Er spielte Klavier wie ein junger Gott, schrieb Musikkritiken und komponierte elegische Lieder für Solostimme. Er war ein großer Verehrer von Gustav Mahler, ebenso von dessen Frau Alma, der er sein Büchlein Über Erwerbung und Vererbung des musikalischen Talentes widmete.
Nach Mahlers Tod drohte er mehrfach, sich am Grabe ihres Gatten zu erschießen, sollte sie seine Liebe nicht erwidern. Die Rede ist von dem österreichischen Biologen Paul Kammerer (1880 – 1926), der als »zweiter Darwin« international für Furore sorgte und wenig später den größten Wissenschaftsskandal seiner Zeit auslöste. Es ist die tragische Geschichte eines von humanistischen Idealen durchdrungenen Gelehrten, dessen ketzerische Ideen und sein eigener komplexer Charakter ihm zum Fallstrick wurden.
Seine Laufbahn begann er als wissenschaftlicher Assistent von Hans Leo Przibram an der biologischen Versuchsanstalt im Wiener Prater. Dieses »Vivarium« genannte Großlabor war eine der ungewöhnlichsten akademischen Einrichtungen Österreichs. Mit moderner Ausstattung und innovativen Konzepten bildete es die Avantgarde in der experimentellen Biologie. Man arbeitete interdisziplinär, als dieser Begriff noch unbekannt war. Es wehte ein offener und freier Forschergeist. Statt tote Tiere zu sezieren, setzte man auf behutsame Experimente mit lebenden Exemplaren.
Seine Tätigkeit im Vivarium verschaffte Kammerer ein außerordentliches Ansehen, nicht nur unter Kollegen. Er verstand es, auch ein Laienpublikum mit seinen mitreißenden Vorträgen zu erfreuen, was ihm zu großer Popularität verhalf. Zahlreich waren seine Fachpublikationen und seine gemeinverständlichen Abhandlungen, die er in wenigen Jahren zu Papier brachte. Sein Arbeitseifer grenzte an Besessenheit. Sein Lehrbuch Allgemeine Biologie (1915) galt als Standardwerk.
Hartnäckig suchte er nach einem wissenschaftlichen Beweis dafür, daß es keine Zufälle gibt. Und fand ihn im »Gesetz der Serie« – einem universellen Naturgesetz, das Phänomene, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben, im Sinne einer höheren Ordnung zusammenführt. Eine Idee, die später C. G. Jung zu seiner »Synchronizität« inspirierte.
Kammerers Vielseitigkeit war sprichwörtlich. Mit seiner schillernden Persönlichkeit prägte er die intellektuelle und gesellschaftliche Elite Wiens in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg mit. Er pflegte Umgang mit Koryphäen des Geistes und mit Künstlern, er war ja selbst einer. Aber auch Exzentriker, Freidenker, Frauenheld. Alma Mahler, die er überredete, vorübergehend seine Gehilfin zu werden, ließ er im Vivarium Gottesanbeterinnen mit Mehlwürmern füttern. Er wollte die Frage klären, ob die männerverschlingenden Weibchen bei der Häutung ihr Gedächtnis verlieren.
Das Hauptanliegen seiner Arbeit jedoch war ein anderes: Kammerer fühlte sich berufen, die entscheidende Rolle der Umweltanpassungen in der Evolution herauszuarbeiten. Es ging ihm darum, die These von der »Vererbung erworbener Eigenschaften durch planmäßige Züchtung« wissenschaftlich abzustützen. Zu diesem Zweck erwiesen sich seine liebsten Freunde, die Froschlurche, Molche und Salamander, als verläßliche Versuchsobjekte.
Veränderte Kammerer ihre Lebens- und Fortpflanzungsbedingungen, bildeten sie organische Merkmale aus, die sie ursprünglich nicht besaßen, und vererbten diese sogar an die nachfolgende Generation. So gelang es ihm, bei Alpen- und Feuersalamandern die Farbmuster, je nach Bodenbeschaffenheit, zu variieren. Schlauchseescheiden entwickelten ihm zuliebe längere Trichter. Die blinden Grottenolme, die in Höhlen leben, setzte er einer Rotlichtbestrahlung aus, und ihnen wuchsen funktionstüchtige Augen. »Und wen sehen sie dann? – Den Kammerer!« soll Oskar Kokoschka gewitzelt haben.
