Weil man nicht alles miteinander vergleichen darf, ist der historische Vergleich in Deutschland eine heikle Angelegenheit. Was Deutsche entlasten könnte, ist »Relativierung«, alles andere ist erlaubt.
Auf diese Weise eignet sich der historische Vergleich, richtig angewendet, besonders gut dazu, den politischen Feind zu diskreditieren. Feind ist heute jeder, der eine andere Antwort auf die aktuellen Probleme hat als das Establishment. Das Ergebnis des Vergleichs lautet in der Regel: Wenn wir dem politischen Feind nicht das Handwerk legen, sind wir bald »wieder soweit«.
Wir stehen also immer kurz vor dem Rückfall in das Dritte Reich. Diese reflexartige Feststellung kann sich auf eine bald achtzigjährige Konditionierung verlassen. In Mitteldeutschland sind es erst 33 Jahre, so daß die Reflexe dort noch nicht so gut funktionieren, wie das in den alten Bundesländern, die von Anfang an der alliierten Umerziehung unterworfen waren, der Fall ist.
Der Hinweis auf diese Zeitdifferenz genügt eigentlich, um die Unterschiede zwischen Ost und West zu erklären. Niemand Geringeres als der Historiker Heinrich August Winkler hatte die fehlende Indoktrination durch das Westfernsehen dafür verantwortlich gemacht, daß in Sachsen die Pegida-Bewegung entstanden sei. (1) Wir sollten uns von dieser Einsicht auch nicht von einem britischen Historiker abbringen lassen, der die Ursachen für diesen antiwestlichen Affekt bereits im zwölften Jahrhundert ausmachen zu können glaubt und damit eine quasi genetische Disposition der Mitteldeutschen zur AfD behauptet. (2)
Aber so einfach, wie Winkler und Hawes es sich machen, ist es selbstverständlich nicht. Wir können uns keineswegs sicher sein, daß der Politikwechsel in den östlichen Bundesländern ein Selbstläufer ist. Wie die letzten 30 Jahre gezeigt haben, braucht es auch hier die gravierenden Fehler der anderen, damit sich »das Volk« nach Alternativen umzuschauen beginnt.
Es sind jedoch ausgerechnet diese Alternativen, die sich laut offiziellem Geschichtsbild der Bundesrepublik als Irrweg erwiesen haben und schuld am Dritten Reich und am Zweiten Weltkrieg sein sollen. Das ist die übliche Hintergrundmusik. Sie wird gegenwärtig dadurch verstärkt, daß wir uns im Jahr 2023 befinden, also 100 Jahre nach dem deutschen Schicksalsjahr von 1923 leben.
Die Weimarer Republik stand damals kurz vor dem Kollaps – was angeblich republikfeindlichen Mächten zu verdanken war. Schon im vergangenen Jahr haben die Verlage zu diesem Jubiläum ihre Bücher publiziert, und nicht zu früh: Denn das Jahr 1923 wurde nicht erst am 9. November, als Hitlers Putschversuch in München scheiterte, zum dramatischen Jahr, sondern bereits am 11. Januar, als französische und belgische Truppen das deutsche Ruhrgebiet besetzten.
Auf den Klappentexten der Jubiläumsbücher ist der Vergleich der Gegenwart mit 1923 allgegenwärtig: Eine Zeit, heißt es da, »die unserer heutigen mehr gleicht, als es uns lieb ist«. (3) Oder: »Geschichte eines Vertrauensverlusts, die in manchem fatal an die Gegenwart erinnert.« (4) Und weiter: »Geschichte dieses Jahrs am Abgrund, das in manchem auf fatale Weise an die heutige Gegenwart erinnert«. (5)
Ein bißchen schneidiger: »Die Weimarer Republik wiederholt sich nicht, aber wer die digitalen Bierkeller der Gegenwart verstehen will, wird aus dem Populismus dieser Zeit viel lernen.« (6) Und zuletzt geht es um die »Geschichte dieses deutschen Schicksalsjahrs, die nicht zuletzt auch ein Lehrstück für die Gegenwart ist.« (7) Die Tendenz ist klar: 1923 ist eine Warnung für heute, 1923 kann sich jederzeit wiederholen, wenn wir nicht aufpassen und uns nicht von den berufenen Mündern die Geschichte erklären lassen.
