Martin Michaelis wohnt in Quedlinburg und ist in Gatersleben als Pfarrer tätig. Er war Vorsitzender des Thüringer Pfarrvereins und Vorsitzender der Pfarrvertretung der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKM), gewissermaßen Oberbetriebsrat, außerdem Vorsitzender der Pfarrergesamtvertretung der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD). Am Reformationstag 2022 wollte er einen Gottesdienst in St. Aegidii in Quedlinburg feiern und auch mehrere Kinder taufen. Die Türen der Kirche waren allerdings verriegelt – von innen. Im Gespräch mit der Sezession erzählt er, wie es dazu kam, in welchem Zustand sich die Kirche und der Glauben an Gott in Deutschland befinden und ob diese noch eine Zukunft haben.
Sezession: Herr Michaelis, in einem Beitrag über Sie titelte die Bild-Zeitung Anfang November vergangenen Jahres: »Querdenker-Pfarrer muß in der Hölle taufen«. Seit wann glaubt die Bild an Himmel und Hölle und wie kam es dazu?
Michaelis: Für den Gottesdienst am Reformationstag hatten wir alles korrekt bei der örtlichen Kirchengemeinde angemeldet und den Schlüssel bekommen. Jedoch wurde mir einige Tage vorher mitgeteilt, daß man mir die Mikrofonanlage abschalten werde, weil wir mit zehn Plakaten auf den Gottesdienst hingewiesen hatten. Wahrscheinlich sollte nicht bekanntwerden, daß ich öffentlich zu hören bin. Als sich die Kirchentür mit dem Schlüssel dann nicht öffnen ließ und sich auch niemand fand, der sie öffnen wollte oder konnte, sind wir in den Hof unseres privaten Hauses in Quedlinburg ausgewichen. Wir haben bei schönstem Sonnenschein den Gottesdienst, die drei Taufen und das heilige Abendmahl unter freiem Himmel gefeiert. Dank fleißiger Helfer und der Tatsache, daß ich eine Taufschale und einen Abendmahlskelch selbst besitze, war das gut möglich. Die Straße, in der wir wohnen, heißt »Hölle«. Deshalb kam es zu der kuriosen Überschrift.
Sezession: Und was ist ein »Querdenker-Pfarrer«?
Michaelis: Die Berufsbezeichnung »Querdenker-Pfarrer« gibt es natürlich nicht. Wenn sie allerdings damit meinen, daß ich ein Pfarrer bin, der aufrecht sich seines kritischen Verstandes zu bedienen weiß, dann sollen sie das meinetwegen schreiben. Oft wird diese Vokabel einfach nur zur Diffamierung genutzt. Das ist dasselbe wie mit den Worten »Corona-Leugner« und »Corona-Kritiker«. Das wird mir öfter von bestimmten Medien angehängt, obwohl ich mich zur Existenz des Coronavirus gar nicht geäußert habe. Ich habe das Virus auch nicht kritisiert. Es hätte sowieso nicht auf mich gehört, hat es doch kein Ohr und kein Hirn. Meine Kritik bezog sich auf die Maßnahmen und den Umgang miteinander. Leider wurde ich diesbezüglich von vielen auch nicht gehört. Ob das andere Ursachen hat als beim Virus, lasse ich einmal offen.
Sezession: Was waren die Konsequenzen Ihrer Kritik?
Michaelis: Bereits zu Ostern 2020 habe ich mich mit dem Text »Seid nüchtern und wachet« zu den Ideen der Regierung und der Kirchenleitungen geäußert, danach noch mehrmals mit Texten und in Vorstandsberichten. Ich wollte eine gesellschaftliche und vor allem theologische Diskussion anregen. Aus der Kirchenleitung wurde mir aus berufenem Munde ins Gesicht gesagt, man habe sich entschieden, meinen ersten Text totzuschweigen. Da war er allerdings bereits im Deutschen Pfarrerblatt abgedruckt worden. Als ich dann in Sonneberg bei einem Lichterkettenspaziergang sieben Minuten gesprochen hatte, kam es zu einer medialen und kirchlichen Reaktion, aber eben zu keiner Diskussion. Wahrscheinlich um diese zu verhindern, haben Kollegen in der Pfarrerschaft und auch einzelne Personen der Leitung mit Vorwürfen meine Abwahl aus allen Ämtern vorangetrieben.
Sezession: Wie gehen Sie damit um, daß es Menschen der Kirche waren, die Sie verraten haben und die Kirchentüren von innen verriegelten?