Für derart komplizierte und langwierige Experimente brauchte es Überzeugtheit, einen langen Atem und vor allem ein besonderes Geschick mit den Tieren, die man in mehreren Generationenfolgen beobachten mußte, was sich über Jahre, wenn nicht Jahrzehnte hinziehen konnte. Über all diese – mehr angeborenen statt vererbten – Eigenschaften verfügte im Vivarium nur einer: der »Tiermagier« Kammerer.
Sein berühmtestes Experiment, mit dem er sich in die Geschichte der Zoologie einschreiben sollte, war ein sonderbares Geschöpf: die Geburtshelferkröte (Alytes). Dies ist eine Krötenart, die, anders als bei Amphibien üblich, ihr Fortpflanzungsspiel ausschließlich an Land verrichtet. Durch schrittweise Erhöhung der Außentemperatur zwang Kammerer seine Alytes-Pärchen dazu, sich im (kühlen) Wasser zu paaren. Nach wenigen Generationen bildeten die Männchen etwas aus, was sie von Haus aus nicht hatten: hornige, dunkle Verdickungen, sogenannte Brunftschwielen an den Fingerinnenseiten. Die brauchten sie, um bei der Kopulation im Wasser nicht vom glitschigen Weibchen abzurutschen. Insgesamt soll ihm die Züchtung von sechs aufeinanderfolgenden Generationen der Geburtshelferkröte mit dieser Eigentümlichkeit gelungen sein, bevor die Linie ausstarb. Niemand später zeigte sich in der Lage, die Versuchsanordnungen zu wiederholen, obwohl detaillierte Beschreibungen vorlagen.
Kammerer gehörte zu jenen Forschern, die gegenüber dem Darwinismus eine ablehnende Haltung einnahmen. Hierbei ging es nicht um die Infragestellung der Evolutionstheorie als solcher, sondern um ein (scheinbar) winziges Detail: Daß die Entstehung der Arten auf spontan entstandenen Mutationen plus Auslese gründen, also durch blinden Zufall regiert werden sollte, das weigerte sich der Biologe anzuerkennen. Zufall war eine Kategorie, die der Sinnsucher Kammerer nicht duldete.
Statt dessen präferierte er die Ansichten von Jean-Baptiste de Lamarck, der im Jahr 1809 in seinen Vererbungsgesetzen behauptet hatte, daß jede Evolution von der »Vererbung erworbener Eigenschaften« getragen werde. Das bedeutete, daß all die nützlichen Anpassungsleistungen, die eine Elterngeneration erbracht hatte, erhalten blieben und in das Erbgut eindrangen, um an die Folgegeneration weitergegeben zu werden. Kammerer war beseelt von der Vorstellung, Lamarcks Theorie mit empirischen Methoden bestätigen zu können.
Das geistige Duell zwischen den Anhängern Lamarcks und jenen Darwins, die an der Selektionstheorie festhielten, war zu Beginn der 1920er Jahre ein Schauspiel, das mit großer Leidenschaft ausgetragen wurde – wenn auch nicht mit der gleichen Erbitterung und politischen Indienstnahme wie zwei Jahrzehnte später in der Zeit der totalitaristischen Zuspitzungen. Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts war die wissenschaftliche Diskussion über die Vererbung erworbener Eigenschaften noch ergebnisoffen und wurde unter Forschern mit sportlichem Elan betrieben. Die Existenz der DNS war unbekannt, ein akademisches Dogma über die richtige Lesart existierte nicht.
Was den Streit allerdings schon damals mit Gift durchtränkte, war nicht der Erkenntnismarathon unter Experten, sondern die Ableitung einer zivilisatorischen Notwendigkeit aus den Forschungsergebnissen. Denn die Implikationen der jeweiligen Hypothese und die daraus zu ziehenden Schlüsse auf menschliche Populationen waren von Anfang an mit ideologischer Bedeutung aufgeladen. So hatten auf der einen Seite die Befürworter einer sozialstaatlichen Agenda das politische Bestreben, durch Veränderung der Lebensumstände eine glückliche Gesellschaft hervorzubringen, die sich bis in alle Zukunft fortpflanzt.