Was ist damals geschehen? Warum ist das Jahr so wichtig und warum soll es als unheilvolle Warnung für heute gelten? Das liegt, kurz gesagt, laut den Autoren der Bücher weniger an dem französischen Einmarsch in das Ruhrgebiet als an der deutschen Reaktion darauf, die letztlich Ursache für alles Folgende gewesen sei. Der Einmarsch wurde mit der deutschen Weigerung begründet, den Reparationsforderungen der Alliierten in der gewünschten Höhe nachzukommen.
Die Franzosen wollten die Ablieferung sicherstellen und verlegten dazu eine Ingenieurmission, geschützt von 100 000 Soldaten, ins Ruhrgebiet, das zur entmilitarisierten Zone gehörte. Sie zog sich von Emmerich bis Karlsruhe beidseitig des Rheins entlang. Die daran anschließenden linksrheinischen Gebiete waren entweder bereits von den Alliierten besetzt, standen unter Verwaltung des Völkerbunds (Saarland) oder waren bereits abgetrennt (Eupen-Malmedy, Elsaß-Lothringen). Die Ruhrbesetzung betraf das Gebiet zwischen Essen und Dortmund, war aber nicht die erste Besetzung, die sich Frankreich erlaubte: Bereits 1921 hatte man die Landstriche um Duisburg, Düsseldorf, Frankfurt und Darmstadt zu Sanktionsgebieten erklärt und unter Kontrolle gebracht.
Die Vorgeschichte dieser Besetzung findet in den genannten Büchern nicht die Beachtung, die sie verdient. Es wird zwar auf die zähen Verhandlungen zwischen Deutschland und den Alliierten wegen der Höhe der Reparationen hingewiesen, jedoch nicht auf die Ursache, das Diktat von Versailles, in dem Deutschland die Alleinschuld am Ersten Weltkrieg und damit auch die entstandenen Schäden aufgebürdet wurden. Ohne diesen Knebelvertrag, der unter den üblichen Floskeln von Selbstbestimmung, Freiheit und Demokratie zustande kam, wäre es nie zu der Eskalation des Jahres 1923 gekommen.
Mehr als in jedes der aktuellen Bücher lohnt sich ein Blick in Carl Schmitts Aufsatzsammlung Positionen und Begriffe. Im Kampf mit Weimar – Genf – Versailles, die erstmals 1940 erschien. Dort sind zahlreiche Hinweise zu finden, die von der heutigen Interpretation völlig abweichen. Am 28. Juni 1919 wurde nicht nur der Versailler Vertrag unterzeichnet, sondern auch das Rheinlandabkommen, auf das die sogenannte entmilitarisierte Zone zurückgeht, die tatsächlich nur frei von deutschem Militär war, nicht aber von alliiertem.
Im Gegenteil: Links des Rheins hielten Franzosen, Belgier und Engländer ihre jeweiligen Zonen besetzt. Damit hatte man ein Druckmittel für den Fall, daß die Deutschen den Forderungen nicht nachkommen würden. Das einzuschätzen oblag den Feindmächten, insbesondere Frankreich, das diese Konstellation im Zusammenspiel mit dem Völkerbund weidlich ausnutzte. (8)
Carl Schmitt, der katholische Rheinländer, wurde, so hat Günter Maschke einmal festgestellt, durch die Okkupation von Rhein und Ruhr, die er als Professor in Bonn hautnah miterlebte, zum deutschen Nationalisten. Von diesem Erlebnis führt ein gerader Weg zum Begriff des Politischen, einer Schrift, die mit der Freund-Feind-Formel die Begrifflichkeiten zum nationalen Widerstand lieferte. (9) Die erste Fassung des Begriffs des Politischen findet sich in Positionen und Begriffe, darüber hinaus enthält der Band aber einige Aufsätze, die sich ganz konkret mit der Situation an Rhein und Ruhr beschäftigen.