Michaelis: Mittels einer Feststellungsklage gegen den Thüringer Pfarrverein habe ich erreicht, daß festgestellt wurde, daß die Vorwürfe substanzlos waren. Die Gegenseite hat im August 2022 zugestehen müssen, daß ich in allen Klagepunkten recht hatte. Sie haben den Saal mit einem Anerkenntnisurteil verlassen, so ziemlich das Schlimmste, was einem passieren kann. Auch im laufenden Disziplinarverfahren gegen mich konnten keine Amtspflichtverletzungen nachgewiesen werden. Lediglich wirft man mir noch vor, ich hätte einer Aufforderung des Personaldezernenten, nicht auf einer Demonstration zu sprechen, nicht Folge geleistet. Da diesem Vorwurf das staatliche Recht auf Meinungs- und Demonstrationsfreiheit und das kirchliche Recht auf freie Wortverkündigung entgegenstehen, dürfte eine Amtspflichtverletzung woanders und nicht bei mir zu suchen sein.
Sezession: Um mit Gott in Verbindung zu treten, scheinen die Menschen kein Kirchendach über sich zu brauchen – es genügt der Hof eines privaten Hauses. Das entspricht dem lutherischen Geiste. Aber was ist mit dem Pfarrer – braucht der eine Kirche?
Michaelis: Es war eine der wichtigen Erkenntnisse Martin Luthers, daß die Kirche als Institution nicht die einzig seligmachende Einrichtung ist, sondern jeder selbst sich an Gott wenden kann, Gott sich auch ohne Vermittler einem zuwendet. Nach der Augsburgischen Konfession von 1530 ist die Kirche dort, wo sich Christen im Namen Jesu Christi versammeln, um das Wort Gottes zu verkündigen und die Sakramente ordnungsgemäß zu reichen. An diesen Kriterien kann man prüfen, ob die institutionelle Kirche der geistlichen Kirche gedient oder sich von ihr entfernt, sie gar behindert hat. Das muß immer kritisch betrachtet werden.
Sezession: Sie sind ein Mann Gottes, aber sind Sie noch ein Mann der Kirche?
Michaelis: Ein Mann der geistlichen Kirche will ich selbstverständlich immer bleiben. Allein darauf bezieht sich meine Loyalität, niemals auf das Leitungspersonal, was eine Konflikt- und notfalls Leidensbereitschaft mit und an der Institution um des Glaubens willen einschließt. Wenn man als lutherischer Pfarrer den Dienst antritt, sollte einem das klar sein – und der Leitung eigentlich auch.
Sezession: Die Liebe des Staates für seine Bürger kam 2020 aus dem Wasserwerfer und die Liebe Gottes – wie Sie in einer Rede in Weimar im September erzählten – aus der Wasserpistole. Was haben Sie damit gemeint?
Michaelis: Nun, ich habe tatsächlich ein Bild gefunden, auf dem zu sehen war, wie ein Pfarrer auf ein Kind mit der Wasserpistole zielt, um es zu taufen. Ich fand es tragikomisch, wie sich Geistliche selbst zur Karikatur machen, um staatlichen Anordnungen Genüge zu tun. Es schien mir adäquat, das mit satirischen Mitteln aufzugreifen. Es gab noch mehr solcher Blüten, zum Beispiel, daß man gerade im Jahr 2022 mit der Jahreslosung »Jesus Christus spricht: Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen« bereit war, die sogenannten G‑Regeln und somit Zugangsbeschränkungen für Gottesdienste einzuführen. Das hat viele vor den Kopf gestoßen. Man muß ja einmal festhalten, daß es dem Teufel gelungen ist, mittels Abstandspflichten die Zahl der nutzbaren Sitzplätze in Kirchen um 75 Prozent zu reduzieren.
Sezession: Hält das Christentum nicht auch ohne Hygienekonzepte mögliche Antworten auf eine Pandemie bereit? Ich denke da an Jesus und die zehn Aussätzigen.
