»Wir müssen reden!« – Phänomen DIE ZEIT

PDF der Druckfassung aus Sezession 115/ August 2023

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

Mit den Print­me­di­en geht es berg­ab. Das ist nicht neu, und es ist logisch. Eini­ge Bei­spie­le: Die Reich­wei­te der Bild betrug 2012 (da war »Inter­net« bereits seit lan­gem gang und gäbe) laut statista.de 13 Mil­lio­nen. Heu­te sind es unter sie­ben Millionen.

Die Bra­vo hat­te 1979 eine Auf­la­ge von 1,8 Mil­lio­nen, 1998 waren es knapp 1,3 Mil­lio­nen. Heu­te pen­delt man bei um die 80 000. Die FAZ hat­te 2022 eine ver­kauf­te Auf­la­ge von rund 190 000. Gegen­über dem vier­ten Quar­tal 2014 war das ein Auf­la­gen­rück­gang um mehr als 114 000 Exem­pla­re! Der­zeit ver­brei­tet man aus Frank­furt noch rund 160 000 Exem­pla­re. Das Ende einer Epoche!

Die Süd­deut­sche Zei­tung ver­kauf­te sich im vier­ten Quar­tal 2022 etwa 298 000mal. Rück­gang, gemes­sen am Jahr 2014: 80 000! Bereits seit 2007 sinkt die Auf­la­ge Jahr für Jahr. Es ist ein ech­ter Count­down. Im ers­ten Quar­tal 2023 wur­den bereits nur mehr 284 000 Exem­pla­re ver­kauft. Und die taz? Sie bringt noch 36 000 Exem­pla­re pro Aus­ga­be an den Mann und erwägt, künf­tig lie­ber wöchent­lich zu erschei­nen. Denn Wochen­zei­tun­gen lau­fen ent­ge­gen dem Trend ziem­lich gut. Neh­men wie die kon­ser­va­ti­ve Jun­ge Frei­heit.

Inmit­ten des all­ge­mei­nen Zeit­schrif­tenster­bens hat­te sie über die Jah­re der »Flücht­lings­kri­se« ste­tig zuge­legt: 2018 ver­kauf­te sie eine Auf­la­ge von 31 000 Exem­pla­ren. (Heu­te steht sie bei 27 000.) Als lin­ker Gegen­ent­wurf mag Der Frei­tag gel­ten. Die Wochen­zei­tung hat­te 2008 eine Auf­la­ge von rund 12 500; 2012 rund 14 500, 2018 knapp 24 000, heu­te über 26 000. Leicht berg­auf geht es unter den Wochen­zei­tun­gen auch für die katho­li­sche Die Tages­post – das strikt kon­ser­va­ti­ve Organ (mit aller­dings habi­tu­el­ler AfD-Abnei­gung – wie immer: zumin­dest abseits der Leser­zu­schrif­ten) hat in den ver­gan­ge­nen Jah­ren ordent­lich an Lesern hin­zu­ge­won­nen, die ver­kauf­te Auf­la­ge liegt der­zeit bei 10 500.

Die links­lin­ke Wochen­zei­tung Jungle World läßt sich nicht offi­zi­ell zäh­len, laut uralter eige­ner Anga­be (2011) ver­kau­fen sie wöchent­lich etwa 12 000 Exem­pla­re. Das Ost­preu­ßen­blatt hin­ge­gen zähl­te einst (1959) 128 000 (!) Leser; heu­te nennt sich das Blatt Preu­ßi­sche All­ge­mei­ne Zei­tung (PAZ) und ver­kauft nach eige­ner Anga­be 18 000 Zei­tun­gen pro Woche.

Von Tages­post bis Jungle World haben wir es bei die­sen Wochen­zei­tun­gen mit ech­ten Nischen­blät­tern zu tun. Selbst die Anzahl der Leser, die »gemä­ßig­te« Blät­ter wie JF oder Frei­tag lesen, wabert ja streng­ge­nom­men im Pro­mil­le­be­reich. Aber jetzt schau­en wir auf Die Zeit, 1946 als »Lizenz­pres­se« durch Zulas­sung der bri­ti­schen Besat­zungs­macht in Ham­burg (»Null­num­mer«: acht Sei­ten, 40 Pfen­nig) gegrün­det: In den 1990er Jah­ren lag die Auf­la­ge bei 500 000, dann sank sie leicht. Und dann, Quar­tal 4/2018: 506 000 ver­kauf­te Exem­pla­re; Quar­tal 2/2020: 520 000; Quar­tal 4/2021: 625 000.

