Überwundene Sorgen: Verweichlichung

PDF der Druckausgabe aus Sezession 117/ Dezember 2023

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

Ver­schie­dent­lich habe ich über mei­ne Lektüre­erfahrungen mit dem DDR-Volks­buch Klei­ne Enzy­klo­pä­die. Die Frau berich­tet. Das knapp acht­hun­dert­sei­ti­ge Mam­mut­werk war 1961 erst­mals erschie­nen. Bis 1989 erleb­te es zig Auf­la­gen, es stand in vie­len Haus­hal­ten der Ost­zo­ne. Hun­dert­tau­sen­de Frau­en besa­ßen die­ses Buch.

Das von einem gelehr­ten Autoren­kol­lek­tiv ver­faß­te Hand­buch zu allen erdenk­li­chen The­men mit weib­li­cher Rele­vanz (von »Sexu­al­dif­fe­ren­zen im Krank­heits­be­fall« über die güns­ti­ge und anmu­ti­ge Kör­per­hal­tung beim War­ten auf den Bus, Schmink­tech­ni­ken, alters­ge­mä­ße Klei­dung bis zur Bedeu­tung der »Frau im Kampf um den Frie­den«) fir­mier­te als Vade­me­cum für alle Lebens­la­gen. Die gesamt­deut­sche Frau von heu­te müß­te Dut­zen­de Bücher kau­fen, um der­art umfas­send über sämt­li­che All­tags­fra­gen und Pro­blem­la­gen infor­miert zu sein.

(War­um muß ich hier­bei, apro­pos »Volks­buch«, an Thi­lo Sar­ra­zins Deutsch­land schafft sich ab den­ken? Es wur­de in den ers­ten acht­zehn Mona­ten nach Erschei­nen (2010) gut andert­halb Mil­lio­nen Mal ver­kauft, ein Rekord. Kein ande­res Sach­buch nach der Wie­der­ver­ei­ni­gung ist so oft über den Tre­sen gegan­gen. Jedoch läßt sich natur­ge­mäß nicht ermit­teln, wer es durch­ge­le­sen hat – oder auch nur zur Hälfte.)

Das wahr­haft schil­lern­de Buch über die DDR-Frau war jeden­falls sehr prä­sent und for­mu­lier­te ein Leit­bild. Man ging von einer vier­fa­chen Bestim­mung der Frau aus: Mut­ter, Haus­her­rin, Gefähr­tin des Man­nes, Erwerbs­tä­ti­ge. Unbe­strit­ten war die Ost­frau in die­sem Sin­ne Avant­gar­de: In punc­to Eman­zi­pa­ti­on war die DDR dem Wes­ten um Mei­len vor­aus – logisch mit allen Schat­ten­sei­ten. Aller­dings bil­de­te die Klei­ne Enzy­klo­pä­die. Die Frau kei­nen DDR-Main­stream ab – das Buch war ein ideo­lo­gi­sches Projekt.

Das gilt um so mehr für ein wei­te­res Volks­buch der DDR: Welt­all Erde Mensch. Die­ses Werk wur­de zwi­schen 1954 und 1974 vier Mil­lio­nen Mal gedruckt. Kein Buch in den »glor­rei­chen Jahr­zehn­ten« der DDR erfuhr eine höhe­re Auf­la­ge. Jeder, der in die­ser Zeit zur Jugend­wei­he ging, kennt es (weil es das Stan­dard­ge­schenk war). ­Wal­ter Ulb­richt hat­te ein Vor­wort zu die­ser strikt anti­re­li­giö­sen Auf­klä­rungs­schrift gelie­fert: »Die­ses Buch ist das Buch der Wahr­heit«. Anders als Sar­ra­zin (dort: Im Gegen­teil! Ange­la Mer­kel riet dezi­diert von der Lek­tü­re ab! Der Erfolg die­ses intel­lek­tu­el­len »Volks­buchs« resul­tier­te gesi­chert aus den Mecha­nis­men des frei­en Mark­tes) wur­den die bei­den DDR-Volks­bü­cher staat­lich geför­dert und eingesetzt.