Michaelis: Natürlich, ganz viele, sogar aus weit schwereren Zeiten – Lieder, Gebete, geistliche Texte. Die Aufgabe wäre es doch gewesen, wenn es sich tatsächlich um eine hochgefährliche Pandemie gehandelt hätte, die Menschen zu trösten, sie der Liebe und Fürsorge Gottes zu vergewissern, ihnen das Abendmahl als Zeichen der Verbundenheit mit dem auferstandenen Christus zu reichen. Pfarrer Christian Scriver hat 1681 gerade deshalb weiter gepredigt, die Sakramente gereicht und Kranke getröstet. Damals starb innerhalb von sechs Monaten mehr als ein Drittel der Magdeburger. Die Kirche heute, die genauso die Auferstehung und das ewige Leben zu verkündigen hat, ist in einer statistisch nachweisbar nicht vergleichbaren Situation vor der Angstmache mit dem Tod eingeknickt. Die ersten Christen und viele unserer evangelischen Vorfahren haben heimlich unter Todesgefahr Gottesdienste gefeiert. Was ist von diesem Glaubensmut geblieben?
Sezession: Ich habe nach einer neuen Gemeinde gesucht und drei verschiedene evangelische Gottesdienste besucht: Während des ersten spielte man amerikanische Rock-Kirchenmusik, sang auf englisch und zeigte im Hintergrund eine Powerpoint-Präsentation mit schwarzen, knienden und betenden Football-Spielern; zudem erzählte ein Pfarrer in Jeans von seiner eigenen Scheidung; eine Woche später predigte eine Pfarrerin mit Regenbogen-Stola, und in der darauffolgenden Woche fand ein Kinder-Gottesdienst statt, in dem man selbstgemalte Bilder der Kinder ausstellte, die biblisch-apokalyptische Szenarien brennender Wälder, einer überfluteten Stadt oder eines verwüsteten Planeten zeigten. Auf den Bildern waren zudem die Aussagen der Kinder notiert, die ihre Angst darüber ausdrückten, was mit unserer Erde wegen des Klimawandels geschehen könnte. Hatte ich einfach nur Pech oder sind solche Szenen normal?
Michaelis: Also Pech hatten Sie allemal! So sollte es nicht sein, daß Menschen, vor allem Kinder, mit Weltuntergangsszenarien erschreckt werden. Es ist eine verdrehte Welt geworden. Martin Luther hat sich für die Verkündigung in der Muttersprache eingesetzt, damit es jeder versteht. Er hat dem Volk »aufs Maul geschaut«. Mit der Bibelübersetzung hat er Enormes geleistet, zuerst für die Seelen der Menschen, aber auch für unsere ausdifferenzierte deutsche Sprache. Das hohe Bildungsniveau, das es in Deutschland gab, wurde von den Reformatoren, allen voran von Philipp Melanchthon, initiiert. Bezüglich des geschiedenen Pfarrers habe ich den Eindruck, daß man mit den Sünden eher kokettieren möchte, als sie zu bereuen. Und bei den Weltuntergangsszenarien haben Sie übrigens eine gut-biblische Intuition gehabt, sagt Jesus doch im Lukasevangelium (21,8): »Seht zu, laßt euch nicht verführen. Denn viele werden kommen unter meinem Namen und sagen: Ich bin’s, und: Die Zeit ist herbeigekommen. – Folgt ihnen nicht nach!« Die Kirchen passen sich dem Zeitgeist an, statt ihm kritisch auf theologischem Fundament zu begegnen und gegebenenfalls zu widersprechen. Genau das haben uns doch die Propheten, Jesus, Paulus und viele Christen vorgelebt, nicht zuletzt während der Reformation.
Sezession: Ist die Drohung eines brennenden Planeten der Klimahysteriker vergleichbar mit dem Ablaßhandel im 16. Jahrhundert? Ich muß bei diesem Bild an den Ablaßprediger Johann Tetzel denken, der versuchte, Christen mit Bildern von im Fegefeuer brennenden Menschen dazu zu bewegen, für sich oder ihre Verwandten Ablaß zu zahlen.
Michaelis: Man kann das und vieles mehr, zum Beispiel mRNA-Impfungen, schon mit dem Ablaßhandel vergleichen, wird doch die erzeugte Angst zu einer gigantischen Umverteilung des Reichtums genutzt. Die Bilder vom Fegefeuer hat man durch die von Intensivbetten und nächtlichen Sargtransporten ersetzt. Um sich selbst und die Welt zu retten, überhaupt »das Gute« zu tun, sollen Menschen ihr Geld anderen geben. Die Klimaabgaben sprießen aus den Regierungen wie die Ablaßbriefe aus der Druckerpresse.