Im letz­ten Quar­tal 2022 betrug die ver­kauf­te Auf­la­ge der Zeit rund 640 000 Exem­pla­re. Über drei Vier­tel der Leser sind Abon­nen­ten. Was für ein Auf­wuchs! Woher rührt die­se Sta­bi­li­tät, die enor­me Leser­bin­dung die­ses links­li­be­ra­len Blatts? Mit wel­cher Art Leser­schaft haben wir es über­haupt zu tun?

Mag sein, daß die Erschaf­fung einer Zeit-Fami­lie ein Mar­ke­ting-Coup ist: Sor­ge für Debat­te; mache auf trans­pa­rent; schaf­fe einen Rah­men, der so weit erscheint, wie er zugleich in Wahr­heit eng ist. Prä­sen­tie­re dich also offen für Onkel­haf­tes, Alt­vä­ter­li­ches, für Müt­ter­sor­gen und zugleich für Kna­ben­blü­ten­träu­me, Unaus­ge­go­re­nes und Uto­pien; behaup­te maxi­ma­le Open-min­ded­ness, aber kura­tie­re sie geschickt!

Genau das ist das Geheim­nis der Zeit. Sie ist so extrem nah am Men­schen. Höhe- und Kul­mi­na­ti­ons­punkt ist ver­mut­lich Sei­te 62 des sehr ­dicken Hef­tes. (Man beach­te: knapp 100 Sei­ten für 6,40 Euro am Kiosk – die JF bei­spiels­wei­se kos­tet 5,80 und bie­tet 24 Sei­ten). Die Zeit-Sei­te »Ent­de­cken« hat stets ein gro­ßes Tier­fo­to im Zen­trum: »Du siehst aus, wie ich mich füh­le«. Wir fin­den hier eine Kuh, die die Zun­ge raus­streckt. Einen Affen, der genervt die Augen rollt. Eine ner­vös wir­ken­de Maus. Einen schläf­ri­gen Biber. Ein miß­traui­sches Pferd. Das kommt wahn­sin­nig gut an – »das Tier in uns«.

Dane­ben gibt es auf eben­je­ner Sei­te eine Kolum­ne »Was mein Leben rei­cher macht«. Leser sen­den hier unter Klar­na­men und mit Wohn­ort ihre ganz eige­nen Rüh­rungs­mo­men­te ein: »Ein Stadt­vier­tel­fest, mit einem Stand, an dem Gedich­te vor­ge­tra­gen wer­den«, »Wenn mir die Schwim­me­rin auf der Nach­bar­bahn ein Lächeln schenkt«, aber das wären nur die harm­lo­sen Lesercommunityszenen.

Der per­so­na­li­sier­te Kitsch kennt kei­ne Gren­zen. Leu­te bekun­den hier in je zwei, drei Sät­zen, war­um sie wäh­rend einer Dros­sel­arie bei Regen­bo­gen­him­mel wei­nen muß­ten und wes­halb sie auch der sym­pa­thi­sche syri­sche Brief­trä­ger ges­tern zu Trä­nen gerührt hat.

Die Zeit ist ein Blatt für Aka­de­mi­ker. Die Arti­kel sind oft sei­ten­lang und inhalt­lich viel zu vor­aus­set­zungs­reich (oder: im Duk­tus ein­fach zu absei­tig und zu ver­schraubt) für Lies­chen Mül­ler, die lei­der nur den Real­schul­ab­schluß vor­wei­sen kann. Was Die Zeit aber eben von ande­ren Blät­tern für ein intel­lek­tu­el­les Publi­kum unter­schei­det, ist das per­ma­nen­te »Men­scheln«. Das betrifft sämt­li­che Res­sorts. Die »Men­schen wie du und ich« – ob Art­jom, 29, Patri­ot aus St. Peters­burg, Kon­rad, 67, Rent­ner und mani­scher Spie­le­samm­ler aus Hil­den / NRW, oder ­Fato­u­ma­ta, 32, ­Cho­reo­gra­phin aus Ber­lin – wer­den ins Bild geho­ben, ihre State­ments wer­den ver­dich­tet. Das funk­tio­niert in der Wis­sen­schafts­ab­tei­lung eben­so wie in der Poli­tik, der Wirt­schaft oder dem emi­nent Zeit-typi­schen Spiel­ort »Glau­ben & Zwei­feln«, der zuge­rich­tet ist auf eine Kli­en­tel, die einst in der längst ver­gan­ge­nen Ober­stu­fe in der Phi­lo­so­phie-AG (Mot­to: »ein­fach mal los­la­bern, aber in Spra­che-mit-Bil­dungs­hin­ter­grund«) reüssierte.