Auf der anderen Seite standen die Sozialdarwinisten und die Eugeniker, aus denen sich bald die Rassenideologen formieren sollten, die daran festhielten, daß der Abstammung (dem unveränderlichen Gen) eine Absolutheit zukomme, an der nicht zu rütteln sei. Kammerer, der von einem »planbewußt« herstellbaren »ethischen Gesamtwillen zu gegenseitiger Hilfe« träumte, sprach sich entschieden gegen den genetischen Determinismus aus: »Wir sind nicht Sklaven der Vergangenheit, sondern Werkmeister der Zukunft«, formulierte er sein Credo.
Nachdem der Erste Weltkrieg seine Präparate fast gänzlich zerstört und ihn selbst in Geldnot gestürzt hatte, ließ Kammerer den Mut dennoch nicht sinken. 1923 unternahm er Vortragsreisen durch mehrere Länder. Er präsentierte die vor dem Krieg aufgenommenen Fotografien seiner Versuchstiere in Yale, London und Cambridge. Die Veröffentlichung seiner Untersuchungsergebnisse schlug wie eine Bombe ein. Die internationale Presse jubelte. Schon sah man den Lamarckismus bestätigt. Vor allem in den USA wurde die Entdeckung gefeiert. Der Daily Telegraph titelte: »Auf dem Weg zum Supermenschen. Großartige Entdeckung eines Wissenschaftlers kann uns alle verändern. Genie vererbbar!«
Auch nach Rußland drang sein Ruhm: 1926 wurde Kammerer an die neugegründete Sowjetische Akademie der Wissenschaften in Moskau berufen. Dort sollte er ein biologisches Laboratorium samt Institut aufbauen, mit dem speziellen Auftrag, die Vererbung erworbener Eigenschaften zu erforschen. Es bestand großes Interesse, den Lamarckismus theoretisch bestätigt zu sehen, wenn auch das Schreckgespenst des später (künstlich) installierten Lyssenkoismus noch fern war. Dieser wuchs sich erst in den dreißiger Jahren unter Stalin zu einer politischen Doktrin aus. Die zwanziger Jahre hingegen waren in Rußland von einer relativen Forschungsfreiheit getragen. Kammerer witterte Morgenluft für einen neuen Testlauf seiner Versuche und willigte ein.
Er war auf dem Höhepunkt seiner Karriere angelangt, als erneut Zweifel in der Fachwelt auftraten – die Kontroverse zwischen den Theorien von Lamarck und Darwin wurde wieder angeheizt. Und hier nun begann ein wahrer Alptraum für den berühmten Biologen: Seine unerbittlichsten Widersacher waren der amerikanische Reptilienkundler Gladwyn Noble und der britische Genetiker William Bateson. Noble reiste persönlich nach Wien, um gemeinsam mit Hans Leo Przibram das letzte noch existierende Präparat der Geburtshelferkröte zu untersuchen. Der Aufsatz, der daraufhin im August 1926 in der Fachzeitschrift Nature veröffentlicht wurde, fiel vernichtend aus. Der Experimentator habe Tinte in das Krötenbein gespritzt, um auf seinen Fotos den Eindruck zu erwecken, die Geburtshelferkröten hätten Brunftschwielen ausgebildet, schrieb Noble.
Dies war ein wissenschaftlicher Eklat und besiegelte Kammerers Untergang. Die angebliche Fälschung stellte sich allerdings als so plump heraus, daß unklar war, wie sie die vorangegangene strenge Prüfung von Gutachtern hatte passieren können. Hatte sich jemand nachträglich an dem Präparat zu schaffen gemacht? Bis heute gibt es keine Antwort auf die Frage, ob Kammerer wirklich ein Betrüger war oder ob feindselige Kollegen ihn aus dem Wege schaffen wollten.