Interessant finde ich, wie sich die Dreistigkeit durch die Jahrhunderte zieht. So schreibt Johann Tetzel als Antwort auf die 45. der 95 Thesen Luthers noch im selben Jahr 1517: »Geistliche Almosen [Tetzel meint damit die Ablaßbriefe; M. M.] sind besser als die leiblichen [für die Armen]; und die Almosen, so einer [als Ablaß] sich selbst tut, sind ordentlicher oder stehen in besserer Ordnung, als jene, die leiblichen [Gaben für die Armen]. Darum, so jemand Ablaß bedarf, und möchte dem Armen nicht helfen aus der Not, der tut viel besser, daß er Ablaß löset, als daß er dem Armen als verlorenem Ding [!] zu Hilfe komme. Wer darwider lehret, der irret.« Da versteht man Martin Luthers Widerstand.
Heute ist man davon gar nicht weit weg, wenn zum Beispiel immense Summen für mRNA-Impfstoffe ausgegeben werden, anstatt Hunger und Armut zu bekämpfen. Es ist einfach nur verlogen, jedoch die Ablenkungen mit diversen, ständig wechselnden Ängsten machen es möglich. Einen Unterschied gibt es natürlich: Damals konnten die Menschen noch selbst entscheiden, ob sie solche wertlosen Ideen auf Papier kaufen wollen, während das jetzt so organisiert wird, daß dem ja keiner entkommen soll. Bei Erkenntnis der heutigen Gewinnmargen würde Johann Tetzel vermutlich erblassen, wenn ihn nicht gleich vor Neid der Schlag träfe.
Sezession: In Zeiten des Friedens verging keine Papstrede und kein Kirchentag ohne die Forderung nach Frieden für die Welt – ich denke da auch an Leitsätze wie »Schwerter zu Pflugscharen«. In Zeiten der Kriege, mit Blick auf die Ukraine, den Jemen und aktuell auf den Gaza-streifen, herrscht diesbezüglich auffällige Stille seitens der Kirche. Spielt die Friedensbotschaft Jesu keine Rolle mehr oder ist die Amtskirche bereits so sturmreif geschossen, daß man diesbezüglich lieber den Schnabel hält, um sich nicht in die politischen Nesseln zu setzen?
Michaelis: Letztere Befürchtung teile ich, und es ist ja bei anderen Themen auch so. Obendrein ist man bereit, Kritikern in den eigenen Reihen das Leben schwerzumachen, statt sie zu unterstützen und in Ehren zu halten. Sie sollen halt auch den Schnabel halten, notfalls mittels Anweisungen und Disziplinarverfahren.
Sezession: Befinden wir uns in einer Glaubenskrise, in der die Menschen ihren Glauben an Gott verlieren, oder in einer Vertrauenskrise, in der die Menschen der Institution Kirche nicht mehr vertrauen?
Michaelis: Es ist tatsächlich eine Krise. Die Kirchen scheinen der ihnen aufgetragenen Botschaft nicht mehr zu vertrauen, Gott nicht mehr zu fürchten, zuerst im Sinne einer Ehrfurcht. Deshalb suchen sie ihr Fortkommen in dem, was heute »dran zu sein« scheint. Martin Luther hat 1520 unter Lebensgefahr an Georg Spalatin geschrieben: »Ich habe auch hierinnen allzeit nur diese Sorge, ich möchte einmal, mir selbst überlassen, dasjenige schreiben, was den Sinnen der Menschen angenehm ist.« In denselben Tagen wollte der Kurfürst ihn warnen, die Wartburg ja nicht zu verlassen, weil er ihn dann nicht schützen könne. Martin Luther hat ihm geantwortet, er bedürfe des kurfürstlichen Schutzes weniger, als der Kurfürst vielmehr des Schutzes bedürfe, den Luther für ihn von Gott erbitten könne. Diese beiden Begebenheiten können uns den kritischen Blick auf unsere Situation schärfen. Viele Menschen finden in der Kirche nicht mehr das, was sie dort zu Recht suchen. Wenn sie sich dann abwenden, bewirkt das insgesamt einen Verlust an glaubensbezogenem Wissen und Vertrauen in Gott, was man treffend als Teufelskreis bezeichnen kann.
Sezession: Ist die Vergötterung der »Machbarkeit«, die in den vergangenen drei Jahren einen Höhepunkt erreichte, ein Ersatzglaube? Äußert sich da vielleicht eine Sehnsucht nach Glauben?
Michaelis: Die Vergötterung der Machbarkeit ist eigentlich eine Selbstvergötterung des Menschen. Die Ursache dafür ist nicht schmeichelhaft, denn die Menschen haben das Vertrauen in Gott verloren und suchen das durch ein nicht zu stillendes Streben nach Sicherheit zu kompensieren. Das äußert sich zum Beispiel durch eine Regelungs- und Kontrollwut, die das Leben zu ersticken droht. Damit läßt sich viel Geld verdienen. Der biblische Zehnte ist ein Klacks dagegen.