Carl Schmitt ging es vor allem darum, den Verlust der Souveränität, der durch unterschiedliche Vertragskonstrukte verschleiert wurde, aufzuzeigen. »Die Formen und Methoden, mit denen ein Land und Volk zum Objekt internationaler Politik gemacht wird, haben sich […] gewandelt und sind nicht mehr dieselben wie im 19. Jahrhundert.« (10) Denn im Gegensatz zu damals werde seit 1919 die offene politische Annexion oder Angliederung vermieden, statt dessen werde ein System von Interventionsrechten geschaffen. Die Ausdeutungen der Verträge und das Zusammenfallen von Richter und Ankläger in einer Feindnation führten zu einem »Abgrund an Unbestimmtheit« auf Kosten Deutschlands.
Carl Schmitt sieht in der Neutralisierung, die ja keine ist, nur den Sinn, »alle Möglichkeiten der Verteidigung zu beseitigen und dadurch ein prädestiniertes Kriegsgebiet zu schaffen«, das den französischen Truppen völlig wehrlos ausgeliefert sei und dazu diene, »14 Millionen Deutsche zu Opfern etwaiger Kriegsmaßnahmen und einer ungeheuerlichen Art von Geiseln zu machen«. (11)
Schmitt beobachtete schon damals bei einigen Deutschen die Neigung, alles zu versuchen, »um der politischen Entscheidung zu entwischen und sich in ein problemloses, wehrloses, geschichtsloses Glück hineinzulavieren«, etwa durch die »Politik des toten Käfers«, dessen vermeintlicher Schutz in seiner Wehrlosigkeit liege, die aber oft nur dazu führe, daß der Käfer einfach zertreten werde. (12) Von hier aus gewinnt man eine andere Perspektive auf die Ereignisse des Jahres 1923, die es uns, von dort aus gesehen, durchaus erlauben, einige Gemeinsamkeiten mit der Gegenwart festzustellen:
1. die unausrottbare Illusion, daß die anderen Mächte ihre hehren Worte bezüglich Demokratie und Selbstbestimmungsrecht ernst meinen;
2. die Tendenz zur Verzwergung, wenn es darum geht, politische Entscheidungen zu treffen;
3. die verlorene Souveränität, die heute ähnlich wie damals hinter Verträgen und Bündnissen verschleiert wird.
Neben diesen allgemeinen Einsichten ist aber auch daran zu erinnern, daß die Ruhrbesetzung keine harmlose Felddienstübung oder rein symbolischen Charakters war, sondern von den Deutschen damals als unausgesprochene Kriegserklärung verstanden wurde. (13) Im Zuge der Ruhrbesetzung kam es zur Übernahme von Verwaltung und Infrastruktur durch die Franzosen, zu Massenverhaftungen und zur Ausweisung von rund 150 000 Deutschen, insbesondere Beamten, die nicht mit der Besatzungsmacht kooperierten.
