Bisher mußte man sich bei der Spurensuche durch orbánkritische Litertur linksliberaler Autoren wühlen. Erst Werner Patzelts Buch widmete sich dem Phänomen einigermaßen neutral. Nun spricht mit Békés erstmals ein Veteran und Akteur der metapolitischen Kämpfe in der pannonischen Tiefebene.
Der Herausgeber des Ungarischen Kommentár, ein mit der Sezession vergleichbares Magazins, beschreibt in dem Buch Wesen, Funktionsweise und Tragweite der magyarischen Kulturrevolution.
Orbáns mehr als zehnjährige Regierungszeit, in der bei jeder Wahl die absolute Mehrheit erreicht wurde, bezeichnet Békés als „Epoche“ und „historischen Block“ im Sinne Gramscis. Die Leitidee, die über Fidesz hinaus die gesamte Gesellschaft kulturell prägt, ist die Antithese zum Globalismus und die „nationale Integration“ der Gesellschaft. Ungarn ist damit die nationale Manifestation des Antiglobalismus, ja Vorbild und Vaterland aller „somewheres“. Das, wovon Rechtsgramscianer lange träumten, wurde 2010 in Ungarn realisiert.
Békés zeigt sich als beeindruckender Kenner aktueller und klassischer politischer Theorie: Gramsci, Mouffe, Ferrero, Furedi werden laufend zitiert. Dazu versteht er es, komplexe Theorien simpel zu erklären. Die entscheidende Lektion seines Buches lautet in meinen Augen: Die „kulturelle Hegemonie“ die Orbán errungen hat, wird auch über den Wahlsieg hinaus durch die ständige politische Mobilisierung der Bevölkerung aufrecht erhalten.
Über legitimitätsstiftende Referenden und zivilgesellschaftliche Demos (zum patriotischen „Friedensmarsch 2012” kamen 400.000 Ungarn) werden der Regierung ständig metapolitische Ressourcen zugeleitet. Die Zivilgesellschaft ist der Schlüssel. Sie bereitete Orbáns Wahlsieg vor und liefert ihm nach wie vor „metapolitischen Flankenschutz“ in seinem Generationenprojekt.
Der “Nationale Konsens” und die “Konsensuale Hegemonie” stellen eine realistische, rechte Vision im 21. Jahrhundert dar. Diese ist nicht antidemokratisch und „autoritär“. Die nationale Hegemonie schafft einen antiglobalistischen Schutzraum für eine sinnvolle demokratische Debatte. Im Zentrum steht die nationale Integration der Gesellschaft.
Die rote Linie ist der globalistische Landesverrat, ob er sich in Technokratie, „Globohomo“, Vasallentum oder Ersetzungsmigration äußert. Nach einer patriotischen Kulturrevolution und der Etablierung des „nationalen Konses“, kann eine nationale Debatte sogar “freiheitlicher” und dynamischer sein als im liberalen Westen. Gerade weil ein Konsens über die Grundlage des Politischen und das “nationale Wir“ besteht, wird Meinungspluralismus in anderen Themenbereichen weniger riskant.
Békés’ Buch beschreibt somit nicht nur die letzten 30 Jahre der ungarischen Politikgeschichte und zählt Wirkungsweisen und Erfolge ihrer patriotischen Kulturrevolution auf. Er liefert, in nuce, eine politische Theorie, die Demokratie, Konservativismus, Freiheitlichkeit und Solidarität in sich vereint. Der „Nationale Konsens“ könnte zum strategischen Zielbegriff einer modernen Rechten jenseits von liberalkonservativer Belanglosigkeit und überkommenen Totalitarismen werden.
Békés, der selbst hervorragend Deutsch spricht, wird hoffentlich mit seinen Ideen und Begriffen in den deutschsprachigen Raum ausstrahlen.
Márton Békés: Nationaler Block, 120 Seiten, 16 €.
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Schauen
Inspirationen warten überall. Ich finde sie auf Litfaßsäulen, in Ornamenten auf Zäunen, auf Ikonen, alten Filmplakaten und gelegentlich auf mittelalterlichen Standarten. Einige Leser des Blogs wissen, daß ich neben meinen diversen Tätigkeiten auch immer wieder als Grafiker arbeite.
