Verschiedentlich habe ich über meine Lektüreerfahrungen mit dem DDR-Volksbuch Kleine Enzyklopädie. Die Frau berichtet. Das knapp achthundertseitige Mammutwerk war 1961 erstmals erschienen. Bis 1989 erlebte es zig Auflagen, es stand in vielen Haushalten der Ostzone. Hunderttausende Frauen besaßen dieses Buch.
Das von einem gelehrten Autorenkollektiv verfaßte Handbuch zu allen erdenklichen Themen mit weiblicher Relevanz (von »Sexualdifferenzen im Krankheitsbefall« über die günstige und anmutige Körperhaltung beim Warten auf den Bus, Schminktechniken, altersgemäße Kleidung bis zur Bedeutung der »Frau im Kampf um den Frieden«) firmierte als Vademecum für alle Lebenslagen. Die gesamtdeutsche Frau von heute müßte Dutzende Bücher kaufen, um derart umfassend über sämtliche Alltagsfragen und Problemlagen informiert zu sein.
(Warum muß ich hierbei, apropos »Volksbuch«, an Thilo Sarrazins Deutschland schafft sich ab denken? Es wurde in den ersten achtzehn Monaten nach Erscheinen (2010) gut anderthalb Millionen Mal verkauft, ein Rekord. Kein anderes Sachbuch nach der Wiedervereinigung ist so oft über den Tresen gegangen. Jedoch läßt sich naturgemäß nicht ermitteln, wer es durchgelesen hat – oder auch nur zur Hälfte.)
Das wahrhaft schillernde Buch über die DDR-Frau war jedenfalls sehr präsent und formulierte ein Leitbild. Man ging von einer vierfachen Bestimmung der Frau aus: Mutter, Hausherrin, Gefährtin des Mannes, Erwerbstätige. Unbestritten war die Ostfrau in diesem Sinne Avantgarde: In puncto Emanzipation war die DDR dem Westen um Meilen voraus – logisch mit allen Schattenseiten. Allerdings bildete die Kleine Enzyklopädie. Die Frau keinen DDR-Mainstream ab – das Buch war ein ideologisches Projekt.
Das gilt um so mehr für ein weiteres Volksbuch der DDR: Weltall Erde Mensch. Dieses Werk wurde zwischen 1954 und 1974 vier Millionen Mal gedruckt. Kein Buch in den »glorreichen Jahrzehnten« der DDR erfuhr eine höhere Auflage. Jeder, der in dieser Zeit zur Jugendweihe ging, kennt es (weil es das Standardgeschenk war). Walter Ulbricht hatte ein Vorwort zu dieser strikt antireligiösen Aufklärungsschrift geliefert: »Dieses Buch ist das Buch der Wahrheit«. Anders als Sarrazin (dort: Im Gegenteil! Angela Merkel riet dezidiert von der Lektüre ab! Der Erfolg dieses intellektuellen »Volksbuchs« resultierte gesichert aus den Mechanismen des freien Marktes) wurden die beiden DDR-Volksbücher staatlich gefördert und eingesetzt.
Nun bin ich auf ein zumindest teilweise vergleichbares Buchpendant aus der »BRD« gestoßen. Ob es öffentlich bezuschußt wurde, konnte ich nicht ermitteln. Das praktische Lexikon der Naturheilkunde von Dr. Ernst Meyer-Camberg erschien erstmals 1953 im C. Bertelsmann Verlag, einem Verlag mithin, der damals arg mit der »Verarbeitung« seiner NS-Vergangenheit zu tun hatte. (Bis heute liegt Bertelsmann vorn an der Büßerfront!) Mir liegt die »14. Auflage 105.–106. Tausend 1963« vor.