Es gab an der Ruhr mehr als 200 Tote, gewaltsame Plünderungen, offenen Terror, zahlreiche Vergewaltigungen und drakonische Strafen für Widerstandskämpfer. »Dies alles wird heute«, so Günter Maschke, »en passant behandelt: Die Deutschen vergessen gern ihre Leiden, die deutschen Historiker ignorieren sie, und das ›Weltgewissen‹ interessierte sich schon damals für die Leiden der Deutschen überhaupt nicht.« (14)
Diese zwanzig Jahre alten Sätze haben nichts von ihrer Gültigkeit verloren, wenn wir die aktuellen Veröffentlichungen zu den Ereignissen von 1923 durchblättern. Der einzige Autor, der vom deutschen Leid etwas ausführlicher berichtet, ist der irische Historiker Mark Jones, der den Vergewaltigungen ein eigenes Kapitel widmet und nicht verschweigt, daß dieser Terror von den offiziellen Stellen der Franzosen oftmals noch befeuert wurde, indem solche Vergehen kaum bestraft wurden. (15)
Die deutsche Reaktion auf die Ruhrbesetzung bestand im Ruhrkampf: Mittels passiven Widerstands hoffte man den Franzosen die Sinnlosigkeit ihres Unterfangens und der Welt die ungerechte Behandlung Deutschlands vor Augen zu führen. Tatsächlich bekamen die Franzosen jetzt weniger Reparationsleistungen als vor der Besetzung. Aber deren eigentliches Ziel war ja ein anderes, nämlich die dauerhafte Kontrolle von Rhein und Ruhr, mit der die Franzosen ihre Ansprüche für alle Zeiten geltend machen wollten. Zu verhindern vermochten dies nur die Engländer und die Amerikaner, die kein Interesse an einem übermächtigen Frankreich haben konnten und nach einigen Monaten des Zauderns entsprechende Signale in Richtung Frankreich schickten.
Das Problem der Deutschen war nebenbei folgendes: Der passive Widerstand mußte finanziert werden. Die Beamten, aber auch die streikenden Arbeiter mußten leben, die Infrastruktur weiter finanziert und die stillstehenden Fabriken entschädigt werden. Die Finanzierung dieses Widerstands mit der Geldpresse führt uns zum zweiten Ereignis, das dieses Jahr zu einem Synonym für den nahenden Untergang macht: zur Hyperinflation. Deren Vorgeschichte läßt sich mit dem Buch von Volker Ullrich ganz gut nachvollziehen. (16)
Den Ersten Weltkrieg finanzierte Deutschland nicht durch Steuererhöhungen, sondern durch inländische Anleihen und durch eine lockere Kreditpolitik, so daß sich der Geldumlauf während des Krieges versechsfachte. Die Gesamtverschuldung des Reiches betrug bei Kriegsende 156 Milliarden Mark. Als Kriegsverlierer konnte man diese Summe niemandem in Rechnung stellen. Bis 1921 stiegen die Schulden um weitere 100 Milliarden Mark, weil man die lockere Geldpolitik fortsetzte, um die Kriegsfolgekosten zu bewältigen und die Arbeiter mit Lohnerhöhungen ruhigzustellen, damit nicht gleich Zweifel an der neuen Demokratie wachsen würden. Gleichzeitig begünstigte die schwache Mark den Export, so daß Deutschland, anders als die anderen europäischen Nationen, nach dem Krieg zunächst keine Rezession durchmachen mußte, sondern einen kleinen Aufschwung erlebte.
Maßstab für die Inflation war der Kurs der Mark zum Dollar, da die Mark kurz nach Kriegsbeginn von Gold entkoppelt worden war. Allerdings blieb die Goldmark als Bezugsgröße weiterhin erhalten, auch wenn es sie nicht mehr gab. Vor dem Krieg mußte man für einen Dollar 4,20 Mark bezahlen, im Mai 1919 13,50 Mark, im Februar 1920 bereits 90 Mark. Dann stabilisierte sich der Kurs etwas und betrug im Juli 1920 nur noch 1 : 37,95.
Aber ab Mai 1921, nach Veröffentlichung der konkreten Reparationsforderungen also, fiel er unaufhaltsam, und im Dezember 1921 waren es bereits 217 Mark, die man für einen Dollar bezahlen mußte. Spätestens nach dem Scheitern der Konferenz von Genua im Mai 1922 fiel der Kurs immer stärker und schneller, so daß im November 1922 der Dollar fast 10.000 Mark kostete. Der passive Widerstand führte dann zur Hyperinflation. Ende Juli 1923 lag der Dollar bei einer Million Mark, der Höhepunkt war Ende November 1923 erreicht, als der Dollar mehr als vier Billionen Mark kostete.