Nun bin ich auf ein zumin­dest teil­wei­se ver­gleich­ba­res Buch­pen­dant aus der »BRD« gesto­ßen. Ob es öffent­lich bezu­schußt wur­de, konn­te ich nicht ermit­teln. Das prak­ti­sche Lexi­kon der Natur­heil­kun­de von Dr. Ernst Mey­er-Cam­berg erschien erst­mals 1953 im C. Ber­tels­mann Ver­lag, einem Ver­lag mit­hin, der damals arg mit der »Ver­ar­bei­tung« sei­ner NS-Ver­gan­gen­heit zu tun hat­te. (Bis heu­te liegt Ber­tels­mann vorn an der Büßer­front!) Mir liegt die »14. Auf­la­ge 105.–106. Tau­send 1963« vor.

Das fast fünf­hun­dert­sei­ti­ge Buch muß eben­falls extrem wei­te Ver­brei­tung erfah­ren haben. Ein soge­nann­tes Haus­buch! Autor Mey­er hat­te im Zwei­ten Welt­krieg als Ober­stabs­arzt bei ver­schie­de­nen Pan­zer­di­vi­sio­nen und als lei­ten­der Inter­nist in Kriegs­la­za­ret­ten gedient. Nach­dem er sich 1949 als natur­heil­kund­li­cher Inter­nist im rhein­hes­si­schen Bad Cam­berg nie­der­ge­las­sen hat­te, ergänz­te er sei­nen bana­len Nach­na­men – man kennt sol­che »Befind­lich­kei­ten«, neh­men wir nur Paul Schultze-Naumburg.

Mey­er-Cam­bergs Volks­buch ist heu­te für ein paar Euro zu haben. Lohnt sich! Wir leben in Rat­ge­ber­zei­ten – aber wel­cher Rat­ge­ber erreich­te je eine sol­che Dich­te, ein sol­ches Mono­pol zu sei­ner Zeit? Heu­te kann sich der Kon­su­ment für die Low-Carb- oder für die vega­ne Schie­ne ent­schei­den, für Acht­sam­keit oder die Suche nach dem »inne­ren Kind«, für keto­ge­ne Diät oder Inter­vall­fas­ten oder für x ande­re Rezep­tu­ren zum kor­rek­ten Leben – vor sieb­zig Jah­ren galt avant la lett­re »all in one«: ein Buch, das ein­fach alles weiß über alter­na­ti­ve Lebens­füh­rung. Das ist hoch interessant!

Der Blick in die­ses Lexi­kon (von A wie »Abbin­den« – »kann auch mit einem dün­nen Strick erfol­gen« – bis Z wie Zwölf­fin­ger­darm­ge­schwür – »Schmerz, der nach dem Genuß von etwas Milch ver­schwin­det«) ist Gold wert. Schön sind die 74 Abbil­dun­gen und 95 Foto­gra­fien. Natür­lich sehen wir Fotos von »Aus­schlag-Krank­hei­ten« (Masern, Wind­po­cken, Schar­lach, Nes­sel­sucht), aber auch hüb­sche Frau­en bei Bade­ku­ren (»Die Luft­bläs­chen der Schaum­bä­der heben die Schwer­kraft des Was­sers auf, beru­hi­gen das Ner­ven­sys­tem und ent­las­ten außer­dem den Kreis­lauf«) und viri­le Män­ner in der Sau­na. Schön ist die voll­bu­si­ge Brü­net­te, die vom Hals abwärts in Schlamm prä­sen­tiert wird. Unter­schrift: »Ein Moor­bad ist anstren­gend und soll­te nur auf ärzt­li­che Ver­ord­nung genom­men wer­den«. Wir sehen fit­te Senio­ren bei Lei­bes­übun­gen, rie­fen­stahl­ar­ti­ge Bil­der von sich kör­per­lich Ertüch­ti­gen­den und von fröh­li­chen Pati­en­ten (Zau­ber­berg-mäßig) bei der Frei­luft­be­hand­lung. Man zeigt uns in Schwarz­weiß Säug­lin­ge, deren Kör­per ver­rückt ver­kno­tet wer­den, um ihre Gelen­kig­keit zu über­prü­fen. So mach­ten sie es damals! Ja, die fünf­zi­ger Jah­re des ver­gan­ge­nen Jahr­hun­derts waren aus heu­ti­ger Sicht skurril.

