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Wir müssen einander wieder kritisieren
von Jörg Seidel
Die härteste und schärfste Kritik muß aus dem eigenen Lager kommen, zumindest sollte sie das. Nur sie signalisiert ein gesundes geistiges Binnenklima und garantiert inhaltliches Vorankommen. Es hilft nichts, einander Honig ums Maul zu schmieren. Unterstützung und Kritik sind zu trennen. Aber auch: Genuine Kritik ist immer Unterstützung.
Kritik meint hier zweierlei: das Wort in seinem eigentlichen, etymologischen Sinne als „Scheiden“, Unterscheiden, Differenzieren aber auch in seinem negativistischen Allgemeingebrauch als bewußtes Aufdecken und pointiertes Vortragen von Irrtümern, Fehlleistungen, Verfehlungen.
Wie im Sport, wo mir auch der Trainer die Schwächen aufzuzeigen hat und nicht erst durch die praktische Kritik der Faust des Gegners in meiner Fresse die Information über die mangelhafte Kritik an theoretischer, thymotischer, übender Vorbereitung vermittelt wird.
Der Kritisierte muß die Kritik – so oder so – schlucken, sofern sie gut begründet ist, sofern sie Hand und Fuß hat. Das ist eine schwere Übung, denn wir Menschen neigen dazu, Kritik am Werk als Kritik an der Person wahrzunehmen. So wie der Kritisierte diesen Impuls niederzuringen hat, so ist es die Aufgabe des Kritisierenden, seine Kritik unbedingt sachlich, möglichst freundlich und mit offener Geste, verbunden mit einem mehr oder weniger unmißverständlich ausgesprochenen Gesprächsangebot vorzutragen.
Ironie und Zynismus müssen wohlbedacht genutzt, am besten gemieden werden, ad-hominem-Argumente verbieten sich. Ihr Ziel ist nicht nur die persönliche Verletzung, sie entwerten auch die sachliche Kritik und lenken vom argumentativen Kern ab, denn die dann berechtigte Gegenwehr des Kritisierten zielt auf gänzlich andere Punkte, sie forciert den Kampf, den Krieg, aber sie verhindert das Ringen um die Sache.
Die Kritik muß dann zum Ringen werden, wenn sie berechtigt ist. Daher sollten sich beide Parteien vor allem die Frage nach der Berechtigung stellen. Eine unbegründete Kritik sollte – sofern die Einsicht besteht – unterlassen werden; wird sie dennoch vorgetragen, so hat sich der Kritisierte zu fragen, ob sie ihn trifft oder nicht. Hier ist schonungslose Einsicht gefordert, alle Ausreden vor der eigenen Unvollkommenheit müssen als unehrlich abgelehnt werden.
Ist die Kritik berechtigt, dann hat der Kritisierte sein Denken, seine Theorie, sein Verhalten zu verändern; ist sie nicht berechtigt, dann kann man sie entweder ignorieren oder – falls der Irrtum der Kritik aufschlußreich ist – richtigstellen.
Schlimmer als genuine Kritik ist falsche Kritik, aber schlimmer als falsche Kritik ist fehlende Kritik und unter den Formen der fehlenden Kritik ist die gegenseitige Beweihräucherung die schlimmste Form.
Es ist vollkommen falsch verstandene Rücksichtnahme, wenn ich einen Kampfgefährten vielleicht sogar noch thematisch lobe für eine Ansicht, die ich als kritikwürdig eingesehen habe, etwa, weil er sich durch die Thematisierung tatsächlich als mutig erwiesen hat. Der Mut mag lobenswert sein, der thematische Irrtum bleibt dennoch kritikwürdig. Die ehrliche Kritik unter Gleichgesinnten darf keine moralischen Kategorien kennen. Man kann für den Mut, ein Thema etwa angesprochen zu haben, Vorreiter zu sein, Lob finden und dennoch inhaltlich Kritik vortragen, ohne beides miteinander zu vermischen.
Niemand, der sich öffentlich äußert, sollte das Lob suchen und jeder sollte jeglichem Lob äußerst skeptisch und mißtrauisch gegenüberstehen, es stets auf seinen Giftgehalt prüfen, sei dieser nun bewußt oder unbewußt eingebacken.
Kritik aus dem eigenen Lager darf niemals verletzen, weder auf der Seite des Senders noch auf der des Empfängers. Kritik aus dem gegnerischen Lager sollte uns nicht verletzen können –auch sie ist nur der Sache nach abzuklopfen und entsprechend einzuspeisen oder zu ignorieren.
Wir müssen lernen, die Kritik am Eigenen und vom Eigenen als Ehre zu empfinden. Wir müssen besser werden!
Ein Fremder aus Elea
"Ist die Kritik berechtigt, dann hat der Kritisierte sein Denken, seine Theorie, sein Verhalten zu verändern; ist sie nicht berechtigt, dann kann man sie entweder ignorieren oder – falls der Irrtum der Kritik aufschlußreich ist – richtigstellen."
Das ist selbst ein schönes Beispiel für die eigentliche Schwierigkeit der Verbesserung des eigenen Verhaltens, nämlich daß das eigentliche Problem gar nicht zur Sprache kommt. Es ist ja explizit nichts falsch an dem, was Sie da sagen, aber implizit gehen Sie davon aus, daß die Gemeinschaft der Diskutierenden bereits über die richtigen Sichtweisen verfügt, um einen Gegenstand zu betrachten, und daß es nur darum ginge, technische Fehler, also sich verkuckt zu haben, aus der Welt zu schaffen. Aber so ist es ganz und gar nicht.
Beispielsweise habe ich jüngst (auch) Manfred Kleine-Hartlage kritisiert, und auch da ging es gar nicht primär darum, was Manfred gesagt hat, obwohl es mich geärgert hat, sondern darum. daß diese ganzen Ärgerlichkeiten vom eigentlichen Punkt ablenken, nämlich daß, wenn man das Kriegsbeil begrübe und schlicht sagte: "Machen alle so.", dann doch die eigentliche Frage ist, was UNSEREN Erfolg begründet hat und eingeschränkt und gefährdet immer noch begründet.