Hinter diesen absurden Zahlen verbirgt sich eine traumatische Erfahrung für weite Teile des deutschen Volkes. Ersparnisse und Rentenpensionen lösten sich in Luft auf, eine allgemeine Verelendung setzte ein, das Vertrauen, sich auch in Zukunft auf etwas verlassen zu können, verschwand. Wer sparte, konnte sich auf einmal nichts mehr leisten, sondern sein Geld verlor auch noch das wenige an Wert, das aktuell vorhanden war.
Geld bestimmte in einer nie dagewesenen Weise den Alltag, das moralische Fundament begann deutliche Risse zu bekommen. Alles das ist nicht nur in den Briefen und Tagebüchern der Zeit nachzulesen, sondern auch in einem Roman wie Wolf unter Wölfen von Hans Fallada, der von einer »zerfallenden, irren, kranken Zeit« sprach. (17) Und bereits Thomas Mann sah rückblickend in der Hyperinflation eine Ursache für die Ereignisse des Jahres 1933. (18)
Nutznießer der Inflation waren, neben Immobilienbesitzern, die schlagartig ihre Schulden los waren, Großunternehmen, die sagenhafte Konzerne zusammenkauften, und Devisenbesitzer, die sich alles leisten konnten, vor allem aber der Staat, dessen Schulden sich ebenfalls gleichsam in Luft auflösten. Die gesamten Kriegsschulden von 154 Milliarden Mark beliefen sich bei Einführung der Rentenmark am 15. November 1923, mit der die Hyperinflation bald beendet wurde, auf eine Summe von lediglich 15,4 Pfennigen.
Es liegt nahe, daß diese Erfahrung nicht folgenlos blieb, was das Vertrauen in die staatlichen Institutionen betraf, von denen der Deutsche traditionell die Garantie der Stabilität, wenn nicht des Fortschritts erwartete. Damit ist die dritte Krise des Jahres 1923 benannt: die Vertrauenskrise in die Demokratie, die man von allen drei Krisen natürlich am liebsten auf die heutigen Verhältnisse bezieht.
Die Ursachen dieser Vertrauenskrise sind bereits erwähnt worden: Der Versailler Vertrag und die Hyperinflation waren Ursache und Auslöser zugleich. Die Krise zeigte sich zunächst darin, daß im Reich keine stabile Regierung mehr gebildet werden konnte, weil die sogenannte Weimarer Koalition aus SPD, katholischem Zentrum und linksliberaler DDP keine Mehrheit im Parlament mehr hatte. Allein im Jahr 1923 gab es deshalb vier Kabinette, ohne daß es zu Neuwahlen gekommen war, weil sich immer wieder jemand fand, der den Auftrag zur Regierungsbildung annahm. Nicht nur die Ruhrbesetzung und die steigende Inflation sorgten für einen Entscheidungsdruck, dem die Koalitionen oftmals nicht standhielten, weil sie politisch völlig verschiedene Lösungskonzepte vertraten, sondern auch die Entwicklungen in einzelnen deutschen Ländern.
Dabei sind folgende Probleme zu unterscheiden:
1. rechte Versuche, durch einen Putsch die Machtverhältnisse zu verändern, wie zum Beispiel der Küstriner Putsch der Schwarzen Reichswehr am 1. Oktober oder Hitlers Putsch am 9. November in München;
2. separatistische Bestrebungen im Rheinland, wo Abtrünnige Morgenluft witterten und die Anwesenheit der Franzosen nutzten, um unter anderem am 21. / 22. Oktober die Rheinische Republik auszurufen (was Mitte November zur Schlacht am Siebengebirge führte);
3. kommunistische Umsturzversuche, die sich die Notlage zunutze machen wollten, um in Deutschland eine bolschewistische Revolution herbeizuführen. Sichtbarster Ausdruck war der Aufstand in Hamburg am 23. Oktober, aber auch die Regierungsbeteiligung der KPD in Sachsen und Thüringen, die zur Reichsexekution und Absetzung der Regierungen führte.
