Der Fall Paul Kammerer

-- von Eva Rex

PDF der Druckfassung aus Sezession 117/ Dezember 2023

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Er spiel­te Kla­vier wie ein jun­ger Gott, schrieb Musik­kri­ti­ken und kom­po­nier­te ele­gi­sche Lie­der für Solo­stim­me. Er war ein gro­ßer Ver­eh­rer von Gus­tav Mahler, eben­so von des­sen Frau Alma, der er sein Büch­lein Über Erwer­bung und Ver­er­bung des musi­ka­li­schen Talen­tes widmete.

Nach Mahlers Tod droh­te er mehr­fach, sich am Gra­be ihres Gat­ten zu erschie­ßen, soll­te sie sei­ne Lie­be nicht erwi­dern. Die Rede ist von dem öster­rei­chi­schen Bio­lo­gen Paul Kam­me­rer (1880 – 1926), der als »zwei­ter Dar­win« inter­na­tio­nal für Furo­re sorg­te und wenig spä­ter den größ­ten Wis­sen­schafts­skan­dal sei­ner Zeit aus­lös­te. Es ist die tra­gi­sche Geschich­te eines von huma­nis­ti­schen Idea­len durch­drun­ge­nen Gelehr­ten, des­sen ket­ze­ri­sche Ideen und sein eige­ner kom­ple­xer Cha­rak­ter ihm zum Fall­strick wurden.

Sei­ne Lauf­bahn begann er als wis­sen­schaft­li­cher Assis­tent von Hans Leo Przi­bram an der bio­lo­gi­schen Ver­suchs­an­stalt im Wie­ner Pra­ter. Die­ses »Viva­ri­um« genann­te Groß­la­bor war eine der unge­wöhn­lichs­ten aka­de­mi­schen Ein­rich­tun­gen Öster­reichs. Mit moder­ner Aus­stat­tung und inno­va­ti­ven Kon­zep­ten bil­de­te es die Avant­gar­de in der expe­ri­men­tel­len Bio­lo­gie. Man arbei­te­te inter­dis­zi­pli­när, als die­ser Begriff noch unbe­kannt war. Es weh­te ein offe­ner und frei­er For­scher­geist. Statt tote Tie­re zu sezie­ren, setz­te man auf behut­sa­me Expe­ri­men­te mit leben­den Exemplaren.

Sei­ne Tätig­keit im Viva­ri­um ver­schaff­te Kam­me­rer ein außer­or­dent­li­ches Anse­hen, nicht nur unter Kol­le­gen. Er ver­stand es, auch ein Lai­en­pu­bli­kum mit sei­nen mit­rei­ßen­den Vor­trä­gen zu erfreu­en, was ihm zu gro­ßer Popu­la­ri­tät ver­half. Zahl­reich waren sei­ne Fach­pu­bli­ka­tio­nen und sei­ne gemein­ver­ständ­li­chen Abhand­lun­gen, die er in weni­gen Jah­ren zu Papier brach­te. Sein Arbeits­ei­fer grenz­te an Beses­sen­heit. Sein Lehr­buch All­ge­mei­ne Bio­lo­gie (1915) galt als Standardwerk.

Hart­nä­ckig such­te er nach einem wis­sen­schaft­li­chen Beweis dafür, daß es kei­ne Zufäl­le gibt. Und fand ihn im »Gesetz der Serie« – einem uni­ver­sel­len Natur­ge­setz, das Phä­no­me­ne, die schein­bar nichts mit­ein­an­der zu tun haben, im Sin­ne einer höhe­ren Ord­nung zusam­men­führt. Eine Idee, die spä­ter C. G. Jung zu sei­ner »Syn­chro­ni­zi­tät« inspirierte.