Der Ein­druck aller­dings, die Zeit sei ein mehr­heit­lich von Frau­en gele­se­nes Organ, täuscht. (Über­haupt: man nen­ne mal eine Zei­tung, die nicht expli­zit als Frau­en- oder Klatsch­zei­tung fun­giert, die mehr weib­li­che als männ­li­che Leser hat. Nien­te? Komisch!)

Laut neu­es­ten »Leser­schafts­da­ten« sind 56 Pro­zent der Zeit-Kon­su­men­ten männ­lich. (Und, neben­bei, ver­fü­gen 49 Pro­zent der Leser über ein Net­to­haus­halts­ein­kom­men von über 4000 Euro. Das ist weit über Bun­des­durch­schnitt.) Das Sexus-Gefäl­le ist ganz inter­es­sant. Alle ­wort­ge­bun­de­nen Akteu­re (von Ver­la­gen bis Par­tei­en) buh­len heu­te um einen höhe­ren Frauen­anteil – nicht aus eman­zi­pa­to­ri­schen Grün­den, son­dern um mög­lichst weit abschöp­fen zu können.

Im Ver­gleich zur Zeit hat bei­spiels­wei­se der Focus aktu­ell eine weib­li­che Leser­schaft von nur 29 Pro­zent – aller­dings war es Hel­mut Mark­wort auch wich­tig, daß sei­ne Zeit­schrift das Män­ner­ma­ga­zin im Bur­da-Blät­ter­wald dar­stell­te. Lese­rin­nen machen bei der Jun­gen Frei­heit zwölf Pro­zent aus. Bei der Preu­ßi­schen All­ge­mei­nen Zei­tung und der Sezes­si­on lie­gen die Antei­le gesi­chert unter der Ein-Vier­tel-Gren­ze. Ob man das bekla­gen soll­te, steht auf einem ande­ren Blatt.

Die Zeit ist ver­mut­lich die ein­zi­ge Zei­tung, die den Spa­gat zwi­schen Gos­sip / Life-Hacks / Trends / Intim­beich­ten und Poli­tik hin­be­kom­men hat. Das Kunst­stück ist nicht der Spa­gat an sich, denn der ergibt sich fast von allein, wenn erst mal die ent­spre­chen­de Geschmei­dig­keit her­ge­stellt ist, und hier­in liegt womög­lich die Zau­ber­for­mel. Man kennt das noch aus Kin­der­zei­ten, oder? Wel­cher Erzie­her zog einen an in der »Grup­pen­stun­de«, der Feri­en­frei­zeit, im Ver­ein? Der in die Hocke ging und »Hi« sag­te und: »du bist doch die Stef­fi / der Michi?«, oder?

Die Frank­fur­ter All­ge­mei­ne Sonn­tags­zei­tung (FAS) reüs­sier­te auch nicht schlecht mit eben­die­sem Nah­bar­keits­re­zept: Wir alle kochen doch (gele­gent­lich). Wir alle kau­fen doch Mode. Wir alle ken­nen das doch, wenn die Part­ne­rin schnarcht / wenn die Stech­mü­cken kommen/wenn der Onkel nach rechts abdriftet/wenn die Kin­der auf­säs­sig sind. Der Zeit ganz ähn­lich, ver­knüpft die FAS All­tag mit Poli­tik und ver­sucht dar­aus ein »Lebens­ge­fühl«, ein »Wir« zu fabrizieren.