Bereits am 27. September hatte das Reich den Ausnahmezustand erklärt, um damit auf den Sonderweg in Bayern zu reagieren, wo nach Abbruch des Ruhrkampfes Gustav von Kahr zum Generalsstaatskommissar mit diktatorischen Vollmachten ernannt worden war. Von hier aus sollte eine nationale Diktatur in ganz Deutschland errichtet werden, was aufgrund mangelnder Unterstützung durch die Institutionen des Reiches, anders als beim Kapp-Putsch 1920, nicht gelingen konnte. Allerdings gab es auch auf anderer Seite, unter anderem bei General von Seeckt, Pläne, die demokratische Ordnung zumindest übergangsweise außer Kraft zu setzen.
Diese fragile Situation wird durch ein so merkwürdiges Dokument wie die Rede von Karl Radek, (19) dem Sekretär für Deutschland im Exekutivkomitee der Komintern, beleuchtet, die er im Juni 1923 auf Schlageter hielt. Albert Leo Schlageter war von den Franzosen als Widerstandskämpfer hingerichtet worden und galt seitdem als Symbol für ein anderes Deutschland, für eines, das sich nicht mit der Niederlage und Versailles abfinden wollte.
Radek sprach vor seinen kommunistischen Genossen davon, daß die Genossen Schlageters in eine Einheitsfront der Arbeitenden integriert werden müßten. Gemeinsam mit ihnen wolle man für die Befreiung des Proletariats kämpfen, die identisch mit der Freiheit des ganzen Volkes sei. So durchsichtig die Argumentation Radeks war, der den nationalen Impuls in den Dienst des kommunistischen Kampfes stellen wollte, so sehr zeigt dieses Angebot, wie man die Lage einschätzte.
Kein Wunder, daß die Republik, vom Ausnahmezustand bis zu Ermächtigungsgesetzen und dem Verbot von KPD und NSDAP, alle Register zog, um Herr der Lage zu werden. Daß dies tatsächlich gelang, wird heute gern als das eigentliche Wunder von 1923 bezeichnet. Damit soll die Wehrhaftigkeit einer Demokratie beschworen und gleichzeitig unterstrichen werden, daß der Erhalt der demokratischen Ordnung und die Vermeidung des Bürgerkriegs alle Mittel rechtfertigen, damals wie heute.
Peter Longerich fragt in seinem Buch nach Lehren aus dem Jahr 1923, die auf andere Fälle anwendbar seien. (20) Er sieht zwei Erkenntnisse, die in Frage kommen (ausdrücklich aber nicht die erfolgreiche Bewältigung der Krise):
1. die Eigendynamik und die Unbeherrschbarkeit von Krisen durch das relativ rasche Aufbrechen von Konflikten, ihre Zuspitzung und Entladung;
2. die allgemeine Erleichterung, die nach der Krise mit der Rückkehr zur Normalität einkehrt und die von den weiterexistierenden eigentlichen Krisenursachen ablenke und zu einer Stabilitätsillusion führe.
Dabei versteht Longerich unter Krisen Prozesse, die durch Störungen in einem zuvor funktionierenden politisch-sozialen System entstehen und die mit systemspezifischen Steuerungskapazitäten nicht mehr überwunden werden können. Mit anderen Worten, es handelt sich um den Ernstfall oder den Ausnahmezustand, der so etwas wie der Lackmustest für ein politisches Gemeinwesen ist. (21) Insofern sollte die Rechte, die sich durch unangemessene Vergleiche nicht davon abhalten lassen darf, das Richtige zu tun, zumindest drei Lehren aus den Geschehnissen des Jahres 1923 ziehen:
Eine krisenhafte Zuspitzung ist noch kein Garant für einen politischen Wandel. Der muß erarbeitet werden.