Kam­me­rers Viel­sei­tig­keit war sprich­wört­lich. Mit sei­ner schil­lern­den Per­sön­lich­keit präg­te er die intel­lek­tu­el­le und gesell­schaft­li­che Eli­te Wiens in der Zeit vor dem Ers­ten Welt­krieg mit. Er pfleg­te Umgang mit Kory­phä­en des Geis­tes und mit Künst­lern, er war ja selbst einer. Aber auch Exzen­tri­ker, Frei­den­ker, Frau­en­held. Alma Mahler, die er über­re­de­te, vor­über­ge­hend sei­ne Gehil­fin zu wer­den, ließ er im Viva­ri­um Got­tes­an­be­te­rin­nen mit Mehl­wür­mern füt­tern. Er woll­te die Fra­ge klä­ren, ob die män­ner­ver­schlin­gen­den Weib­chen bei der Häu­tung ihr Gedächt­nis verlieren.

Das Haupt­an­lie­gen sei­ner Arbeit jedoch war ein ande­res: ­Kam­me­rer fühl­te sich beru­fen, die ent­schei­den­de Rol­le der Umwelt­an­pas­sun­gen in der Evo­lu­ti­on her­aus­zu­ar­bei­ten. Es ging ihm dar­um, die The­se von der »Ver­er­bung erwor­be­ner Eigen­schaf­ten durch plan­mä­ßi­ge Züch­tung« wis­sen­schaft­lich abzu­stüt­zen. Zu die­sem Zweck erwie­sen sich sei­ne liebs­ten Freun­de, die Frosch­lur­che, Mol­che und Sala­man­der, als ver­läß­li­che Versuchsobjekte.

Ver­än­der­te Kam­me­rer ihre Lebens- und Fort­pflan­zungs­be­din­gun­gen, bil­de­ten sie orga­ni­sche Merk­ma­le aus, die sie ursprüng­lich nicht besa­ßen, und ver­erb­ten die­se sogar an die nach­fol­gen­de Gene­ra­ti­on. So gelang es ihm, bei Alpen- und Feu­er­sa­la­man­dern die Farb­mus­ter, je nach Boden­be­schaf­fen­heit, zu vari­ie­ren. Schlauch­see­schei­den ent­wi­ckel­ten ihm zulie­be län­ge­re Trich­ter. Die blin­den Grot­ten­ol­me, die in Höh­len leben, setz­te er einer Rot­licht­be­strah­lung aus, und ihnen wuch­sen funk­ti­ons­tüch­ti­ge Augen. »Und wen sehen sie dann? – Den Kam­me­rer!« soll Oskar ­Kokosch­ka gewit­zelt haben.

Für der­art kom­pli­zier­te und lang­wie­ri­ge Expe­ri­men­te brauch­te es Über­zeugt­heit, einen lan­gen Atem und vor allem ein beson­de­res Geschick mit den Tie­ren, die man in meh­re­ren Gene­ra­tio­nen­fol­gen beob­ach­ten muß­te, was sich über Jah­re, wenn nicht Jahr­zehn­te hin­zie­hen konn­te. Über all die­se – mehr ange­bo­re­nen statt ver­erb­ten – Eigen­schaf­ten ver­füg­te im Viva­ri­um nur einer: der »Tier­ma­gi­er« Kammerer.

Sein berühm­tes­tes Expe­ri­ment, mit dem er sich in die Geschich­te der Zoo­lo­gie ein­schrei­ben soll­te, war ein son­der­ba­res Geschöpf: die Geburts­hel­fer­krö­te (Alytes). Dies ist eine Krö­ten­art, die, anders als bei Amphi­bi­en üblich, ihr Fort­pflan­zungs­spiel aus­schließ­lich an Land ver­rich­tet. Durch schritt­wei­se Erhö­hung der Außen­tem­pe­ra­tur zwang Kam­me­rer sei­ne Alytes-Pär­chen dazu, sich im (küh­len) Was­ser zu paa­ren. Nach weni­gen Gene­ra­tio­nen bil­de­ten die Männ­chen etwas aus, was sie von Haus aus nicht hat­ten: hor­ni­ge, dunk­le Ver­di­ckun­gen, soge­nann­te Brunft­schwie­len an den Fin­ge­rin­nen­sei­ten. Die brauch­ten sie, um bei der Kopu­la­ti­on im Was­ser nicht vom glit­schi­gen Weib­chen abzu­rut­schen. Ins­ge­samt soll ihm die Züch­tung von sechs auf­ein­an­der­fol­gen­den Gene­ra­tio­nen der Geburts­hel­fer­krö­te mit die­ser Eigen­tüm­lich­keit gelun­gen sein, bevor die Linie aus­starb. Nie­mand spä­ter zeig­te sich in der Lage, die Ver­suchs­an­ord­nun­gen zu wie­der­ho­len, obwohl detail­lier­te Beschrei­bun­gen vorlagen.