Als proklamierter »Halbjude« war er den Anfeindungen von seiten nationalistischer Antisemiten ausgesetzt. Denen war das Engagement des sozialistisch orientierten Forschers gegen Eugenik und jede Art von Rassentheorie ein Dorn im Auge. Im Neo-Lamarckismus sahen sie ein Produkt »liberal-jüdisch-bolschewistischer« Wissenschaft. Nachdrücklich beteuerte Kammerer seine Unschuld, doch das konnte ihn nicht mehr retten. Wenige Tage nach der Veröffentlichung von Nobles Artikel machte der Skandal in Wien die Runde: Der einstige Weltstar der Biologie war als Scharlatan verschrien.
Einzig die Moskauer Akademie hielt an ihrer Einladung fest. Doch das war dem tief Gefallenen kein Trost. Zu sehr hatte sich seine Lage zugespitzt; auch privat war er in Verstrickungen gefangen, aus denen es scheinbar kein Entkommen gab. Was er vor Jahren angedroht hatte, sollte wahr werden – an einem anderen Ort. Kammerer schrieb an die Moskauer Akademie einen Brief mit der Mitteilung seines Rücktritts. Danach begab er sich nach Puchberg am Schneeberg, nahe Wien. Am 23. September 1926 schoß sich der Erniedrigte und Gedemütigte, 46 Jahre alt, mit einem Revolver in die linke Schläfe.
Wie es das Schicksal wollte, lieferte sein wechselvoller, mit einem dramatischen Tod endender Werdegang den Stoff, aus dem die großen Leinwand-Epen gewoben sind. So erschien keine zwei Jahre später in der Sowjetunion der mit großem Pomp inszenierte Kinofilm Salamandra über den berühmten Wissenschaftler, dem so übel mitgespielt worden war. »Drehbuchautor und Regisseur war der Volkskommissar für Erziehung Lunatscharsky, seine Frau spielte die weibliche Hauptrolle. Der Held des Films hatte gegen allerlei Schurkerei reaktionärer Darwinisten zu kämpfen, denen auch noch reaktionäre Mönche Schützenhilfe leisteten«, schrieb später Arthur Koestler in seinem Buch Der Krötenküsser (1971).
In diesem wie ein Thriller aufgezogenen Roman wird der österreichische Forscher als Opfer eines orthodoxen anglo-amerikanischen Wissenschafts-Establishments dargestellt. Koestler, der selbst entschiedener Gegner des »Neo-Darwinismus« war, hatte in Kammerer einen Geistesverwandten gefunden. Ob der Wiener Sonderling tatsächlich ein Fälscher war, konnte auch Koestler nicht endgültig klären. Vielleicht liegt die Wahrheit irgendwo in der Mitte. Denkbar ist, daß der enthusiastische Vollblutforscher nachgeholfen hatte, um seine gewagten Thesen gegen jeden Zweifel abzudichten – seine schwärmerische Voreingenommenheit, getränkt mit den besten Absichten, war mit ihm durchgegangen.
So jedenfalls erklärt es sich Alma Mahler-Werfel in ihren Memoiren: »Ich sage nicht, daß etwas Schwindelhaftes in ihm war; nein, er wünschte die Ergebnisse seiner Forschung so glühend herbei, daß er unbewußt von der Wahrheit abweichen konnte.« Ihre Aufzeichnungen freilich sind ebenfalls ein Zeugnis äußerster Subjektivität und weit davon entfernt, zur Aufklärung dieses seltsam verworrenen Kriminalfalls beizutragen.
Vor einigen Jahren ist das Interesse an Paul Kammerer abermals erwacht. Der chilenische Entwicklungsbiologe Alexander Vargas hat sich die erhaltenen Aufzeichnungen und Daten zu den Versuchsreihen von damals angeschaut und festgestellt, daß Kammerer mit seinen Vermutungen und umstrittenen Theorien gar nicht so falsch lag, womöglich war er seiner Zeit weit voraus. Wie es scheint, hat Kammerer in seinen Beobachtungen ein grundlegendes Konzept der Vererbungslehre entdeckt, das heute unter dem Namen Epigenetik ein recht neues Forschungsgebiet erschließt. Seit neuestem ist die Vererbung erworbener Eigenschaften kein Hirngespinst mehr, sondern mit Hilfe der Molekularbiologie nachweisbar, also mit Werkzeugen, die Kammerer vor hundert Jahren noch nicht zur Verfügung standen. Vargas fordert eine Rehabilitation des geächteten Forschers und eine Wiederaufnahme der von ihm durchgeführten Experimente.
