Mit den Printmedien geht es bergab. Das ist nicht neu, und es ist logisch. Einige Beispiele: Die Reichweite der Bild betrug 2012 (da war »Internet« bereits seit langem gang und gäbe) laut statista.de 13 Millionen. Heute sind es unter sieben Millionen.
Die Bravo hatte 1979 eine Auflage von 1,8 Millionen, 1998 waren es knapp 1,3 Millionen. Heute pendelt man bei um die 80 000. Die FAZ hatte 2022 eine verkaufte Auflage von rund 190 000. Gegenüber dem vierten Quartal 2014 war das ein Auflagenrückgang um mehr als 114 000 Exemplare! Derzeit verbreitet man aus Frankfurt noch rund 160 000 Exemplare. Das Ende einer Epoche!
Die Süddeutsche Zeitung verkaufte sich im vierten Quartal 2022 etwa 298 000mal. Rückgang, gemessen am Jahr 2014: 80 000! Bereits seit 2007 sinkt die Auflage Jahr für Jahr. Es ist ein echter Countdown. Im ersten Quartal 2023 wurden bereits nur mehr 284 000 Exemplare verkauft. Und die taz? Sie bringt noch 36 000 Exemplare pro Ausgabe an den Mann und erwägt, künftig lieber wöchentlich zu erscheinen. Denn Wochenzeitungen laufen entgegen dem Trend ziemlich gut. Nehmen wie die konservative Junge Freiheit.
Inmitten des allgemeinen Zeitschriftensterbens hatte sie über die Jahre der »Flüchtlingskrise« stetig zugelegt: 2018 verkaufte sie eine Auflage von 31 000 Exemplaren. (Heute steht sie bei 27 000.) Als linker Gegenentwurf mag Der Freitag gelten. Die Wochenzeitung hatte 2008 eine Auflage von rund 12 500; 2012 rund 14 500, 2018 knapp 24 000, heute über 26 000. Leicht bergauf geht es unter den Wochenzeitungen auch für die katholische Die Tagespost – das strikt konservative Organ (mit allerdings habitueller AfD-Abneigung – wie immer: zumindest abseits der Leserzuschriften) hat in den vergangenen Jahren ordentlich an Lesern hinzugewonnen, die verkaufte Auflage liegt derzeit bei 10 500.
Die linkslinke Wochenzeitung Jungle World läßt sich nicht offiziell zählen, laut uralter eigener Angabe (2011) verkaufen sie wöchentlich etwa 12 000 Exemplare. Das Ostpreußenblatt hingegen zählte einst (1959) 128 000 (!) Leser; heute nennt sich das Blatt Preußische Allgemeine Zeitung (PAZ) und verkauft nach eigener Angabe 18 000 Zeitungen pro Woche.
Von Tagespost bis Jungle World haben wir es bei diesen Wochenzeitungen mit echten Nischenblättern zu tun. Selbst die Anzahl der Leser, die »gemäßigte« Blätter wie JF oder Freitag lesen, wabert ja strenggenommen im Promillebereich. Aber jetzt schauen wir auf Die Zeit, 1946 als »Lizenzpresse« durch Zulassung der britischen Besatzungsmacht in Hamburg (»Nullnummer«: acht Seiten, 40 Pfennig) gegründet: In den 1990er Jahren lag die Auflage bei 500 000, dann sank sie leicht. Und dann, Quartal 4/2018: 506 000 verkaufte Exemplare; Quartal 2/2020: 520 000; Quartal 4/2021: 625 000.
Im letzten Quartal 2022 betrug die verkaufte Auflage der Zeit rund 640 000 Exemplare. Über drei Viertel der Leser sind Abonnenten. Was für ein Aufwuchs! Woher rührt diese Stabilität, die enorme Leserbindung dieses linksliberalen Blatts? Mit welcher Art Leserschaft haben wir es überhaupt zu tun?
Mag sein, daß die Erschaffung einer Zeit-Familie ein Marketing-Coup ist: Sorge für Debatte; mache auf transparent; schaffe einen Rahmen, der so weit erscheint, wie er zugleich in Wahrheit eng ist. Präsentiere dich also offen für Onkelhaftes, Altväterliches, für Müttersorgen und zugleich für Knabenblütenträume, Unausgegorenes und Utopien; behaupte maximale Open-mindedness, aber kuratiere sie geschickt!