Kam­me­rer gehör­te zu jenen For­schern, die gegen­über dem Dar­wi­nis­mus eine ableh­nen­de Hal­tung ein­nah­men. Hier­bei ging es nicht um die Infra­ge­stel­lung der Evo­lu­ti­ons­theo­rie als sol­cher, son­dern um ein (schein­bar) win­zi­ges Detail: Daß die Ent­ste­hung der Arten auf spon­tan ent­stan­de­nen Muta­tio­nen plus Aus­le­se grün­den, also durch blin­den Zufall regiert wer­den soll­te, das wei­ger­te sich der Bio­lo­ge anzu­er­ken­nen. Zufall war eine Kate­go­rie, die der Sinn­su­cher Kam­me­rer nicht duldete.

Statt des­sen prä­fe­rier­te er die Ansich­ten von Jean-Bap­tis­te de Lamarck, der im Jahr 1809 in sei­nen Ver­er­bungs­ge­set­zen behaup­tet hat­te, daß jede Evo­lu­ti­on von der »Ver­er­bung erwor­be­ner Eigen­schaf­ten« getra­gen wer­de. Das bedeu­te­te, daß all die nütz­li­chen Anpas­sungs­leis­tun­gen, die eine Eltern­ge­nera­ti­on erbracht hat­te, erhal­ten blie­ben und in das Erb­gut ein­dran­gen, um an die Fol­ge­ge­nera­ti­on wei­ter­ge­ge­ben zu wer­den. Kam­me­rer war beseelt von der Vor­stel­lung, Lamarcks Theo­rie mit empi­ri­schen Metho­den bestä­ti­gen zu können.

Das geis­ti­ge Duell zwi­schen den Anhän­gern Lamarcks und jenen Dar­wins, die an der Selek­ti­ons­theo­rie fest­hiel­ten, war zu Beginn der 1920er Jah­re ein Schau­spiel, das mit gro­ßer Lei­den­schaft aus­ge­tra­gen wur­de – wenn auch nicht mit der glei­chen Erbit­te­rung und poli­ti­schen Indienst­nah­me wie zwei Jahr­zehn­te spä­ter in der Zeit der tota­li­ta­ris­ti­schen Zuspit­zun­gen. Im ers­ten Drit­tel des 20. Jahr­hun­derts war die wis­sen­schaft­li­che Dis­kus­si­on über die Ver­er­bung erwor­be­ner Eigen­schaf­ten noch ergeb­nis­of­fen und wur­de unter For­schern mit sport­li­chem Elan betrie­ben. Die Exis­tenz der DNS war unbe­kannt, ein aka­de­mi­sches Dog­ma über die rich­ti­ge Les­art exis­tier­te nicht.

Was den Streit aller­dings schon damals mit Gift durch­tränk­te, war nicht der Erkennt­nis­ma­ra­thon unter Exper­ten, son­dern die Ablei­tung einer zivi­li­sa­to­ri­schen Not­wen­dig­keit aus den For­schungs­er­geb­nis­sen. Denn die Impli­ka­tio­nen der jewei­li­gen Hypo­the­se und die dar­aus zu zie­hen­den Schlüs­se auf mensch­li­che Popu­la­tio­nen waren von Anfang an mit ideo­lo­gi­scher Bedeu­tung auf­ge­la­den. So hat­ten auf der einen Sei­te die Befür­wor­ter einer sozi­al­staat­li­chen Agen­da das poli­ti­sche Bestre­ben, durch Ver­än­de­rung der Lebens­um­stän­de eine glück­li­che Gesell­schaft her­vor­zu­brin­gen, die sich bis in alle Zukunft fortpflanzt.