Das fast fünfhundertseitige Buch muß ebenfalls extrem weite Verbreitung erfahren haben. Ein sogenanntes Hausbuch! Autor Meyer hatte im Zweiten Weltkrieg als Oberstabsarzt bei verschiedenen Panzerdivisionen und als leitender Internist in Kriegslazaretten gedient. Nachdem er sich 1949 als naturheilkundlicher Internist im rheinhessischen Bad Camberg niedergelassen hatte, ergänzte er seinen banalen Nachnamen – man kennt solche »Befindlichkeiten«, nehmen wir nur Paul Schultze-Naumburg.
Meyer-Cambergs Volksbuch ist heute für ein paar Euro zu haben. Lohnt sich! Wir leben in Ratgeberzeiten – aber welcher Ratgeber erreichte je eine solche Dichte, ein solches Monopol zu seiner Zeit? Heute kann sich der Konsument für die Low-Carb- oder für die vegane Schiene entscheiden, für Achtsamkeit oder die Suche nach dem »inneren Kind«, für ketogene Diät oder Intervallfasten oder für x andere Rezepturen zum korrekten Leben – vor siebzig Jahren galt avant la lettre »all in one«: ein Buch, das einfach alles weiß über alternative Lebensführung. Das ist hoch interessant!
Der Blick in dieses Lexikon (von A wie »Abbinden« – »kann auch mit einem dünnen Strick erfolgen« – bis Z wie Zwölffingerdarmgeschwür – »Schmerz, der nach dem Genuß von etwas Milch verschwindet«) ist Gold wert. Schön sind die 74 Abbildungen und 95 Fotografien. Natürlich sehen wir Fotos von »Ausschlag-Krankheiten« (Masern, Windpocken, Scharlach, Nesselsucht), aber auch hübsche Frauen bei Badekuren (»Die Luftbläschen der Schaumbäder heben die Schwerkraft des Wassers auf, beruhigen das Nervensystem und entlasten außerdem den Kreislauf«) und virile Männer in der Sauna. Schön ist die vollbusige Brünette, die vom Hals abwärts in Schlamm präsentiert wird. Unterschrift: »Ein Moorbad ist anstrengend und sollte nur auf ärztliche Verordnung genommen werden«. Wir sehen fitte Senioren bei Leibesübungen, riefenstahlartige Bilder von sich körperlich Ertüchtigenden und von fröhlichen Patienten (Zauberberg-mäßig) bei der Freiluftbehandlung. Man zeigt uns in Schwarzweiß Säuglinge, deren Körper verrückt verknotet werden, um ihre Gelenkigkeit zu überprüfen. So machten sie es damals! Ja, die fünfziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts waren aus heutiger Sicht skurril.
Diese Enzyklopädie erschien zu Zeiten, als meine Eltern Schulkinder waren. Schon daher interessiert mich, was damals »trendete«. Noch bevor das Buch beginnt, wird auf die wichtigsten Stichwörter »zum Aufbau einer gesunden Lebensweise« hingewiesen, als fast track gewissermaßen: »Ganzheit, Lebensform, Abhärtung, Barfußlaufen, Kleidung, Luftbad, Enthaltsamkeit.« Interessant: Wir befinden uns etwa sechzig Jahre nach dem Höhepunkt der Lebensreformbewegung und acht Jahre nach dem Ende der »Dritten Reiches«. Ins geschichtliche Gedächtnis sind die späteren 1950er Jahre eher als Zeit des »großen Fressens«, als Beginn des Massenkonsums eingegangen. Offenkundig war dieser Long- und Bestseller Teil einer Gegenbewegung.
Schauen wir einzelne Lemmata an. Einige darunter sind schon aufgrund ihrer heutigen Unzeitgemäßheit besonders: Nehmen wir den »Hängebauch« oder die »Hängebrust« – undenkbar in Zeiten der Body Positivity! Und: Wer würde heute schon Themen wie »Handschweiß«, »Seifenstuhl« oder »Stigmatisation« (also das Aufweisen der Wundmale Jesu) ernsthaft in einem Lexikon bemühen?
