Stellvertretend für andere sind sein Lob der Grenze, seine Philosophie der modernen Kunst, besonders aber seine Äußerungen zur Bildungspolitik anzuführen. Das Echo war meist beträchtlich. Mit Recht gilt er als einer der führenden Intellektuellen seines Landes. Einer der Gründe für seine langjährige Präsenz in der öffentlichen Meinung ist seine Gewohnheit, sich von keiner Seite vereinnahmen zu lassen.
Um sich breiteres Gehör zu verschaffen, publizierte der Gelehrte auch Essays, Kolumnen und Glossen in Zeitschriften, Magazinen und Sammelbänden. Eine Reihe dieser bereits veröffentlichten Texte hat er in dem Band Lauter Lügen zusammengestellt. Als Schwerpunkte kristallisieren sich die Bereiche Verschwörungsmythologien, Kultur und politische Moral, soziale Beziehungen, Bildungstheorie, Erörterungen zwischen Pandemie und Klimawandel sowie Anmerkungen zum Diskurs über Werte heraus.
Angesichts der Vielzahl der Themen, die angeschnitten werden, überrascht es nicht, daß ein roter Faden schwer auszumachen ist. Die mäandernde Tendenz ist nicht zufällig.
So verweist der Autor auf die Vielgestaltigkeit eines Themas wie der Lüge, die nicht pauschal negativ einzuschätzen sei. Für die Dichter ist sie seit alters her ein wichtiger Teil ihres Geschäftsmodells. Platon, der Dichterkritiker, weiß sogar etwas mit der »edlen Lüge« anzufangen. Liessmann bemerkt immerhin, daß nicht nur »böse« Populisten, sondern auch »Gute« wie der Spiegel-Journalist Relotius die Fakten kreativ verfälschen und erfinden.
Ähnlich komplex ist das vielschichtige Phänomen des Hasses, das man nicht gut zu finden braucht, das aber dennoch eine fundierte Analyse verdient. Liessmann bemüht sich darum. Oft ist Haß eine Verhaltensweise, die die Schwäche der Ohnmächtigen zum Ausdruck bringt. Nicht selten verbirgt sich dahinter der strukturelle Hintergrund der »Repräsentationslücke« (Werner Patzelt), die häufig nicht eingebildet ist.
Auch an Verschwörungstheorien arbeitet sich Liessmann ab, wenngleich an manchen Stellen eher auf naive Weise. Er empfiehlt als Antidot gegen solche unangenehmen Argumentationsweisen »Bildung, Bildung, Bildung«. Wenn nur alles so einfach wäre! Man muß kein Kenner dieses vielschichtigen Genres sein, um zu wissen, daß die Kontrolle eines Gutteils der öffentlichen wie veröffentlichten Meinung durch eine relativ überschaubare Zahl von Spin-Doctors faktisch Ausgrenzung bestimmter, nichtgenehmer Meinungen bedeutet, die sich häufig auf alternativen Wegen ihre Bahnen brechen.
Soweit die formale Seite, die nichts über den Inhalt solcher Auffassungen besagt. Auf Art und Weise eines Komplotts entstandene Theorien können, wie andere auch, richtig oder falsch sein. Zu einer solchen Erkenntnis kann sich Liessmann nicht durchringen. Er schafft es nur, Verschwörungstheorien ihrem inhärenten »künstlerischen Potential« nach zu werten. Nicht gerade ein durchschlagender Geistesblitz!
Liessmann gelingt es auch auf anderen Feldern, kritische Blicke zu schärfen, etwa im Kontext der Debatte über digitale Bildung. Das ist nicht nichts, aber auch nicht besonders viel. Das Panorama unserer Gesellschaft, das der Wiener Philosoph entwirft, ist nicht nur ein »Mosaik ihrer Irrtümer und Selbsttäuschungen«, wie es in einer Buchbeschreibung heißt; vielmehr ist unübersehbar, daß der Autor selbst öfters keinen Kompaß besitzt, sich in diesem Gestrüpp zu orientieren.
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Konrad Paul Liessmann: Lauter Lügen, Wien: Paul Zsolnay Verlag 2023. 254 S., 26 €
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