Auf der ande­ren Sei­te stan­den die Sozi­al­dar­wi­nis­ten und die Euge­ni­ker, aus denen sich bald die Ras­sen­ideo­lo­gen for­mie­ren soll­ten, die dar­an fest­hiel­ten, daß der Abstam­mung (dem unver­än­der­li­chen Gen) eine Abso­lut­heit zukom­me, an der nicht zu rüt­teln sei. Kam­me­rer, der von einem »plan­be­wußt« her­stell­ba­ren »ethi­schen Gesamt­wil­len zu gegen­sei­ti­ger Hil­fe« träum­te, sprach sich ent­schie­den gegen den gene­ti­schen Deter­mi­nis­mus aus: »Wir sind nicht Skla­ven der Ver­gan­gen­heit, son­dern Werk­meis­ter der Zukunft«, for­mu­lier­te er sein Credo.

Nach­dem der Ers­te Welt­krieg sei­ne Prä­pa­ra­te fast gänz­lich zer­stört und ihn selbst in Geld­not gestürzt hat­te, ließ Kam­me­rer den Mut den­noch nicht sin­ken. 1923 unter­nahm er Vor­trags­rei­sen durch meh­re­re Län­der. Er prä­sen­tier­te die vor dem Krieg auf­ge­nom­me­nen Foto­gra­fien sei­ner Ver­suchs­tie­re in Yale, Lon­don und Cam­bridge. Die Ver­öf­fent­li­chung sei­ner Unter­su­chungs­er­geb­nis­se schlug wie eine Bom­be ein. Die inter­na­tio­na­le Pres­se jubel­te. Schon sah man den Lamar­ckis­mus bestä­tigt. Vor allem in den USA wur­de die Ent­de­ckung gefei­ert. Der Dai­ly Tele­graph titel­te: »Auf dem Weg zum Super­men­schen. Groß­ar­ti­ge Ent­de­ckung eines Wis­sen­schaft­lers kann uns alle ver­än­dern. Genie vererbbar!«

Auch nach Ruß­land drang sein Ruhm: 1926 wur­de Kam­me­rer an die neu­ge­grün­de­te Sowje­ti­sche Aka­de­mie der Wis­sen­schaf­ten in Mos­kau beru­fen. Dort soll­te er ein bio­lo­gi­sches Labo­ra­to­ri­um samt Insti­tut auf­bau­en, mit dem spe­zi­el­len Auf­trag, die Ver­er­bung erwor­be­ner Eigen­schaf­ten zu erfor­schen. Es bestand gro­ßes Inter­es­se, den Lamar­ckis­mus theo­re­tisch bestä­tigt zu sehen, wenn auch das Schreck­ge­spenst des spä­ter (künst­lich) instal­lier­ten Lys­sen­ko­is­mus noch fern war. Die­ser wuchs sich erst in den drei­ßi­ger Jah­ren unter Sta­lin zu einer poli­ti­schen Dok­trin aus. Die zwan­zi­ger Jah­re hin­ge­gen waren in Ruß­land von einer rela­ti­ven For­schungs­frei­heit getra­gen. ­Kam­me­rer wit­ter­te Mor­gen­luft für einen neu­en Test­lauf sei­ner Ver­su­che und wil­lig­te ein.

Er war auf dem Höhe­punkt sei­ner Kar­rie­re ange­langt, als erneut Zwei­fel in der Fach­welt auf­tra­ten – die Kon­tro­ver­se zwi­schen den Theo­rien von Lamarck und Dar­win wur­de wie­der ange­heizt. Und hier nun begann ein wah­rer Alp­traum für den berühm­ten Bio­lo­gen: Sei­ne uner­bitt­lichs­ten Wider­sa­cher waren der ame­ri­ka­ni­sche Rep­ti­li­en­kund­ler Glad­wyn Noble und der bri­ti­sche Gene­ti­ker Wil­liam Bate­son. Noble reis­te per­sön­lich nach Wien, um gemein­sam mit Hans Leo Przi­bram das letz­te noch exis­tie­ren­de Prä­pa­rat der Geburts­hel­fer­krö­te zu unter­su­chen. Der Auf­satz, der dar­auf­hin im August 1926 in der Fach­zeit­schrift Natu­re ver­öf­fent­licht wur­de, fiel ver­nich­tend aus. Der Expe­ri­men­ta­tor habe Tin­te in das Krö­ten­bein gespritzt, um auf sei­nen Fotos den Ein­druck zu erwe­cken, die Geburts­hel­fer­krö­ten hät­ten Brunft­schwie­len aus­ge­bil­det, schrieb Noble.