Genau das ist das Geheimnis der Zeit. Sie ist so extrem nah am Menschen. Höhe- und Kulminationspunkt ist vermutlich Seite 62 des sehr dicken Heftes. (Man beachte: knapp 100 Seiten für 6,40 Euro am Kiosk – die JF beispielsweise kostet 5,80 und bietet 24 Seiten). Die Zeit-Seite »Entdecken« hat stets ein großes Tierfoto im Zentrum: »Du siehst aus, wie ich mich fühle«. Wir finden hier eine Kuh, die die Zunge rausstreckt. Einen Affen, der genervt die Augen rollt. Eine nervös wirkende Maus. Einen schläfrigen Biber. Ein mißtrauisches Pferd. Das kommt wahnsinnig gut an – »das Tier in uns«.
Daneben gibt es auf ebenjener Seite eine Kolumne »Was mein Leben reicher macht«. Leser senden hier unter Klarnamen und mit Wohnort ihre ganz eigenen Rührungsmomente ein: »Ein Stadtviertelfest, mit einem Stand, an dem Gedichte vorgetragen werden«, »Wenn mir die Schwimmerin auf der Nachbarbahn ein Lächeln schenkt«, aber das wären nur die harmlosen Lesercommunityszenen.
Der personalisierte Kitsch kennt keine Grenzen. Leute bekunden hier in je zwei, drei Sätzen, warum sie während einer Drosselarie bei Regenbogenhimmel weinen mußten und weshalb sie auch der sympathische syrische Briefträger gestern zu Tränen gerührt hat.
Die Zeit ist ein Blatt für Akademiker. Die Artikel sind oft seitenlang und inhaltlich viel zu voraussetzungsreich (oder: im Duktus einfach zu abseitig und zu verschraubt) für Lieschen Müller, die leider nur den Realschulabschluß vorweisen kann. Was Die Zeit aber eben von anderen Blättern für ein intellektuelles Publikum unterscheidet, ist das permanente »Menscheln«. Das betrifft sämtliche Ressorts. Die »Menschen wie du und ich« – ob Artjom, 29, Patriot aus St. Petersburg, Konrad, 67, Rentner und manischer Spielesammler aus Hilden / NRW, oder Fatoumata, 32, Choreographin aus Berlin – werden ins Bild gehoben, ihre Statements werden verdichtet. Das funktioniert in der Wissenschaftsabteilung ebenso wie in der Politik, der Wirtschaft oder dem eminent Zeit-typischen Spielort »Glauben & Zweifeln«, der zugerichtet ist auf eine Klientel, die einst in der längst vergangenen Oberstufe in der Philosophie-AG (Motto: »einfach mal loslabern, aber in Sprache-mit-Bildungshintergrund«) reüssierte.
Der Eindruck allerdings, die Zeit sei ein mehrheitlich von Frauen gelesenes Organ, täuscht. (Überhaupt: man nenne mal eine Zeitung, die nicht explizit als Frauen- oder Klatschzeitung fungiert, die mehr weibliche als männliche Leser hat. Niente? Komisch!)
Laut neuesten »Leserschaftsdaten« sind 56 Prozent der Zeit-Konsumenten männlich. (Und, nebenbei, verfügen 49 Prozent der Leser über ein Nettohaushaltseinkommen von über 4000 Euro. Das ist weit über Bundesdurchschnitt.) Das Sexus-Gefälle ist ganz interessant. Alle wortgebundenen Akteure (von Verlagen bis Parteien) buhlen heute um einen höheren Frauenanteil – nicht aus emanzipatorischen Gründen, sondern um möglichst weit abschöpfen zu können.
Im Vergleich zur Zeit hat beispielsweise der Focus aktuell eine weibliche Leserschaft von nur 29 Prozent – allerdings war es Helmut Markwort auch wichtig, daß seine Zeitschrift das Männermagazin im Burda-Blätterwald darstellte. Leserinnen machen bei der Jungen Freiheit zwölf Prozent aus. Bei der Preußischen Allgemeinen Zeitung und der Sezession liegen die Anteile gesichert unter der Ein-Viertel-Grenze. Ob man das beklagen sollte, steht auf einem anderen Blatt.
Die Zeit ist vermutlich die einzige Zeitung, die den Spagat zwischen Gossip / Life-Hacks / Trends / Intimbeichten und Politik hinbekommen hat. Das Kunststück ist nicht der Spagat an sich, denn der ergibt sich fast von allein, wenn erst mal die entsprechende Geschmeidigkeit hergestellt ist, und hierin liegt womöglich die Zauberformel. Man kennt das noch aus Kinderzeiten, oder? Welcher Erzieher zog einen an in der »Gruppenstunde«, der Ferienfreizeit, im Verein? Der in die Hocke ging und »Hi« sagte und: »du bist doch die Steffi / der Michi?«, oder?
Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (FAS) reüssierte auch nicht schlecht mit ebendiesem Nahbarkeitsrezept: Wir alle kochen doch (gelegentlich). Wir alle kaufen doch Mode. Wir alle kennen das doch, wenn die Partnerin schnarcht / wenn die Stechmücken kommen/wenn der Onkel nach rechts abdriftet/wenn die Kinder aufsässig sind. Der Zeit ganz ähnlich, verknüpft die FAS Alltag mit Politik und versucht daraus ein »Lebensgefühl«, ein »Wir« zu fabrizieren.
Nun, die FAS steht zwar deutlich besser da als ihr Mutterschiff FAZ, und doch ist auch sie, anders als Die Zeit, unter dem Strich ein Loser: Auflage viertes Quartal 2014: um die 320 000, viertes Quartal 2022: deutlich unter 200 000! Vermutlich muß man die »Sinus-Milieus« (früher sagte man: Klassen, dann: Schichten; heute läuft die Zielgruppeneinteilung etwas differenzierter, eben via »Sinus«) bemühen, um den Nachteil der FAS gegenüber der Zeit zu beschreiben. Während die FAS das »konservativ-gehobene«, das »nostalgisch-bürgerliche« und das »konsum-hedonistische« Milieu abdeckt, umfaßt die Zielgruppe der Zeit zusätzlich das »Milieu der Performer«, der »Expeditiven« und auch das »neo-ökologische Milieu«.
Überdeutlich wurde diese breite Aufstellung in der von der Zeit ins Laufen gebrachten Performance namens »Deutschland spricht«. Dieses 2017 etablierte Format fungierte auch unter »Festival der Meinungsfreiheit«.
Worum ging es? Bürger / Leser durften sich melden, die gern in Vieraugengesprächen mal »total kontrovers« diskutieren wollten. Zum Beispiel über #Metoo, über Donald Trump, über autofreie Innenstädte oder Grenzkontrollen. Die Leute fuhren völlig darauf ab. Knapp 100 000 Diskursfreunde meldeten sich an, Zehntausende Gespräche unter »Opponenten« fanden statt – abgefeiert natürlich als »Sternstunde der Demokratie«.
Schirmherr der Konsensaktion über Bande war kein Geringerer als Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, und als Festredner fungierte der notorische Sascha Lobo. Der lobte den Gedanken von »Deutschland spricht«, über gesellschaftliche Klüfte hinweg ins Gespräch zu kommen. Lobo markierte eine Grenze: Nicht alle politischen Positionen dürften Teil der Diskussion einer liberalen Demokratie sein – mit »Nazis« etwa könne man nicht reden. »Es gibt Sphären, die nicht diskutierbar sind«, sagte Lobo. Diese Einschränkung, diese »rote Linie«, halte er für unabdingbar. Eine intensive Debatte sei absolut notwendig – aber nicht über alles.
Bis heute hält Die Zeit diese Brandmauer und verfügt selbstverständlich freimütig darüber, wer als »Nazi« zu gelten hat. Äußerste Toleranz und Gesprächsbereitschaft »mit denen da« heucheln, aber zugleich strikt den Rahmen des Sagbaren kuratieren: Das ist das Erfolgsrezept der Zeit.
Vor etwa zehn Jahren habe ich einen heute relativ engen politischen Mitstreiter kennengelernt. Damals interessierte er sich für »unser Milieu«, war aber noch stark in seinem alten verhaftet. Unter anderem war er langjähriger Zeit-Abonnent. Da ich mich erinnerte, wie sehr er damals für diese Zeitung geworben hatte (er tat es unverblümt, was mich freute, denn: wenn man irgendwo neu ist, sollte man nicht so tun, als sei man eh ein »alter Hase«), fragte ich ihn nun, was ihn damals so gefesselt habe.
Seine Antwort: »Die Zeit-Zeit … herrje! Warum habe ich das gelesen? So einfach läßt sich das nicht beantworten. Ich denke, es war eine ausgeprägte Milieu-Zeitung. Man las die halt als Akademiker, sie lag im Haushalt von Akademikern und auch von jenen Nichtakademikern rum, die sich zum gehobenen Bürgertum zählen wollten. Vor 20 Jahren habe ich während meines Studiums mit Frau und Kind in einer winzigen Wohnung gelebt und mußte ein zusätzliches Arbeitszimmer anmieten, das ich bei einem Emeritus meiner theologischen Fakultät fand. Ich brachte die FAZ mit. Der Prof runzelte die Stirn und sagte: ›Das sollte man nicht lesen, lieber das hier!‹ – Und er gab mir die Zeit.