Das war eine Notwendigkeit, da in den Jahren des Aktivismus nicht immer ein professioneller Designer zur Stelle war. So brachte ich mir die wesentlichen Dinge, so gut es eben ging, selbst bei. Über die Jahre ging ein guter Teil der identitären Aufkleber, T‑Shirts, Plakate, Aktionsvideos und Netzseiten auf mein Konto.
Das war ein Gebot der Not, kein innerer Drang. Von Natur aus kein Künstler, lechze ich daher ständig nach Inspiration für meine grafischen Entwürfe.Eine meiner Lieblingsquellen dazu ist ältere und moderne Plakatkunst.
Die Serie „100 beste Plakate“ prämiert jedes Jahr mit einer Fachjury die kreativsten und beeindruckendsten Werke im deutschsprachigen Raum. Zwar geht es hier stark ins Avantgardistische und Abstrakte. Marketing und Agitation stehen im Hintergrund. Doch immer wieder inspirieren mich hier gerade die Experimente mit Schriftarten und Formen. Die Folge 2022 ist eine „Bonbonnière fürs Auge“, auch für Nichtdesigner.
100 Beste Plakate 22, Deutschland, Österreich, Schweiz, 328 Seiten, 29,90 €.
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Lesen
Letztes Jahr bat mich Götz Kubitschek erstmals, drei Weihnachtsempfehlungen abzugeben. In der Rubrik „Lesen“ war ich hin- und hergerissen. Sollte ich mit klassischen oder kontemporären Romanen der höheren Literatur glänzen? Verlöre ich meine „Schnellroda-Kredibilität“, wenn ich gestehen würde, daß mich ein – horribile dictu – „Science-Fiction-Roman“ am meisten begeistert hatte? Fälschlicherweise wird dieses Genre häufig noch dem Groschenroman zugeschriebenen.
Letztlich siegte die Aufrichtigkeit über die Sorge um den Ruf. Ich stellte „Die drei Sonnen“ von Cixin Liu vor. Einige gratulierten mir persönlich dazu. Sie freuten sich verschämt, daß sie nicht die einzigen SIN-Leser waren, die insgeheim Science Fiction lasen. Dennoch war ich mir nicht sicher, ob das auf den Blog paßte.
Und dann, der Ritterschlag für Liu: Kubitschek selbst berichtete mir im Sommer 23 mit strahlenden Augen, daß er die „3‑Sonnen“ ‑Trilogie (als Hörbuch) bei einer Autofahrt in einem Stück durchgehört hatte. Er war fasziniert von dem Stoff. Ich hoffe, ich begehe damit hier keine Indiskretion. Mir schenkte es jedenfalls den Mut, auch dieses Jahr wieder ein „Science-Fiction“-Buch vorzustellen. Die höhere Literatur überlasse ich den Berufeneren. Zwar lese ich auch diese Bücher, vor allem sofern sie von Kositza und Kubtischek als „Pflichtlektüren“ vorgestellt werden. Sie gefallen mir auch, nur habe ich meist dazu weniger zu sagen als die beiden.
Daher zieht es mich auch diesmal zum vielleicht „politischsten“ Genre der Literatur. Diesmal stelle ich ein Buch vor, das zwar etwas hinter der Epik von den „3 Sonnen“ zurückbleibt, nichtsdestoweniger ein interessantes Szenario entwickelt. In Sharpsons Ecce Machina befinden wir uns in der Frühphase der „Singularität“. Drei „SuperKIs“, die von den USA, der EU und China in einem fieberhaften „Wettcoden“ entwickelt wurden, beherrschen die zivilisierte Welt.
Geschickt beschreibt Sharpson ihre schleichende Machtübernahme. Wer ihre „Politberatungsangebote“ annahm, war, ob als Staat oder Partei, einfach langfristig erfolgreicher. Anti-KI-Politiker kamen zwar hie und da an die Macht, doch ohne diese KI-Beratung scheiterten sie regelmäßig. Ein weiteres wichtiges Axiom des Gedankenexperiments: Die KIs entwickelten ein Bewußtsein und bekamen schrittweise Bürgerrechte zugesprochen. Sie können sich in täuschend echte Androidenkörper „herunterladen“ und wandeln teils unerkannt unter Menschen.