Dies war ein wis­sen­schaft­li­cher Eklat und besie­gel­te Kam­me­rers Unter­gang. Die angeb­li­che Fäl­schung stell­te sich aller­dings als so plump her­aus, daß unklar war, wie sie die vor­an­ge­gan­ge­ne stren­ge Prü­fung von Gut­ach­tern hat­te pas­sie­ren kön­nen. Hat­te sich jemand nach­träg­lich an dem Prä­pa­rat zu schaf­fen gemacht? Bis heu­te gibt es kei­ne Ant­wort auf die Fra­ge, ob Kam­me­rer wirk­lich ein Betrü­ger war oder ob feind­se­li­ge Kol­le­gen ihn aus dem Wege schaf­fen wollten.

Als pro­kla­mier­ter »Halb­ju­de« war er den Anfein­dun­gen von sei­ten natio­na­lis­ti­scher Anti­se­mi­ten aus­ge­setzt. Denen war das Enga­ge­ment des sozia­lis­tisch ori­en­tier­ten For­schers gegen Euge­nik und jede Art von Ras­sen­theo­rie ein Dorn im Auge. Im Neo-Lamar­ckis­mus sahen sie ein Pro­dukt »libe­ral-jüdisch-bol­sche­wis­ti­scher« Wis­sen­schaft. Nach­drück­lich beteu­er­te Kam­me­rer sei­ne Unschuld, doch das konn­te ihn nicht mehr ret­ten. Weni­ge Tage nach der Ver­öf­fent­li­chung von Nobles Arti­kel mach­te der Skan­dal in Wien die Run­de: Der eins­ti­ge Welt­star der Bio­lo­gie war als Schar­la­tan verschrien.

Ein­zig die Mos­kau­er Aka­de­mie hielt an ihrer Ein­la­dung fest. Doch das war dem tief Gefal­le­nen kein Trost. Zu sehr hat­te sich sei­ne Lage zuge­spitzt; auch pri­vat war er in Ver­stri­ckun­gen gefan­gen, aus denen es schein­bar kein Ent­kom­men gab. Was er vor Jah­ren ange­droht hat­te, soll­te wahr wer­den – an einem ande­ren Ort. Kam­me­rer schrieb an die Mos­kau­er Aka­de­mie einen Brief mit der Mit­tei­lung sei­nes Rück­tritts. Danach begab er sich nach Puch­berg am Schnee­berg, nahe Wien. Am 23. Sep­tem­ber 1926 schoß sich der Ernied­rig­te und Gede­mü­tig­te, 46 Jah­re alt, mit einem Revol­ver in die lin­ke Schläfe.

Wie es das Schick­sal woll­te, lie­fer­te sein wech­sel­vol­ler, mit einem dra­ma­ti­schen Tod enden­der Wer­de­gang den Stoff, aus dem die gro­ßen Lein­wand-Epen gewo­ben sind. So erschien kei­ne zwei Jah­re spä­ter in der Sowjet­uni­on der mit gro­ßem Pomp insze­nier­te Kino­film Sala­man­dra über den berühm­ten Wis­sen­schaft­ler, dem so übel mit­ge­spielt wor­den war. »Dreh­buch­au­tor und Regis­seur war der Volks­kom­mis­sar für Erzie­hung Lunat­schars­ky, sei­ne Frau spiel­te die weib­li­che Haupt­rol­le. Der Held des Films hat­te gegen aller­lei Schur­ke­rei reak­tio­nä­rer Dar­wi­nis­ten zu kämp­fen, denen auch noch reak­tio­nä­re Mön­che Schüt­zen­hil­fe leis­te­ten«, schrieb spä­ter Arthur Koest­ler in sei­nem Buch Der Krö­ten­küs­ser (1971).