Lebte Paul Kammerer in unseren Tagen, fände er in der Epigenetik zweifellos sein ideales Betätigungsfeld. Die jahrhundertealte Streitfrage, was den Menschen stärker prägt, seine biologische Natur oder die äußeren Einflüsse, scheint, seit sich diese neue Forschungsrichtung etabliert hat, endlich entschieden: Gene und Umwelt, so heißt es, stehen sich nicht unvereinbar gegenüber; beide Komponenten bedingen einander und wirken stets im Zusammenspiel. Einwirkungen von außen drücken dem Erbgut durchaus ihren Stempel auf, jedoch so, daß die DNS-Sequenz des Gens unangetastet bleibt.
Was veränderlich ist – sozusagen stets in Bewegung –, ist der übergeordnete Code, von dem es abhängt, welche Gene aktiviert werden und welche nicht. Weithin wird die Epigenetik als neue »Lebenswissenschaft« gepriesen, die den ausgetretenen Pfad der alten Lehre (der Mensch sei »nichts anderes« als seine Keimbahn) verlassen und die Ära der »Postgenomik« eingeläutet habe. Was allerdings ganz und gar nicht neu ist, sondern ein uralter Hut, ist der mit der Entdeckung epigenetischer Wirkmechanismen verbundene Geist der totalen Machbarkeit, der sich in der Euphorie über die unendliche Formbarkeit des Menschen ausdrückt. Schon werden Stimmen laut, die verkünden, mit der Epigenetik könnten wir unser Erbgut steuern, wir hätten ungeahnte Macht über unsere Gene und die unserer Kinder. So stellt sich die Epigenetik zwar in Opposition zur als einseitig beklagten Genomik, doch letztlich geht es in beiden Ansätzen um die Beherrschung von Mensch und Natur.
Kammerer hat es verstanden, schon zu Lebzeiten beide Ansätze zu verschmelzen: Ihm schwebte ein »biologisches Zeitalter« vor, das mit Hilfe eines noch zu erfindenden Verfahrens, nämlich der »organischen Technik«, verwirklicht werden könne. Dazu sollten neben Milieuverbesserung und Hormonbehandlung auch »Verjüngungstherapien« nach Anregungen des Physiologen Eugen Steinach gehören, die den Alterungsprozeß des Menschen mittels Transplantation von jungen Hoden und Ovarien aufhalten könnten. Der Mensch als modellierbare Biomasse – in diesem Sinne dürfen Kammerers Vorschläge durchaus als Pioniertat für heutige Anthropotechnik und Social Engineering angesehen werden.
Seine Experimente zielten darauf ab, die Gesetze der Evolution und der Vererbbarkeit zu durchschauen, um sie mit »höherer Vernunft« und zum Zwecke einer vermeintlichen Menschheitsverbesserung manipulieren zu können. Es ist der tiefsitzende Wunsch, die Physis des Menschen zu verändern und der Macht des menschlichen Willens unterzuordnen, der die Nährlösung für Utopien und Technokratien jeglicher Art bereitstellt – ob sie nun Kybernetik, Epigenetik oder Transhumanismus heißen.
Der Fall Kammerer veranschaulicht, wie auf Biegen und Brechen eine wissenschaftliche Theorie gefunden und bewiesen werden sollte, die als Grundlage für die Erschaffung eines neuen Menschen und der optimalen Gesellschaft heranzuziehen sei. Er veranschaulicht auch, wie die gegenseitige Durchdringung von Forschung und Weltanschauung zu einer Selbstverständlichkeit zu werden droht, wenn überbordender Idealismus nicht rechtzeitig in die Schranken gewiesen wird. Voraussetzungslose Wissenschaft ist nur unter Voraussetzungen zu haben.