Sezession: Hieße Reformation heute im Sinne einer lutherischen Modernisierung eher eine Rückbesinnung zu etwas Unzeitgemäßem? Ist das in diesen kritischen Zeiten der Kirche eher notwendig als die Anbiederung an einen modernen Zeitgeist?
Michaelis: Eine lutherische Modernisierung hat es so nicht gegeben, denn die Reformatoren wollten zurück zu den biblischen Quellen – »ad fontes«, wie Philipp Melanchthon sagte. Alles, was die damalige Kirche darübergestülpt hat, vom Klosterleben über die Heiligenanbetung bis zum Ablaßhandel, sollte nicht mehr für Machtansprüche herhalten. Der Rückbesinnung auf die Grundlagen des Glaubens folgte ein Infragestellen des »Zeitgemäßen« und dann ein bisher nicht gekanntes Streben nach innerer und äußerer Freiheit. Dadurch wurde einer Modernisierung der Gesellschaft der Boden bereitet. Wir müssen aufpassen, daß wir das nicht geringschätzen oder schlechtreden und uns gar wegnehmen lassen.
Sezession: Braucht es einen modernen Martin Luther oder einen modernen Thomas Müntzer?
Michaelis: Einen modernen Müntzer brauchen wir bitte nicht. Er hat zur Gewalt als Mittel aufgerufen und wurde deshalb als Revolutionär gefeiert. Martin Luther suchte ihn leider erfolglos zu bremsen, weil er den blutigen Ausgang des von Müntzer blutig begonnenen Anfangs ahnte. Philipp Melanchthon war als Kind durch kriegerische Handlungen traumatisiert worden und verlor bald darauf sehr früh seinen Vater. Zusammen mit Martin Luther und Georg Spalatin hat er sich im Auftrag des Kurfürsten mit der Frage, ob man um des Glaubens willen Krieg führen dürfe, befaßt. Sie waren sehr skeptisch, vor allem dürften Kriege nicht zu Lasten der Bevölkerung gehen.
Um Veränderungen herbeizuführen, haben sie auf Bildung gesetzt, denn wer lesen und rechnen kann, läßt sich nicht so leicht hinters Licht führen und übers Ohr hauen. Luther hat geschrieben: »Lasset die Geister aufeinanderplatzen, die Fäuste haltet stille!« Insofern hätte ich mir mehr von der damaligen Streitkultur gewünscht, auch bei den Demonstrationen. Da gab es kluge Redner, etwa in Berlin vor dem Bundestag. Die Regierung ist nicht gekommen, sondern hat Polizei und Wasserwerfer geschickt. Die Bilder offenbaren eines: Die Demonstranten hatten weniger Angst vor den Fäusten als die Obrigkeit vor den Geistern, »den spitzigen Argumenten der Layen« (Luthers 95. These, 1517).
Sezession: Nicht jeder Christ, der zum Beispiel an der Gesundheitspolitik zweifelt, hat einen Pfarrer wie Sie. Was soll der machen? Muß er sich auf den persönlichen Draht zu Gott zurückziehen?
Michaelis: Er soll den persönlichen Draht zu Gott nicht abreißen lassen. Aber sich keinesfalls zurückziehen, sondern vielmehr Gleichgesinnte suchen. Wenn das viele tun, werden sie sich finden. Das ist ja eine der guten Erfahrungen: Viele Kontakte sind abgerissen, aber oft mehr neue und vor allem intensivere voller Vertrauen geknüpft worden. Die Rechnung ist häufig nicht aufgegangen: Da sollten sich Leute in Behörden zum Teil schikanös testen lassen, die keine sogenannte Impfung wollten. Und was haben sie dabei erkannt? Daß sie nicht allein sind.
Wie ermutigend war das ganz im Sinne einer biblischen Geschichte, die in dem Vers gipfelt: »Aber der HERR, dein Gott, […] wandelte dir den Fluch in Segen um, weil dich der HERR, dein Gott, lieb hatte.« (5. Mose 23,6) Es ist gut, laut zu sagen, was man von einer christlichen Kirche erwartet – das darf man einfordern. In guter lutherischer Tradition ist das nämlich Recht und Pflicht eines jeden Christen. Das ermutigt sicher auch manchen Pfarrer, Klartext zu reden.