Das Format war etwas Besonderes. Man konnte die ganze Woche lang etwas Neues entdecken, und wenn man zu irgendeiner Studentenparty gehen mußte, lag irgendwo die Zeit rum, und man konnte sich in eine Ecke setzen, lesen und wurde nicht mit ironischen Sprüchen belästigt.
Wie qualitativ wertvoll die Artikel der Zeit damals wirklich waren, kann ich nicht mehr beurteilen. Ich denke, das konnte ich auch damals nicht beurteilen, weil mein politisch-kritisches Denken noch sehr unterentwickelt war. Sie waren jedenfalls in einer bestimmten Tonlage aufbereitet, mit einer Aura umgeben, die ich einsog wie ein Schwamm. Es war mit dem (nicht formulierten) Gefühl des Aufstiegs aus einer niederen in eine höhere, lichtere Welt verbunden. Die Zeit förderte dieses Gefühl und befestigte es. Sie zog einen an und hielt einen drin im Sprachspiel dieses Milieus.
In der Zeit bündelte sich im Grunde all das, was ich später, beim ›Rechtswerden‹, wieder von mir abstieß: dieses Herabschauen auf die Arbeiter- und Bauernwelt, dieses Gefühl, fortschrittlich zu sein und zur aufgeklärten Schicht der Gesellschaft zu gehören, die Ironie, der Distinktionsgewinn, insgesamt etwas verhalten Erhabenes mit gleichzeitiger ironischer Brechung und Entwertung dieses Erhabenen. Die Zeit war das Medium, durch das man diese Haltung lernen und einüben konnte: immer Wechsel zwischen Stand- und Spielbein, moralischem Anspruch und ironischem Ausweichen. Themenauswahl, Aufbereitung, Sound, das war schon alles mehr als nur ›Zeitung‹ … ich will nicht sagen ›Kult‹, aber es ging in die Richtung eines kulturell-politisch-ästhetischen Gesamtkunstwerks. Es war das sprachliche Medium eines Milieus, zu dem ich gern gehören und dessen ich mich würdig erweisen wollte.
Deshalb war später die Enttäuschung um so schmerzhafter. Heute lächle ich darüber, wie tief mich das getroffen hat, als ich wegen eines Kommentars blockiert wurde … (Das war doch die Zeit! Das waren doch die intelligenten, die toleranten, die besseren Leute! Da konnte man doch ›über alles reden‹! Wie konnten die mich, einen Ernst- und Gutmeinenden, einen von ihnen, einfach abwürgen!?) Man konnte nicht nur keineswegs ›über alles reden‹, man konnte nicht mal die ›falschen‹ Fragen stellen, wie vorsichtig man es auch tat.
Es war heilsam, weil mir da die Augen aufgingen, wie sehr ich im Prozeß der Anpassung an den Zeit-Stil und die Zeit-Haltung selbst so geworden war, daß ich auf das ›einfache Volk‹ herabschaute – wiederum ironisch natürlich! Nie frei heraus, nicht wenigstens ehrliche, aufrichtige Verachtung, immer versteckt, spielerisch, mehrdeutig. Mir wurde aber klar, daß es dennoch ein Herabschauen war, ein abwertender Blick auch auf meine eigene Herkunft.
Mein Bruch mit der Zeit vollzog sich stufenweise. Mir wurde immer deutlicher, daß Anspruch und Wirklichkeit (Stichwort ›Toleranz‹) auseinanderklafften, daß die Zeit nicht einlöste, was sie versprochen hatte (vor allem in der Berichterstattung zu Rußland und Pegida, die unfaßbar hohl, grob und niveaulos war), daß diese Haltung nur Attitüde war, nur Verpackung, daß diese vermeintlich aufgeklärte, fortschrittliche, lichte, bessere Schicht unfähig zu echten Debatten war, gar nicht zu reden von Streit oder echter, klärender Auseinandersetzung auf Augenhöhe.
In meinen Augen wandelte sich die Zeit von einem Magneten, der durch die Vermittlung einer speziellen Haltung und eines speziellen Gefühls Leute gesammelt und in gewissem Sinne auch ästhetisch und gesellschaftspolitisch erzogen hatte, zu einer Art Bollwerk, das den Bestand verteidigte, und zwar auf eine so dumme Art und Weise, daß ich baß enttäuscht war. Aber: Enttäuschung ist ja etwas Gutes!«
Soweit der ehemalige Leser. Morgen erscheint schon wieder eine neue Zeit. Auch sie wird einen bunten Strauß an Info-Grafiken, erschütternden Fotos und »dissidenten Meinungen« bereithalten: »Wir müssen drüber reden!« Klar. Nur – natürlich nicht über alles! Wo kämen wir hin!