Er konnte so wunderbar polemisch sein, der Reichsritter Ulrich von Hutten. Differenzierung war nicht seine Stärke. Für ihn gab es richtig und falsch, seine Sicht – und die verbohrte Idiotie des Gegners, den er literarisch gern und reichlich vorführte.
Eine der populärsten Gestalten des Reformationszeitalters war er, seine Stimme hatte Gewicht, er galt als meinungsprägend. Er war einer der bedeutendsten deutschen Humanisten der Renaissance, der seinerzeit meistgedruckte und meistgelesene, ein Schriftsteller und Dichter von außerordentlichem Rang.
Seine Sprache war – natürlich – das Lateinische. Um der Wirkung seiner politischen Anliegen willen schrieb er später auch auf deutsch. Die von ihm praktizierte literarische Form des Dialogs wurde prägend. Immer wieder hervorgehoben wird – zu Recht – sein 1521 verfaßtes Gedicht »Ich habs gewagt mit Sinnen«.
Papst und Fürsten bekämpfte er, die Sache eines starken Kaisers, das Reich, war seine Sache. Ebenso die Reformation; im Unterschied zu Luther mochte er hier nicht nur auf das Wort setzen, das Schwert war ihm ein probates Mittel. Dabei waren Recht und Staatsordnung wesentliche Elemente seines Denkens. Die Dichterkrone bekam er von Kaiser Maximilian I., ein nennenswert herausgehobenes Amt bekleidete der poeta laureatus nie.
Die Freiheit war sein Thema, immer wieder die Freiheit. Die universale Kaiseridee, das Europäische, die umfassende Abendland-Vorstellung traten später zurück – Deutschland, die deutsche Nation, das Nationalbewußtsein waren die Ideen, für die er nun stand. (Dem Einwand, damalige Begrifflichkeiten seien nicht unbedingt mit dem heutigen Verständnis zu lesen, Versatzstücke nicht kritiklos zu gebrauchen, sei stattgegeben; bloß tut dies Huttens historischer Wirkmächtigkeit keinen Abbruch.) Heinrich Grimm resümiert in seiner 1971 erschienenen Hutten-Biographie lapidar und treffend: »Auf weite Sicht schlug er eine Bresche für die geistige und politische Weiterentwicklung der deutschen Nation.«
Gerade einmal 35 Jahre war Ulrich von Hutten alt, als er am 29. August 1523 auf der im Zürichsee gelegenen Insel Ufenau verstarb. Elend waren die Umstände. Geflohen war er aus Deutschland, der von ihm verehrte Erasmus von Rotterdam, der ihn einst gefördert hatte, wollte ihn in Basel nicht einmal mehr empfangen. Der mittellose Hutten ging schließlich an einer Syphilis zugrunde, unter der er anderthalb Jahrzehnte gelitten hatte. Hinterlassen hat er – hier erfreut uns die Überlieferung mit einem Bilderbuch-Klischee eines darbenden Intellektuellen – »an Hausrat nichts außer einer Feder«.
Am Ende war er ein Verfolgter, einer, der sich durch seine langjährigen verbalen Angriffe reichlich Feinde geschaffen und sich schließlich auch noch als dilettantischer Aufwiegler in der Praxis versucht hatte. Huttens Anhänger gedachten seiner verehrend, vergessen wurde er nie. Aber bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts war er vor allem als humanistischer Dichter von Interesse. Das politische Wollen und Wirken trat in den Hintergrund, wurde allerdings bei Bedarf mobilisiert.
So etwa erschien während des Dreißigjährigen Krieges mit dem Ziel, die Einigung der Protestanten gegen die Katholiken zu unterstützen, eine Schrift Huttens von 1520 mit dem nunmehr geänderten Titel »Aufwecker teutscher Nation«. Der »ganze« Hutten wurde schließlich »wiederentdeckt«, nachdem ihn Johann Gottfried Herder 1776 in einer Abhandlung als »Märtyrer der teutschen Freiheit« vorgestellt hatte. Schwer überschaubar sind die vielfältigen Thematisierungen Huttens in Politik, Publizistik, Wissenschaft und Literatur.
Die Spannbreite der Inanspruchnahme könnte kaum größer sein. Joseph Goebbels zeigte sich ebenso angetan wie ein Jahrhundert zuvor der mit der Arbeiterbewegung verbundene Dichter Georg Herwegh, der Hutten als »Heiland, der sich für das deutsche Volk ans Kreuz schlagen ließ«, feierte. David Starr Jordan, der erste Präsident der 1891 gegründeten kalifornischen Stanford University, sorgte dafür, daß das Hutten-Zitat »Die Luft der Freiheit weht« zum offiziellen Motto der Hochschule wurde – in deutscher Sprache.