Die­se Enzy­klo­pä­die erschien zu Zei­ten, als mei­ne Eltern Schul­kin­der waren. Schon daher inter­es­siert mich, was damals »tren­de­te«. Noch bevor das Buch beginnt, wird auf die wich­tigs­ten Stich­wör­ter »zum Auf­bau einer gesun­den Lebens­wei­se« hin­ge­wie­sen, als fast track gewis­ser­ma­ßen: »Ganz­heit, Lebens­form, Abhär­tung, Bar­fuß­lau­fen, Klei­dung, Luft­bad, Ent­halt­sam­keit.« Inter­es­sant: Wir befin­den uns etwa sech­zig Jah­re nach dem Höhe­punkt der Lebens­re­form­be­we­gung und acht Jah­re nach dem Ende der »Drit­ten Rei­ches«. Ins geschicht­li­che Gedächt­nis sind die spä­te­ren 1950er Jah­re eher als Zeit des »gro­ßen Fres­sens«, als Beginn des Mas­sen­kon­sums ein­ge­gan­gen. Offen­kun­dig war die­ser Long- und Best­sel­ler Teil einer Gegenbewegung.

Schau­en wir ein­zel­ne Lem­ma­ta an. Eini­ge dar­un­ter sind schon auf­grund ihrer heu­ti­gen Unzeit­ge­mäß­heit beson­ders: Neh­men wir den »Hän­ge­bauch« oder die »Hän­ge­brust« – undenk­bar in Zei­ten der Body Posi­ti­vi­ty! Und: Wer wür­de heu­te schon The­men wie »Hand­schweiß«, »Sei­fen­stuhl« oder »Stig­ma­tis­a­ti­on« (also das Auf­wei­sen der Wund­ma­le Jesu) ernst­haft in einem Lexi­kon bemühen?

»Abhär­tung« wird durch­gän­gig als wich­ti­ges Gene­ral­mit­tel begrif­fen: »A. ist das sys­te­ma­ti­sche Gegen­wir­ken gegen die ver­weich­li­chen­den Ein­flüs­se der zivi­li­sa­to­ri­schen Lebens­wei­se. Da die­se dem Men­schen Anstren­gun­gen und unan­ge­neh­me äuße­re Ein­flüs­se zu erspa­ren ver­sucht, ver­küm­mern die Abwehr­re­gu­la­tio­nen, und der Mensch reagiert auf uner­war­te­te Ein­flüs­se mit krank­haf­ten Erschei­nun­gen. Er ist ver­weich­licht. Durch Klei­dung, Woh­nung, Hei­zung lei­det vor allem die Anpas­sung an natür­li­che Wär­me­regu­la­tio­nen. […] Die A. hat schon im Kin­des­al­ter zu begin­nen. Auf­ent­halt in gut gelüf­te­ten, nicht über­heiz­ten Räu­men, nicht zu wei­che und zu war­me Bet­ten. Luft­bad und Frei­luft­gym­nas­tik auch bei küh­lem Wetter.«

Die­ses ehe­ma­li­ge Volks­buch ist eine Fund­gru­be par excel­lence. Man kann sich lesend in jede Sei­te ver­gra­ben. Was hat­te unser Volk allein an Wickeln und Güs­sen parat! Kopf­güs­se, Brust­güs­se, Blitz­güs­se, Hals­wi­ckel, Bein­wi­ckel, Ganz­kör­per­wi­ckel, ein Lehm­sitz­bad: »mit nur weni­gen Spa­ten­sti­chen aus­ge­ho­ben«. Dampf­wi­ckel, Dampf­kom­pres­sen: ver­ges­se­ne Heil­tech­ni­ken! »Fünf Pfd. Kür­bis täg­lich [!] ent­wäs­sern her­vor­ra­gend!« Die »Dusche / Brau­se« war noch nicht im All­tag ange­kom­men. Klein­kin­der dürf­ten kei­nes­falls die­ser Pro­ze­dur aus­ge­setzt wer­den, des­glei­chen »ner­vö­se und schwäch­li­che« Men­schen. »Eis­ge­trän­ke« und Schwei­ne­fleisch: strik­tes »No-Go«!

