Die 110 Seiten lassen sich in drei Stunden bequem lesen. Den Inhalt kann man wohl zweiteilen: In einem abstrakten, theoretischen Teil widmet sich Békés der Theorie der Hegemonie, wie diese zustande kommt, wie man sie am Leben erhält und mit Leben füllt und dergleichen; in einem zweiten, konkret-historischen Durchgang will er zeigen, wie dieser Vorgang im Ungarn während der Orbán-Jahre vonstatten ging und welche Strategien der Fidesz anwendet, um diesen „Nationalen Block“ zu bilden.
So stark, lesenswert und überzeugend das Büchlein sein erstes Ansinnen vorträgt, so schwach gerät leider der zweite Teil. Einem aufmerksamen und selbstkritischen Autor wie Benedikt Kaiser kann das natürlich nicht entgehen, er hat diesen Tatbestand als Verlagsmitarbeiter hübsch in Geschenkpapier eingewickelt, wenn er im Vorwort schreibt:
… und bei allem Realismus darüber, daß der ungarische Weg keine paradiesischen Zustände anbieten kann, sondern ein realpolitisches Maximum unter den herrschenden EU-Verhältnissen darstellt, gilt es jene allgemeingültigen Lehren zu ziehen, die nötig sind, um das Zusammenspiel aus eigener Real- und Metapolitik zu verbessern.
Es wäre freilich schade, wenn das Ungarn Orbáns tatsächlich das „realpolitische Maximum“ wäre.
Was ist denn nun dieser „Nationale Block“? Der Begriff geht auf Gramsci zurück, der Lieblings-Linke der Rechten, der in seinem erratischen und oszillierenden Werk eine Reihe an nützlichen Vokabeln versteckt hat, die man heute dreifach nutzen kann: zum einen, um eine „Querfront“ zu simulieren und ein Gesprächsangebot nach links zu machen, zum anderen um sich seiner Lektüreoffenheit zu vergewissern, und schließlich, um Vorposten im gegnerischen Terrain zu etablieren und Vereinnahmungen – als Teil des Versuchs, die Gebiete der Deutungshoheit auszuweiten – vorzunehmen.
Und viertens natürlich, um ihre wahre Erklärungsmacht nutzbar zu machen.
Die bekannteste Parole ist die „Hegemonie“, aber auch der „historische Block“, den Békés zum „nationalen“ umwandelt, und der „Konsens“ – eben in Gramsci- und nicht Habermas-Färbung – gehören dazu. Der erste beschreibt die prinzipielle und dauerhafte Synchronisierung von Herrschaftswille und Volksstimmung, der zweite eine kulturelle Harmonisierung unter diesem Willen und der dritte den freiwilligen und rationalen Gehorsam, die inhaltliche Grundübereinstimmung, das Ziehen an einem Strick von Elite und Masse.
Gelingt dies, dann transzendiert sich ein System in eine Epoche, eine Art sich selbst tragendes und perpetuierendes System, ein aus sich selbst rollendes Rad, in unserem Fall um einen „von innen gesteuerten nationalen Konservatismus“, um ein „von Ungarn aus regiertes Ungarn“ zu etablieren.
Es kommt – oder kann kommen – zu einer „nationalen Integration“; die hat ihre eigenen Räume (integráció terei) und „Integrationskanäle“ (integráció csatornái) – müßig zu betonen, daß wir nicht über äußere Integration des Fremden ins Eigene, sondern um eine innere Integration einer Mehrheit ins Ganze sprechen. Bei den Kanälen – man muß an Melioration denken und nicht an Fernsehen – wird dies über „Werte“, „Gemeinschaften“, „Staat“, „Wohnsitz“ und „Politik“ verwirklicht, also von oben bis unten und von ephemer bis ganz konkret oder, wie Békés schreibt, auf zwischenmenschlicher, gesellschaftlicher und systemischer Ebene.