Hutten, der die Zeit in die Schranken, oder besser, den Zeitgenossen den Weg weisen wollte, hätte ein einfacheres Leben haben können. Es wurde ein Abenteuer mit stetigen Ortswechseln, Erfolgen, Anfeindungen – und mit einer stupenden literarischen Produktivität. Stets war da der Drang nach einem Aufbruch – im direkten und noch viel mehr im metaphorischen Sinne. Oft hatten die Veröffentlichungen konkrete Anlässe, um dann aber schnell ins Allgemeingültige überzugehen.
Der Drang, die Dinge zu sagen (oft kunstvoll formuliert und allein schon deshalb überdauernswert), mitzureißen und zu handeln, war früh erkennbar. Woher er vor allem die physische Kraft nahm, bleibt ein Rätsel. Er verstand sich als aktiver Humanist: »Das Wissen von uns allen, die wir im Schatten – das heißt abseits des tätigen Lebens – philosophieren und uns nicht zu Taten erheben, ist ein Nichtwissen.« Den Gedanken formulierte er mehrfach, so etwa auch in einem Schreiben an den Gelehrten Crotus Rubeanus: »Wir sind nichts, Crotus, und hören nicht eher auf, nichts zu sein, bis wir irgendeine Rolle in dieser Komödie übernehmen.«
Zum Rahmen der Komödie also: Geboren am 21. April 1488 auf Burg Steckelberg bei Schlüchtern, dem Stammsitz der Familie, wird dem schwächlichen Kind die Verwaltung des Erbes, die ihm als Erstgeborenem zugestanden hätte, nicht zugetraut. Hutten, der tatsächlich eine zierliche Konstitution aufweist und später eine Körpergröße von lediglich 1,55 Metern erreichen sollte, auch für damalige Verhältnisse klein, wird mit elf Jahren der Reichsabtei Fulda überantwortet und zum Mönch bestimmt.
Überlieferungslücken und »Ergänzungen« späterer Geschichtsschreiber sind in Huttens Biographie immer wieder anzutreffen. So paßt es gut in das Bild des »Revolutionärs«, daß er sich der Enge des Klosters durch eine dramatische Flucht entzogen habe. Weniger spektakulär wäre eine Abordnung zu einem zweijährigen Studium nach Erfurt, wo er für den Humanismus gewonnen wird. Beide Varianten sind ungesichert.
Tatsache ist, daß er einem kontemplativen Leben hinter den Mauern einer Abtei die große, weite Welt vorzieht. »Besser gefiel mir der Plan, hinaus in die Ferne zu reisen, während die Jugend mir noch grüne mit fröhlichem Trieb«, dichtet er wenige Jahre später. Gegen Ende seines Lebens verklärt er die Entscheidung gegen das Kloster mit den Worten, er sei zu der Einsicht gelangt, »in einem anderen Stand viel besser gottgefällig und der Welt nützlich« sein zu können.
Das Sommersemester 1505 verbringt er an der Universität Mainz, es folgen Köln, Frankfurt (Oder), Leipzig, Greifswald, Rostock und Wittenberg. Sein Ehrgeiz gilt seiner Bildung, diese sei »wahrer Reichtum«. Als werdender Humanist steht er gegen den Primat der Theologie, gegen die Scholastik. Nicht um die Heilserwartung im Jenseits, sondern um das Individuum, um die Bildung des Menschen im Hier und Jetzt ist es ihm zu tun.
In Leipzig steckt er sich mit der Syphilis an, das lebenslange Leiden und die qualvollen Therapien kommen bei ihm immer wieder zur Sprache. Über die »Heilkraft des Guajakholzes«, auf die er große Hoffnungen setzt, verfaßt er später, begeistert und kundig in den medizinischen Begrifflichkeiten, ein Büchlein, welches im Unterschied zur Therapie ein Erfolg wird.
Ein unangenehmes Erlebnis zum Ende seines Aufenthalts in Greifswald – die Familie seines vormaligen scholastischen Gastgebers und Gönners läßt ihn überfallen und ausrauben – veranlaßt ihn zur Abfassung des im Herbst 1510 gedruckten Werkes Querelae in Lossios (»Lötze-Klagen«). Es handelt sich um eine Gedichtsammlung, die lateinische Poesie beherrscht Hutten souverän. »Worte verändern die Menschen, Worte haben Gewicht!« verkündet er.