Nun, die FAS steht zwar deut­lich bes­ser da als ihr Mut­ter­schiff FAZ, und doch ist auch sie, anders als Die Zeit, unter dem Strich ein Loser: Auf­la­ge vier­tes Quar­tal 2014: um die 320 000, vier­tes Quar­tal 2022: deut­lich unter 200 000! Ver­mut­lich muß man die »Sinus-Milieus« (frü­her sag­te man: Klas­sen, dann: Schich­ten; heu­te läuft die Ziel­grup­pen­ein­tei­lung etwas dif­fe­ren­zier­ter, eben via »Sinus«) bemü­hen, um den Nach­teil der FAS gegen­über der Zeit zu beschrei­ben. Wäh­rend die FAS das »kon­ser­va­tiv-geho­be­ne«, das »nost­al­gisch-bür­ger­li­che« und das »kon­sum-hedo­nis­ti­sche« Milieu abdeckt, umfaßt die Ziel­grup­pe der Zeit zusätz­lich das »Milieu der Per­for­mer«, der »Expe­di­ti­ven« und auch das »neo-öko­lo­gi­sche Milieu«.

Über­deut­lich wur­de die­se brei­te Auf­stel­lung in der von der Zeit ins Lau­fen gebrach­ten Per­for­mance namens »Deutsch­land spricht«. Die­ses 2017 eta­blier­te For­mat fun­gier­te auch unter »Fes­ti­val der Meinungsfreiheit«.

Wor­um ging es? Bür­ger / Leser durf­ten sich mel­den, die gern in Vier­augengesprächen mal »total kon­tro­vers« dis­ku­tie­ren woll­ten. Zum Bei­spiel über #Metoo, über Donald Trump, über auto­freie Innen­städ­te oder Grenz­kon­trol­len. Die Leu­te fuh­ren völ­lig dar­auf ab. Knapp 100 000 Dis­kurs­freun­de mel­de­ten sich an, Zehn­tau­sen­de Gesprä­che unter »Oppo­nen­ten« fan­den statt – abge­fei­ert natür­lich als »Stern­stun­de der Demokratie«.

Schirm­herr der Kon­sens­ak­ti­on über Ban­de war kein Gerin­ge­rer als Bun­des­prä­si­dent Frank-Wal­ter Stein­mei­er, und als Fest­red­ner fun­gier­te der noto­ri­sche Sascha Lobo. Der lob­te den Gedan­ken von »Deutsch­land spricht«, über gesell­schaft­li­che Klüf­te hin­weg ins Gespräch zu kom­men. Lobo mar­kier­te eine Gren­ze: Nicht alle poli­ti­schen Posi­tio­nen dürf­ten Teil der Dis­kus­si­on einer libe­ra­len Demo­kra­tie sein – mit »Nazis« etwa kön­ne man nicht reden. »Es gibt Sphä­ren, die nicht dis­ku­tier­bar sind«, sag­te Lobo. Die­se Ein­schrän­kung, die­se »rote Linie«, hal­te er für unab­ding­bar. Eine inten­si­ve Debat­te sei abso­lut not­wen­dig – aber nicht über alles.

Bis heu­te hält Die Zeit die­se Brand­mau­er und ver­fügt selbst­ver­ständ­lich frei­mü­tig dar­über, wer als »Nazi« zu gel­ten hat. Äußers­te Tole­ranz und Gesprächs­be­reit­schaft »mit denen da« heu­cheln, aber zugleich strikt den Rah­men des Sag­ba­ren kura­tie­ren: Das ist das Erfolgs­re­zept der Zeit.

Vor etwa zehn Jah­ren habe ich einen heu­te rela­tiv engen poli­ti­schen Mit­strei­ter ken­nen­ge­lernt. Damals inter­es­sier­te er sich für »unser Milieu«, war aber noch stark in sei­nem alten ver­haf­tet. Unter ande­rem war er lang­jäh­ri­ger Zeit-Abon­nent. Da ich mich erin­ner­te, wie sehr er damals für die­se Zei­tung gewor­ben hat­te (er tat es unver­blümt, was mich freu­te, denn: wenn man irgend­wo neu ist, soll­te man nicht so tun, als sei man eh ein »alter Hase«), frag­te ich ihn nun, was ihn damals so gefes­selt habe.