In die­sem wie ein Thril­ler auf­ge­zo­ge­nen Roman wird der öster­rei­chi­sche For­scher als Opfer eines ortho­do­xen ang­lo-ame­ri­ka­ni­schen Wis­sen­schafts-Estab­lish­ments dar­ge­stellt. Koest­ler, der selbst ent­schie­de­ner Geg­ner des »Neo-Dar­wi­nis­mus« war, hat­te in Kam­me­rer einen Geis­tes­ver­wand­ten gefun­den. Ob der Wie­ner Son­der­ling tat­säch­lich ein Fäl­scher war, konn­te auch Koest­ler nicht end­gül­tig klä­ren. Viel­leicht liegt die Wahr­heit irgend­wo in der Mit­te. Denk­bar ist, daß der enthu­si­as­ti­sche Voll­blut­for­scher nach­ge­hol­fen hat­te, um sei­ne gewag­ten The­sen gegen jeden Zwei­fel abzu­dich­ten – sei­ne schwär­me­ri­sche Vor­ein­ge­nom­men­heit, getränkt mit den bes­ten Absich­ten, war mit ihm durchgegangen.

So jeden­falls erklärt es sich Alma Mahler-Wer­fel in ihren Memoi­ren: »Ich sage nicht, daß etwas Schwin­del­haf­tes in ihm war; nein, er wünsch­te die Ergeb­nis­se sei­ner For­schung so glü­hend her­bei, daß er unbe­wußt von der Wahr­heit abwei­chen konn­te.« Ihre Auf­zeich­nun­gen frei­lich sind eben­falls ein Zeug­nis äußers­ter Sub­jek­ti­vi­tät und weit davon ent­fernt, zur Auf­klä­rung die­ses selt­sam ver­wor­re­nen Kri­mi­nal­falls beizutragen.

Vor eini­gen Jah­ren ist das Inter­es­se an Paul Kam­me­rer aber­mals erwacht. Der chi­le­ni­sche Ent­wick­lungs­bio­lo­ge Alex­an­der Var­gas hat sich die erhal­te­nen Auf­zeich­nun­gen und Daten zu den Ver­suchs­rei­hen von damals ange­schaut und fest­ge­stellt, daß Kam­me­rer mit sei­nen Ver­mu­tun­gen und umstrit­te­nen Theo­rien gar nicht so falsch lag, womög­lich war er sei­ner Zeit weit vor­aus. Wie es scheint, hat Kam­me­rer in sei­nen Beob­ach­tun­gen ein grund­le­gen­des Kon­zept der Ver­er­bungs­leh­re ent­deckt, das heu­te unter dem Namen Epi­ge­ne­tik ein recht neu­es For­schungs­ge­biet erschließt. Seit neu­es­tem ist die Ver­er­bung erwor­be­ner Eigen­schaf­ten kein Hirn­ge­spinst mehr, son­dern mit Hil­fe der Mole­ku­lar­bio­lo­gie nach­weis­bar, also mit Werk­zeu­gen, die Kam­me­rer vor hun­dert Jah­ren noch nicht zur Ver­fü­gung stan­den. Var­gas for­dert eine Reha­bi­li­ta­ti­on des geäch­te­ten For­schers und eine Wie­der­auf­nah­me der von ihm durch­ge­führ­ten Experimente.

Leb­te Paul Kam­me­rer in unse­ren Tagen, fän­de er in der Epi­ge­ne­tik zwei­fel­los sein idea­les Betä­ti­gungs­feld. Die jahr­hun­der­te­al­te Streit­fra­ge, was den Men­schen stär­ker prägt, sei­ne bio­lo­gi­sche Natur oder die äuße­ren Ein­flüs­se, scheint, seit sich die­se neue For­schungs­rich­tung eta­bliert hat, end­lich ent­schie­den: Gene und Umwelt, so heißt es, ste­hen sich nicht unver­ein­bar gegen­über; bei­de Kom­po­nen­ten bedin­gen ein­an­der und wir­ken stets im Zusam­men­spiel. Ein­wir­kun­gen von außen drü­cken dem Erb­gut durch­aus ihren Stem­pel auf, jedoch so, daß die DNS-Sequenz des Gens unan­ge­tas­tet bleibt.