Inter­es­san­ter­wei­se gab es bereits Brot­mo­den. Kollath-Müs­li, Frisch­korn­brei und Bir­cher-Ben­ner-­Müs­li (des­sen Erfin­der 1939 ein »Volks­sa­na­to­ri­um für Ord­nungs­the­ra­pie« grün­de­te und die Ernäh­rung mög­lichst mut­ter­milch­ähn­lich gestal­ten woll­te) stan­den unter­schied­li­chen Brot­sor­ten gegen­über: Stein­metz­brot und Klopfer­brot kon­kur­rier­ten mit Graham‑, Waer­land- und Schlü­ter­brot. Wer kennt eigent­lich noch das »Flet­schern«, damals anschei­nend über­aus popu­lär? Der Schrift­stel­ler Hor­ace ­Flet­cher (1849 – 1919) war zu der Erkennt­nis gelangt, daß man sämt­li­che Spei­sen am bes­ten so lan­ge im Mund zer­kaut, bis sie ver­flüs­sigt sind.

Es gibt groß­ar­ti­ge Zeich­nun­gen – etwa zu »Baun­scheidts Lebens­we­cker«: Der Bon­ner Mecha­ni­ker Carl Baun­scheidt (1809 – 1873) kon­stru­ier­te »eine Schei­be von 2 cm Durch­mes­ser, auf der 20 – 30 fei­ne Nadeln ste­hen. Durch eine Abschnell­vor­rich­tung wer­den sie in die Haut gebohrt, so daß mit die­sem Instru­ment die Haut in mehr oder weni­ger gro­ßer Aus­deh­nung gesti­chelt wer­den kann.« Ein­ge­rie­ben wird her­nach ein »beson­ders Haut­reiz­öl«, am bes­ten natür­lich das soge­nann­te Baun­scheidt­öl. Der dar­aus resul­tie­ren­de »furun­kel­ar­ti­ge Aus­schlag« wer­de »inner­halb von Tagen ein­trock­nen.« Und voi­là: »Chro­ni­sche Ent­zün­dun­gen, Krämp­fe und Reiz­zu­stän­de sind nach weni­gen Tagen perdu!«

Spaß bei­sei­te: Die­ses Lexi­kon führt uns mit (berech­tigt) erns­ter Stim­me aller­lei vor, was heu­te eigent­lich als »arkan« gilt. Wer spricht heu­te noch von »Kon­sti­tu­ti­ons­ty­pen«? Nie­mand. Zwar ist »Indi­vi­dua­li­tät« heu­te in aller Mun­de, doch wird in der Schul­me­di­zin habi­tu­ell und tüch­tig über den Kamm gescho­ren. Hier fin­den wir Typen­leh­ren in inter­es­san­tes­ten Aus­prä­gun­gen. Geheim­wis­sen­schaf­ten wie »Hell­sehen«, Iris­dia­gnos­tik oder Indi­vi­du­al­psy­cho­lo­gie nach Alfred Adler etc. wer­den hier glas­klar auf ihre Plät­ze ver­wie­sen. Atem­übun­gen, Homöo­pa­thie, Chi­ro­lo­gie (Hand­le­se­kunst) erhal­ten hin­ge­gen Raum.

Nicht alles an den fri­vo­len fünf­zi­ger Freß­jah­ren war ver­kehrt. Vie­les dar­un­ter ist schlicht erhei­ternd. Zur Lek­tü­re wird geraten!

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

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