»Abhärtung« wird durchgängig als wichtiges Generalmittel begriffen: »A. ist das systematische Gegenwirken gegen die verweichlichenden Einflüsse der zivilisatorischen Lebensweise. Da diese dem Menschen Anstrengungen und unangenehme äußere Einflüsse zu ersparen versucht, verkümmern die Abwehrregulationen, und der Mensch reagiert auf unerwartete Einflüsse mit krankhaften Erscheinungen. Er ist verweichlicht. Durch Kleidung, Wohnung, Heizung leidet vor allem die Anpassung an natürliche Wärmeregulationen. […] Die A. hat schon im Kindesalter zu beginnen. Aufenthalt in gut gelüfteten, nicht überheizten Räumen, nicht zu weiche und zu warme Betten. Luftbad und Freiluftgymnastik auch bei kühlem Wetter.«
Dieses ehemalige Volksbuch ist eine Fundgrube par excellence. Man kann sich lesend in jede Seite vergraben. Was hatte unser Volk allein an Wickeln und Güssen parat! Kopfgüsse, Brustgüsse, Blitzgüsse, Halswickel, Beinwickel, Ganzkörperwickel, ein Lehmsitzbad: »mit nur wenigen Spatenstichen ausgehoben«. Dampfwickel, Dampfkompressen: vergessene Heiltechniken! »Fünf Pfd. Kürbis täglich [!] entwässern hervorragend!« Die »Dusche / Brause« war noch nicht im Alltag angekommen. Kleinkinder dürften keinesfalls dieser Prozedur ausgesetzt werden, desgleichen »nervöse und schwächliche« Menschen. »Eisgetränke« und Schweinefleisch: striktes »No-Go«!
Interessanterweise gab es bereits Brotmoden. Kollath-Müsli, Frischkornbrei und Bircher-Benner-Müsli (dessen Erfinder 1939 ein »Volkssanatorium für Ordnungstherapie« gründete und die Ernährung möglichst muttermilchähnlich gestalten wollte) standen unterschiedlichen Brotsorten gegenüber: Steinmetzbrot und Klopferbrot konkurrierten mit Graham‑, Waerland- und Schlüterbrot. Wer kennt eigentlich noch das »Fletschern«, damals anscheinend überaus populär? Der Schriftsteller Horace Fletcher (1849 – 1919) war zu der Erkenntnis gelangt, daß man sämtliche Speisen am besten so lange im Mund zerkaut, bis sie verflüssigt sind.
Es gibt großartige Zeichnungen – etwa zu »Baunscheidts Lebenswecker«: Der Bonner Mechaniker Carl Baunscheidt (1809 – 1873) konstruierte »eine Scheibe von 2 cm Durchmesser, auf der 20 – 30 feine Nadeln stehen. Durch eine Abschnellvorrichtung werden sie in die Haut gebohrt, so daß mit diesem Instrument die Haut in mehr oder weniger großer Ausdehnung gestichelt werden kann.« Eingerieben wird hernach ein »besonders Hautreizöl«, am besten natürlich das sogenannte Baunscheidtöl. Der daraus resultierende »furunkelartige Ausschlag« werde »innerhalb von Tagen eintrocknen.« Und voilà: »Chronische Entzündungen, Krämpfe und Reizzustände sind nach wenigen Tagen perdu!«
Spaß beiseite: Dieses Lexikon führt uns mit (berechtigt) ernster Stimme allerlei vor, was heute eigentlich als »arkan« gilt. Wer spricht heute noch von »Konstitutionstypen«? Niemand. Zwar ist »Individualität« heute in aller Munde, doch wird in der Schulmedizin habituell und tüchtig über den Kamm geschoren. Hier finden wir Typenlehren in interessantesten Ausprägungen. Geheimwissenschaften wie »Hellsehen«, Irisdiagnostik oder Individualpsychologie nach Alfred Adler etc. werden hier glasklar auf ihre Plätze verwiesen. Atemübungen, Homöopathie, Chirologie (Handlesekunst) erhalten hingegen Raum.
Nicht alles an den frivolen fünfziger Freßjahren war verkehrt. Vieles darunter ist schlicht erheiternd. Zur Lektüre wird geraten!