öff­nen wir die­se Schub­la­de und neh­men wir her­aus, was sich dar­in befindet.

Wir fin­den dann ein Spre­chen über etwas, das sich für das inter­es­siert, was die­ses Etwas jeweils ist. Im Unter­schied aber zu dem, was unse­re Moder­nen, Post­mo­der­nen und Woken mei­nen, hieß das nie­mals, daß etwas als etwas im Unter­schei­den von ande­rem in sei­nem stei­ner­nen und unver­än­der­ba­ren Sein fest­ge­schrie­ben wer­de. Es hieß viel­mehr, zu unter­schei­den, ob etwas als die­ses Etwas sich über­haupt ver­än­dern und in wel­cher Hin­sicht es sich ver­än­dern kön­ne – und in wel­cher Hin­sicht es sich nicht ver­än­de­re und es selbst bleibe.

So hat man natür­lich immer klar gese­hen, daß etwas durch­aus anders wer­den kann, aber nur im Rah­men des­sen, was es ist. Ein Bei­spiel: Eine rote Rose kann auch braun wer­den, näm­lich dann, wenn sie ver­welkt. Dann ist sie kei­ne rote Rose mehr, aber immer noch eine Rose, näm­lich eine brau­ne Rose, die vor eini­gen Tagen noch rot war. Das heißt, wir haben hier einen Über­gang inner­halb eines vor­ge­ge­be­nen Ent­wick­lungs­pfa­des, der für Rosen typisch ist: daß sie, wenn sie ver­wel­ken, ihre Far­be verändern.

Und eben­so klar hat man immer gese­hen, daß etwas nicht zu etwas wer­den kann, was in die­sem Etwas nicht als Ent­wick­lungs­mög­lich­keit ange­legt ist. Man sag­te dann: Das Wesen einer Sache kann nicht gegen ein ande­res Wesen aus­ge­tauscht wer­den. So kann die oben gedach­te Rose nie­mals zu einer Tul­pe wer­den, denn der Ent­wick­lungs­pfad der Rose ist der Rosen­pfad, der Ent­wick­lungs­pfad der Tul­pe ist hin­ge­gen der Tul­pen­pfad, und bei­de Pfa­de kreu­zen sich nicht.

Das gilt von allem, was ist, von allen Lebe­we­sen und natür­lich auch vom Men­schen: Ein Mann ent­wi­ckelt sich auf dem für Män­ner typi­schen Ent­wick­lungs­pfad, und dabei kann er nie­mals zu einer Frau wer­den, genau­so­we­nig wie eine Frau zu einem Mann wer­den kann. Eine Frau kann nur inner­halb des Ent­wick­lungs­pfa­des für Frau­en bestimm­te Ent­wick­lun­gen for­cie­ren oder ver­hin­dern, aber auch da sind ihr enge Gren­zen gesetzt, denn der Ein­griff des Men­schen in den typi­schen Ent­wick­lungs­pfad bringt immer Neben­wir­kun­gen her­vor, die die wei­te­re Ent­wick­lung beeinflussen.

Wer als Frau bei­spiels­wei­se eine Hor­mon­pil­le nimmt, beein­flußt den natür­li­chen Ent­wick­lungs­pfad, indem sie mit der Ein­nah­me womög­lich eine Schwan­ger­schaft ver­mei­det, aber zugleich ein höhe­res Krebs­ri­si­ko in Kauf nimmt. Schwan­ger­schaft und Krebs gehö­ren aber bei­de zum Ent­wick­lungs­pfad einer Frau, sie sind in die­sem Pfad mög­lich. Ob sie auch wahr­schein­lich sind, ist eine ganz ande­re Fra­ge. Sie hän­gen von kon­kre­tem Han­deln und kon­kre­ten Umstän­den ab, etwa davon, ob eine Frau, die wie alle Frau­en die Mög­lich­keit zum Schwan­ger­wer­den hat, über­haupt einem Mann begeg­net und mit ihm Ver­kehr hat.