Ausgehend von dem erfahrenen Unrecht, stellt er, weit darüber hinausgreifend, die Front des Humanismus gegen die Scholastik, aus einem persönlichen Konflikt wird eine Angelegenheit für die Öffentlichkeit, ein Muster, dem Hutten auch künftig folgen wird. »Deutschlands Dichter, die das Vaterland ehrt«, läßt er seine Muse im letzten Teil des Werkes besuchen: Hutten präsentiert Porträts von etwa 50 Dichtern seiner Gegenwart, deutschen Humanisten, in deren Reihe er sich damit selbst stellen will. Hier ist er noch der »rein kulturelle« Hutten, die Politik tritt erst mit der nächsten Lebensstation hinzu, mit seinem Aufenthalt in Wien, wo er 1511 eintrifft.
Dort übt das Denken des 1508 verstorbenen »Erzhumanisten« Conrad Celtis großen Einfluß auf Hutten aus, gepflegt und weitergetragen durch die von Celtis begründeten Kreise. Wie andere Humanisten orientierte sich auch Celtis an den klassisch-antiken Autoren, nahm allerdings auch die kulturellen Hervorbringungen der Deutschen in Abgrenzung zu den Italienern in den Blick. Neben der politischen Führung im Reich sah Celtis die Aufgabe der Deutschen auch in der Übernahme der kulturellen Führung. Hutten nimmt dies auf; Interesse für deutsche Geschichte und tagespolitische Fragen sind bei ihm seit seinem Wiener Aufenthalt stark ausgeprägt.
An den humanistenfreundlichen Kaiser Maximilian I. verfaßt er in Gedichtform eine »Mahnrede«, den Krieg gegen die Venezianer fortzusetzen. In dieser Zeit verfaßt er auch das Gedicht »Warum Deutschland weder in seinen Tugenden noch in seinen Führern gegenüber der Vorzeit entartet ist«. Die Stärken sieht er hier im Kulturellen, weniger in der Wehrhaftigkeit.
Hutten geht nach Italien, von 1512 bis 1514 und noch einmal von 1515 bis 1517, beim zweiten Mal kommt er bis nach Rom. Seine anfängliche Kritik an der Person des Papstes wird später zu einer umfassenden Feindschaft gegenüber dem Papsttum. Zwischenzeitlich verdingt er sich im Heer des Kaisers und schließt Freundschaft mit Erasmus von Rotterdam.
Das anfänglich gute Einvernehmen mit dem zwei Jahrzehnte älteren Renaissance-Gelehrten wird später zerbrechen. Nicht nur die Temperamente – Huttens Geradlinigkeit und Erasmus’ Geschmeidigkeit – stoßen aufeinander. Hutten sieht zunehmend die deutsche Nation, Erasmus Europa in seiner Gesamtheit. Hutten will Reformen mit dem Ziel der Befreiung vom päpstlichen Einfluß, Erasmus setzt lediglich auf Erneuerung innerhalb der Kirche.
1514 nimmt Hutten Verbindungen mit dem Mainzer Erzbischof Albrecht von Brandenburg auf, in dessen Dienste er auch treten wird. Humanisten und Reformatoren setzen auf Albrecht, die letzteren wird er enttäuschen.
Hutten publiziert nahezu pausenlos. So verfaßt er aufgrund der Ermordung seines Vetters durch Herzog Ulrich von Württemberg im Jahr 1515 fünf Reden und den Dialog Phalarismus. Den Rahmen des unmittelbaren Anlasses der Veröffentlichung verläßt Hutten schnell, er richtet den Blick auf die Zustände im Reich. Die Landesfürsten, die er als Feinde der Freiheit identifiziert, greift er an, das Bild eines Tyrannen wird gezeichnet: »Was ich dir bis jetzt geraten habe, diente dazu, deine Untertanen in Furcht zu halten. Nun ist es aber auch notwendig, sich einige Leute durch Wohltaten zu verpflichten, die deine Sache dann beim gemeinen Volk fördern und das Gerücht von deiner Grausamkeit zerstreuen.«
Im sogenannten Reuchlin-Streit, der großen Auseinandersetzung zwischen Scholastikern und Humanisten, gilt Hutten als der radikalste Teilnehmer. Der zweite, 1517 gedruckte Teil der anonym erschienenen Spottschrift Dunkelmännerbriefe, in der scholastische Gelehrsamkeit und der Klerus auf das Heftigste verspottet werden, wird wohl ausschließlich von Hutten verfaßt.