Was ver­än­der­lich ist – sozu­sa­gen stets in Bewe­gung –, ist der über­ge­ord­ne­te Code, von dem es abhängt, wel­che Gene akti­viert wer­den und wel­che nicht. Weit­hin wird die Epi­ge­ne­tik als neue »Lebens­wis­sen­schaft« geprie­sen, die den aus­ge­tre­te­nen Pfad der alten Leh­re (der Mensch sei »nichts ande­res« als sei­ne Keim­bahn) ver­las­sen und die Ära der »Post­ge­no­mik« ein­ge­läu­tet habe. Was aller­dings ganz und gar nicht neu ist, son­dern ein uralter Hut, ist der mit der Ent­de­ckung epi­ge­ne­ti­scher Wirk­me­cha­nis­men ver­bun­de­ne Geist der tota­len Mach­bar­keit, der sich in der Eupho­rie über die unend­li­che Form­bar­keit des Men­schen aus­drückt. Schon wer­den Stim­men laut, die ver­kün­den, mit der Epi­ge­ne­tik könn­ten wir unser Erb­gut steu­ern, wir hät­ten unge­ahn­te Macht über unse­re Gene und die unse­rer Kin­der. So stellt sich die Epi­ge­ne­tik zwar in Oppo­si­ti­on zur als ein­sei­tig beklag­ten Geno­mik, doch letzt­lich geht es in bei­den Ansät­zen um die Beherr­schung von Mensch und Natur.

Kam­me­rer hat es ver­stan­den, schon zu Leb­zei­ten bei­de Ansät­ze zu ver­schmel­zen: Ihm schweb­te ein »bio­lo­gi­sches Zeit­al­ter« vor, das mit Hil­fe eines noch zu erfin­den­den Ver­fah­rens, näm­lich der »orga­ni­schen Tech­nik«, ver­wirk­licht wer­den kön­ne. Dazu soll­ten neben Milieu­ver­bes­se­rung und Hor­mon­be­hand­lung auch »Ver­jün­gungs­the­ra­pien« nach Anre­gun­gen des Phy­sio­lo­gen Eugen Stein­ach gehö­ren, die den Alte­rungs­pro­zeß des Men­schen mit­tels Trans­plan­ta­ti­on von jun­gen Hoden und Ova­ri­en auf­hal­ten könn­ten. Der Mensch als model­lier­ba­re Bio­mas­se – in die­sem Sin­ne dür­fen Kam­me­rers Vor­schlä­ge durch­aus als Pio­nier­tat für heu­ti­ge Anthro­po­tech­nik und Social Engi­nee­ring ange­se­hen werden.

Sei­ne Expe­ri­men­te ziel­ten dar­auf ab, die Geset­ze der Evo­lu­ti­on und der Ver­erb­bar­keit zu durch­schau­en, um sie mit »höhe­rer Ver­nunft« und zum Zwe­cke einer ver­meint­li­chen Mensch­heits­ver­bes­se­rung mani­pu­lie­ren zu kön­nen. Es ist der tief­sit­zen­de Wunsch, die Phy­sis des Men­schen zu ver­än­dern und der Macht des mensch­li­chen Wil­lens unter­zu­ord­nen, der die Nähr­lö­sung für Uto­pien und Tech­no­kra­tien jeg­li­cher Art bereit­stellt – ob sie nun Kyber­ne­tik, Epi­ge­ne­tik oder Trans­hu­ma­nis­mus heißen.

Der Fall Kam­me­rer ver­an­schau­licht, wie auf Bie­gen und Bre­chen eine wis­sen­schaft­li­che Theo­rie gefun­den und bewie­sen wer­den soll­te, die als Grund­la­ge für die Erschaf­fung eines neu­en Men­schen und der opti­ma­len Gesell­schaft her­an­zu­zie­hen sei. Er ver­an­schau­licht auch, wie die gegen­sei­ti­ge Durch­drin­gung von For­schung und Welt­an­schau­ung zu einer Selbst­ver­ständ­lich­keit zu wer­den droht, wenn über­bor­den­der Idea­lis­mus nicht recht­zei­tig in die Schran­ken gewie­sen wird. Vor­aus­set­zungs­lo­se Wis­sen­schaft ist nur unter Vor­aus­set­zun­gen zu haben.

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