Die Moder­ne und erst recht die Post­mo­der­ne ver­ken­nen den Unter­schied zwi­schen die­sen bei­den Unter­schie­den von »Unter­schied«: daß etwas im Rah­men sei­nes Ent­wick­lungs­pfa­des anders wer­den und daher sich von sich in gewis­ser Wei­se unter­schei­den kann (die wel­ken­de Rose) – und daß etwas nie­mals ein ande­res Wesen wer­den kann (das Wesen der Rose kann nicht das Wesen einer Tul­pe wer­den, das Wesen des Man­nes nicht das Wesen einer Frau, sie sind in ihrem Wesen auf immer unterschieden).

Daher ist das, was uns seit eini­gen Jahr­hun­der­ten mit zuneh­men­der und inzwi­schen pani­sche Züge anneh­men­der Laut­stär­ke gesagt wird, objek­tiv unwahr. Und weil es objek­tiv unwahr ist, führt es zu einer Kata­stro­phe, wenn man die genann­ten Unter­schie­de im prak­ti­schen Leben bei­sei­te wischt: Dann kann man anfan­gen, am Wesen eines Lebe­we­sens her­um­zu­ma­ni­pu­lie­ren, in der irri­gen Vor­stel­lung, daß etwa das Abschnei­den der weib­li­chen Brüs­te aus der Frau einen Mann mache. In Wahr­heit macht es aber aus der Frau nichts ande­res als eine in ihrer Ent­wick­lungs­mög­lich­keit ein­ge­schränk­te Frau. Nie mehr wird sie einem Kind die Brust geben können.

Genau bese­hen, haben wir daher in dem Den­ken, das sach­hal­ti­ges Unter­schei­den ver­mei­den will und über­all Kämp­fe um »Nar­ra­ti­ve« führt, nichts wei­ter als ein rein tech­ni­sches Den­ken auf der Ebe­ne der Mach­bar­kei­ten und Machen­schaf­ten. Es ver­stellt das Sein; es ist, heid­eg­ge­risch gespro­chen, eine Apo­lo­gie des Gestells, die sich in unse­rer Epo­che auf den mensch­li­chen Kör­per wen­det und ihn zer­stört – und damit das Wesen des Men­schen angreift.

Das Wesen jedoch ist ewig, es ist nicht ver­än­der­bar. Man kann es eine Zeit­lang ver­hül­len und ver­ber­gen, aber es mel­det sich bei jeder sich bie­ten­den Gele­gen­heit. Daher die zuneh­men­de Wut der post­mo­dern-woken Mani­pu­la­teu­re des Seins, wenn sie erken­nen, daß sie immer noch in ihrem alten Wesen fest­sit­zen und trotz der zehn­ten Ope­ra­ti­on noch nicht von der Frau zum Mann gewor­den sind. Also sinnt man auf noch kom­ple­xe­re Ope­ra­tio­nen und auf noch kom­ple­xe­re Ideo­lo­gie­ar­beit, um die Leu­te hin­ters Licht und auf den Weg zu füh­ren, der vom Sein und damit vom Leben weg­führt, aber das Nar­ra­tiv erhält.

Es gibt eine schrä­ge Notiz Ernst Jün­gers, die ich als Hin­weis auf den Zusam­men­hang von indus­tri­el­ler Ver­nut­zung des Wesens und Zer­stö­rung des Lei­bes durch Ver­mei­dung des wirk­lich­keits­ad­äqua­ten Unter­schei­dens lese. Die Notiz fin­det sich in dem kur­zen Text »Über den Schmerz« und lau­tet: »Es liegt der merk­wür­di­ge Gedan­ke nahe, daß die Ent­de­ckung des Arbei­ters von der Ent­de­ckung eines drit­ten Geschlech­tes beglei­tet wird.«

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