Zeitgleich wandern mehr und mehr echte Menschen in die digitale Welt ab. „Contranen“ nennt sich der Vorgang, bei dem ein Bewußtsein mit einer „Datennadel“ erfaßt und digitalisiert wird. Allein, dabei stirbt der reale Mensch. Das ist auch nötig, da in der neuen Gesellschaft ein strenges Verbot der Bewußtseinsduplikation besteht. Ein Großteil der Menschen existiert bereits als „contrantes“ Daten-Ich im „world wide web“.
Die ganze Welt ist auf dem Weg in eine friedliche Techno-Utopie. Die ganze Welt? Nein, ein Staat leistet Widerstand. Die „kaspische Republik“ wurde von der technikkritischen Bewegung der „Neohumanisten“ auf dem Gebiet des heutigen Aserbaidschan errichtet.
Als die Bewegung merkte, daß sie global, politisch und kulturell keine Chance hatte, folgte sie der „Strategie der Sammlung“. Die Antitranshumanisten aus aller Herren Länder sammelten sich in einem ärmlichen, instabilen Land. Nach Abwehrreaktionen der Einheimischen kam es zum Putsch und teilweisen Völkermord. Seitdem herrscht dort die „Republik Kaspien“, eine Mischung aus Nordkorea, DDR und George Orwells England.
Aus Angst vor Überwachung gibt es kein Internet. Alles ist auf dem Stand des Kalten Kriegs. „Contranen“ ist ebenso streng verboten wie die Auswanderung. Die Gesellschaft wird von einer totalitären Partei und ihrem politischen Arm der „Stasich“ (Staatssicherheit) reagiert, die Jagd auf Verräter oder gar eingeschleuste KIs macht.
Der Rest der Welt belegt die Republik Kaspien mit brutalen Embargos, vor allem weil sie die regelmäßigen neohumanistischen Terroranschläge finanziert, die ihre schöne digitale Welt erschüttern. Armut, Alkoholismus, ideologischer Fanatismus, Intrigen und Überwachung regieren die Republik. Die Stimmung gleicht einer Mischung aus „Bladerunner“, „1984“ und dem Film „Das Leben der Anderen“.
Zur Geschichte, einem klassischen Film-noir-Detektivstoff um den Mordfall an einem wichtigten Propagandisten der Republik, will ich hier wenig sagen. Sie hält leider nur teilweise mit der Kreativität des fantasievollen Weltaufbaus mit. Dennoch lohnt sich die Lektüre.
Der Autor wirft viele philosophische Fragen auf, die angesichts des Transhumanismus nicht mehr bloße Fantasie sind: Was ist ein Bewußtsein? Ab wann wäre eine KI ein Mensch? Was ist der Sinn des menschlichen Lebens? Kann und soll man die Entwicklung aufhalten? Seine finalen Antworten auf diese Fragen im Buch lehne ich ab. Doch die Art und Weise, wie er radikal zu Ende denkt, worauf ein Widerstand gegen Digitalisierung und Transhumanismus hinausliefe, ist faszinierend. Die Welt von „Ecce Machina” bleibt im Kopf.
Neil Sharpson: Ecce Machina, Die Seele der Maschine, Piper, 416 Seiten, 22 €.
Boreas
Gegen den Konsum literarischer Utopien ist überhaupt nichts einzuwenden wenn sie denn gut geschrieben sind. Das war bei der "Schwarzen Sonne von Tashi Lhunpo" so und gilt für viele andere Titel ebenso. Ein kluger Dresdener Literaturprofessor vertrat mir gegenüber mal die These, man könne in solchen Utopien bestimmte Entwicklungstendenzen der Gesellschaft ablesen und ermutigte mich zu derlei Lektüre, der ich doch sehr der Prosa im 19. und 20. Jahrhundert verhaftet bin. Man ist dankbar über Empfehlung mit gewisser Referenz, da das Genre auch jede Menge Schrott bietet.