Nicht nur sein literarisches Talent macht ihn zum Ausnahme-Humanisten. Die Abgeschiedenheit der Studierstube ist ihm zu wenig. An den Nürnberger Patrizier und Gelehrten Willibald Pirckheimer schreibt er im Oktober 1518, er müsse in die Welt hinaus, denn »welche Geschichten soll ich dann erzählen, über welche Dinge reden, wenn ich gar nichts erfahren habe?« Mit überschäumendem und später viel zitiertem Renaissance-Optimismus schließt er den Brief: »O Jahrhundert, o Wissenschaft! Es ist eine Lust zu leben, wenn auch noch nicht in der Stille. Die Studien blühen, die Geister regen sich. Barbarei, nimm dir einen Strick und mach’ dich auf Verbannung gefaßt!«
Huttens ebenfalls 1518 verfaßte Türkenrede, in der er fordert, nicht der Papst, sondern die Deutschen unter ihrem Kaiser sollten den Türkenkrieg führen, kennzeichnet zwei Verschiebungen seines Denkens. Zum einen vom Universalkaisertum hin zur Idee der deutschen Nation, zum anderen tritt, unlösbar mit der Nation verknüpft, der Kampf gegen die päpstliche Vormacht, der Kampf gegen die »römische Fremdherrschaft«, gegen die finanzielle Ausbeutung (es wird geschätzt, daß etwa 40 Prozent des deutschen Nationaleinkommens nach Rom flossen) immer mehr in den Vordergrund.
Zu den zahlreichen Schriften, in denen er gegen das Papsttum agitiert, zählt etwa das Gesprächbüchlein. Über den hierin enthaltenen, 1519 verfaßten Dialog »Vadiscus« sagt Hutten: »Nichts Heftigeres, nichts Offeneres ist bisher gegen die römischen Goldsauger veröffentlicht worden.«
Im November 1520 erscheint sein umfangreiches Gedicht Klag und Vermahnung gegen die übermäßige unchristliche Gewalt des Papstes zu Rom und der ungeistlichen Geistlichen. Das Besondere hier: Hutten schreibt nun – auch – auf deutsch. »Latein ich vor geschrieben hab, / das war ein jeden nicht bekannt. / Jetzt schrei ich an das Vaterland / Teutsch Nation in ihrer Sprach, / Zu bringen diesen Dingen Rach.«
Der erst 1529 postum erschienene Arminius-Dialog ist, wie die meisten Schriften Huttens, in Latein verfaßt. Gerühmt wird »der freieste, unbesiegteste und deutscheste Held«. Das Werk begründet in Deutschland den verehrenden Kult um Arminius, also Hermann, den Bezwinger des Varus im Teutoburger Wald.
Luthers Wirken nimmt Hutten erst spät zur Kenntnis. Die gemeinsame antipäpstliche Stoßrichtung ist das eine, das Ziel das andere, die Konfliktlinie ist ähnlich der zu Erasmus. Luther zielt auf die Theologie, Hutten auf politische Veränderung. Der Reichstag zu Worms 1521 und die über Luther verhängte Reichsacht werden für Hutten zur großen Enttäuschung – er hat im Sinne seiner Bestrebungen bis dahin immer noch auf den Kaiser gesetzt.
Die Stimmung in Deutschland völlig falsch einschätzend, versucht Hutten nun einen großen Aufstand gegen Rom zu entfachen. »Oft große Flamm’ von Fünklein kam« – diese Hoffnung soll sich nicht erfüllen. Das Ganze geht als »Pfaffenkrieg« in die Geschichte ein: Es handelt sich um eine Reihe von Fehdeandrohungen und kleineren Auseinandersetzungen, bei denen niemand ernsthaft zu Schaden gekommen sein soll. Nachdem Huttens Schutzherr Franz von Sickingen selbst umgekommen ist, bleibt ihm am Ende nur die Flucht in die Schweiz, wo er zwar nicht fern, aber außerhalb der Heimat sterben wird.
Das kompromißlos in den Dienst seiner Ideen gestellte Leben fasziniert und trägt zu späterer Legendenbildung bei. Seine Gedankenwelt, seine Schriften zur Ausformung der deutschen Nation wirken als Ausgangs- und Bezugspunkt in kaum zu überschätzender Weise nach.