Soweit die Theorie. Bis hierher ist das Buch jeden Pfennig wert. Es wird uns ein Ideal entworfen, ein Ziel, tatsächlich ein politisches Maximum, das eine „Integration von rechts“ anzustreben hätte.
Daß uns nun eingeredet werden soll, dieses Ideal habe sich bereits historisch verwirklicht, und zwar in Form der Orbán-Epoche in Ungarn, kontrastiert doch stark mit den feinen theoretischen Überlegungen. Man fühlt sich mitunter an selige Zeiten erinnert, als eine eifrige Parteipresse uns einreden wollte, der Sozialismus sei längst in voller Blüte realisiert, und zwar just in unserer verfallenen Straße und in unserem dysfunktionalen Betrieb … in der DDR oder der SU oder in Rumänien oder sogar im Ungarn Kádárs.
Immerhin dürfen wir auch in diesem Teil des Buches dankbar sein für einige historische Aufklärung. So wird deutlich, daß der Fidesz tatsächlich planmäßig die Konsensbildung betreibt – aus bundesdeutscher Sicht ist schon das ein Blick in ein Märchenland –, daß man scheinbar über eine ausgearbeitete Strategie verfügt, die eigene Politik und Kultur hegemonial zu verankern und daß man an ganz verschiedenen Stellschrauben ansetzt. Orbán hatte nach seiner ersten Wahlniederlage 2002 entscheidende Lehren gezogen – schon dies weist ihn als genialen Politiker aus. Seit 2010 wird in dem kleinen Land nichts mehr dem Zufall überlassen, man arbeitet systematisch am Machterhalt.
Aber Békés fehlt die notwendige kritische Distanz, um diese Frage wirklich überzeugend behandeln zu können. In seinem Eifer unterlaufen ihm immer wieder Sätze, die den Kenner des staatssozialistischen Jargons an alte Zeiten erinnern: „Die neue Mehrheit, deren wichtigste politische Kraft der von Viktor Orbán geführte Fidesz ist …“ oder: „Der Systemwechsel von 1989/90, der erkämpft, bald darauf korrumpiert, dann ab 2010 siegreich vollendet wurde …“ und dergleichen.
Man ersetze Orbán mit Honecker und Fidesz mit SED und man hätte das Stück auch im ND unterbringen können. Es gibt erste Anflüge von Personenkult in diesem Buch; es ergibt sich Frage, was denn werden soll, wenn Orbán einmal weg ist? Wird das Orbán-System zusammenbrechen, die Epoche beendet sein, wenn auch Orbán dem sokratischen Syllogismus folgen wird, oder wenn er gar abgewählt werden sollte? Ist es nicht wahrscheinlich, daß sich dann ungarische Politik wiederholt – die nach der „Wende“ –, und sich eine aufgedunsene korrumpierte in sich zerstrittene Nomenklatura vor dem historischen Abtritt, sich die Filetstückchen an Land und Wirtschaft sichern wird?
Überhaupt durchweht das Werk ein seltsam teleologisches Moment, wenn man in der Fidesz-Politik die „Vollendung“ des „1989 begonnenen Prozesses“ statuiert, als hätte die Geschichte wieder ein erlösendes Moment und Orbán sei der Messias. Das setzt sich über gewisse vulgärdialektische Passagen fort, etwa wenn man die obigen „Integrationskanäle“ als sich wechselseitig überschneidend und sich verstärkend vorstellt – was sie de facto natürlich sind, was aber in diesem historisch überlebten Duktus eine Art Gesetzmäßigkeit und natürliche Zwangsläufigkeit, ergo historische Notwendigkeit suggerieren soll.
Das erklärt auch das mehrmalige Rekurrieren auf eine Art Naturnotwendigkeit, eine fragwürdige Begründung in der Natur: „Die konservativen Kräfte stehen unabhängig von ihrer Ausprägung für eine organische Entwicklung, die Bewahrung der Werte, den Schutz des kulturellen Erbes und die Achtung der natürlichen Ordnung, die mit der Ordnung der Natur identisch ist.“ Das ist ganz dünnes Eis – man sollte es besser nicht betreten oder doch nur mit sehr ausgiebiger Vorbereitung.