Solange das Establishment in der Lage ist, an seiner rechten Alternative eine Feindmarkierung vorzunehmen, bestimmt es letztlich auch darüber, was unter einem Ernstfall zu verstehen ist.
Die immer wieder einsetzende Stabilitätsillusion läßt den Willen zum politischen Wandel erlahmen; daher muß diese Illusion durch Orientierung an der Lösung zerstört werden.
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(1) – Vgl. Interview mit Heinrich August Winkler: »Die Geschichte des Westens ist eine Geschichte von Kämpfen«, in: wiwo.de vom 25. Januar 2015.
(2) – Vgl. Interview mit James Hawes: »Ich würde den Deutschen raten, sich zu beruhigen«, in: nzz.ch vom 2. Juli 2023.
(3) – Jutta Hoffritz: Totentanz – 1923 und seine Folgen, Hamburg 2022.
(4) – Peter Longerich: Außer Kontrolle. Deutschland 1923, Wien 2022.
(5) – Volker Ullrich: Deutschland 1923. Das Jahr am Abgrund, München 2022.
(6) – Mark Jones: 1923. Ein deutsches Trauma, aus dem Englischen von Norbert Juraschitz, Berlin 2022.
(7) – Ralf Georg Reuth: 1923. Kampf um die Republik, München 2023.
(8) – Vgl. Carl Schmitt: »Völkerrechtliche Probleme im Rheingebiet« (1928), in: ders.: Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar – Genf – Versailles, Berlin ³1994, S. 111 – 123, hier S. 115 f.
(9) – Vgl. Günter Maschke: »Der ent-konkretisierte Carl Schmitt und die Besetzung der Rheinlande«, in: Etappe XIX (2006/07).
(10) – Carl Schmitt: »Die Rheinlande als Objekt internationaler Politik« (1925), in: Positionen und Begriffe, S. 29 – 37, hier S. 30.
(11) – Schmitt: Völkerrechtliche Probleme, S. 115.
(12) – Vgl. ebd., S. 121.
(13) – Vgl. Hände weg vom Ruhrgebiet! Die Ruhrbesetzung 1923 – 1925, Katalogbuch zur gleichnamigen Ausstellung im Ruhr Museum, hrsg. von Heinrich Theodor Grütter, Ingo Wuttke und Andreas Zolper, Essen 2023. Der Katalog enthält einige Plakate und Flugschriften aus der Besetzungszeit, die einen Eindruck davon vermitteln, wie grundsätzlich der Kampf geführt wurde.
(14) – Maschke: Der ent-konkretisierte Carl Schmitt.
(15) – Vgl. Jones: 1923, S. 144 – 163.
(16) – Vgl. Ullrich: Deutschland 1923, S. 71 – 104.
(17) – Hans Fallada: Wolf unter Wölfen, Vorwort, Bd. 1, Berlin 1937.
(18) – »Es geht ein gerader Weg von dem Wahnsinn der deutschen Inflation zum Wahnsinn des Dritten Reichs.« (Thomas Mann: »Erinnerungen aus der deutschen Inflation« (1942), zit. nach: Ullrich: Deutschland 1923, S. 351)
(19) – Vgl. Karl Radek: »Leo Schlageter, der Wanderer ins Nichts« (Juni 1923), in: Herrmann Weber (Hrsg.): Der deutsche Kommunismus, Dokumente 1915 – 1945, Köln 1972, S. 142 – 147.
(20) – Vgl. Longerich: Außer Kontrolle, S. 272 f.
(21) – »Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.« (Carl Schmitt: Politische Theologie. 4 Kapitel zur Lehre von der Souveränität, München 1922, S. 8)