Immer wieder habe ich mir vorgestellt, wie meine ungarischen Freunde das Buch lesen würden, vor allem in seinen konkreten Passagen. Für den deutschen Leser ist das alles feine Theorie, da klingt das alles gut und schön, er kennt die praktischen Sorgen der Ungarn nicht. Der Ungar aber weiß, daß etwas Entscheidendes fehlt, wenn er etwa liest:
Der historische Block ist also nichts anderes als eine dauerhafte gesellschaftliche Mehrheit, die von einer politischen Kraft angeführt wird … So sind die politischen Entscheidungen … ebenso wichtig wie die langfristigen kulturellen Botschaften …
Vollkommen verschwiegen werden nämlich die außerpolitischen Mittel, die Orbán nutzt, um einen Block herzustellen, das, was unter der Hand abläuft, auf inoffiziellen „Integrationskanälen“. Der Erfolg des Fidesz ist nicht nur ein metapolitischer, sondern ganz wesentlich auch der eines an der Oberfläche nicht sichtbaren gigantischen Netzwerkes. Steckt man einmal in diesen Kanälen drin, dann fällt es schwer, die eigentliche Botschaft der „Volksabstimmungen“ und „nationalen Konsultationen“ zu erfassen.
Schon ihre Zustimmungsraten von über 90 % sollten stutzig machen und daß der Fidesz nie über 3 Mio. Unterstützer in Wahl oder Plebiszit bekommt, hat auch seine Gründe. Auf der Straße lacht man über diese Aktionen, stöhnt man, wenn man vom „Soros-Plan“ hört, würde man erschöpft abwinken, läse man ihnen diese Passagen vor.
Orbáns Erfolg – ob man das nun hören will oder nicht – beruht eben auch auf einem ebenso planmäßig verwirklichten Verfilzungsprozeß, auf der cleveren politischen Nutzung der „Migrationskrise“ – für Orbán das ewig lange Rettungsseil –, auf der Unfähigkeit einer zerstrittenen und moralisch verkommenen linken Opposition und aus einer habituellen politischen Resignation vieler Ungarn. Einige davon sammeln sich rechts vom Fidesz – die nennt Békés „rechtsradikal“ – andere in verschiedenen linken Organisationen, denen wird pauschal unterstellt, auf der Lohnabrechnung der „Globalisten“, einer „internationalen Koalition“ zu stehen, also nicht satisfaktionsfähig zu sein. Beide dürften damit für den „Konsens“ verloren sein.
Ich empfehle das Buch also uneingeschränkt. In seiner positiven Lektüre lehrt es uns viel. In seiner negativen – zwischen den Zeilen und um die Zusammenhänge sich kümmernd – warnt es uns davor, sich vom politischen „Erfolg“ korrumpieren zu lassen. Und außerdem gibt es über Ungarn wenig Vertrauenswürdiges.
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Márton Békés: Nationaler Block. Jungeuropa Verlag Dresden 2023, 120 Seiten, 16,00 € – hier bestellen.
Gracchus
Das klingt eher ernüchternd. Die angestrebte Hegenomie ist indes nicht ohne das vom Rezensenten beklagte Netzwerk zu haben, und ebenso wenig kommt es dabei zu Verfilzungen. Wenn der Theorieteil das verschweigt, erscheint dies als Manko.
Das Vorwort von Benedikt Kaiser ist frei verfügbar auf der Verlagsseite. BK betont darin die Notwendigkeit einer Ideologie, was ich nicht teile; er versteigt sich sogar dazu, die als "fetischistisch" zu bezeichnen, die eine Ideologie ablehnen. Zutreffend ist aber das Gegenteil, die Ideologie ist der Fetisch.