Sei­ne Ant­wort: »Die Zeit-Zeit … herr­je! War­um habe ich das gele­sen? So ein­fach läßt sich das nicht beant­wor­ten. Ich den­ke, es war eine aus­ge­präg­te Milieu-Zei­tung. Man las die halt als Aka­de­mi­ker, sie lag im Haus­halt von Aka­de­mi­kern und auch von jenen Nicht­aka­de­mi­kern rum, die sich zum geho­be­nen Bür­ger­tum zäh­len woll­ten. Vor 20 Jah­ren habe ich wäh­rend mei­nes Stu­di­ums mit Frau und Kind in einer win­zi­gen Woh­nung gelebt und muß­te ein zusätz­li­ches Arbeits­zim­mer anmie­ten, das ich bei einem Eme­ri­tus mei­ner theo­lo­gi­schen Fakul­tät fand. Ich brach­te die FAZ mit. Der Prof run­zel­te die Stirn und sag­te: ›Das soll­te man nicht lesen, lie­ber das hier!‹ – Und er gab mir die Zeit.

Das For­mat war etwas Beson­de­res. Man konn­te die gan­ze Woche lang etwas Neu­es ent­de­cken, und wenn man zu irgend­ei­ner Stu­den­ten­par­ty gehen muß­te, lag irgend­wo die Zeit rum, und man konn­te sich in eine Ecke set­zen, lesen und wur­de nicht mit iro­ni­schen Sprü­chen belästigt.

Wie qua­li­ta­tiv wert­voll die Arti­kel der Zeit damals wirk­lich waren, kann ich nicht mehr beur­tei­len. Ich den­ke, das konn­te ich auch damals nicht beur­tei­len, weil mein poli­tisch-kri­ti­sches Den­ken noch sehr unter­ent­wi­ckelt war. Sie waren jeden­falls in einer bestimm­ten Ton­la­ge auf­be­rei­tet, mit einer Aura umge­ben, die ich ein­sog wie ein Schwamm. Es war mit dem (nicht for­mu­lier­ten) Gefühl des Auf­stiegs aus einer nie­de­ren in eine höhe­re, lich­te­re Welt ver­bun­den. Die Zeit för­der­te die­ses Gefühl und befes­tig­te es. Sie zog einen an und hielt einen drin im Sprach­spiel die­ses Milieus.

In der Zeit bün­del­te sich im Grun­de all das, was ich spä­ter, beim ›Rechts­wer­den‹, wie­der von mir abstieß: die­ses Her­ab­schau­en auf die Arbei­ter- und Bauern­welt, die­ses Gefühl, fort­schritt­lich zu sein und zur auf­ge­klär­ten Schicht der Gesell­schaft zu gehö­ren, die Iro­nie, der Distink­ti­ons­ge­winn, ins­ge­samt etwas ver­hal­ten Erha­be­nes mit gleich­zei­ti­ger iro­ni­scher Bre­chung und Ent­wer­tung die­ses Erha­be­nen. Die Zeit war das Medi­um, durch das man die­se Hal­tung ler­nen und ein­üben konn­te: immer Wech­sel zwi­schen Stand- und Spiel­bein, mora­li­schem Anspruch und iro­ni­schem Aus­wei­chen. The­men­aus­wahl, Auf­be­rei­tung, Sound, das war schon alles mehr als nur ›Zei­tung‹ … ich will nicht sagen ›Kult‹, aber es ging in die Rich­tung eines kul­tu­rell-poli­tisch-ästhe­ti­schen Gesamt­kunst­werks. Es war das sprach­li­che Medi­um eines Milieus, zu dem ich gern gehö­ren und des­sen ich mich wür­dig erwei­sen wollte.

Des­halb war spä­ter die Ent­täu­schung um so schmerz­haf­ter. Heu­te läch­le ich dar­über, wie tief mich das getrof­fen hat, als ich wegen eines Kom­men­tars blo­ckiert wur­de … (Das war doch die Zeit! Das waren doch die intel­li­gen­ten, die tole­ran­ten, die bes­se­ren Leu­te! Da konn­te man doch ›über alles reden‹! Wie konn­ten die mich, einen Ernst- und Gut­mei­nen­den, einen von ihnen, ein­fach abwür­gen!?) Man konn­te nicht nur kei­nes­wegs ›über alles reden‹, man konn­te nicht mal die ›fal­schen‹ Fra­gen stel­len, wie vor­sich­tig man es auch tat.

Es war heil­sam, weil mir da die Augen auf­gin­gen, wie sehr ich im Pro­zeß der Anpas­sung an den Zeit-Stil und die Zeit-Hal­tung selbst so gewor­den war, daß ich auf das ›ein­fa­che Volk‹ her­ab­schau­te – wie­der­um iro­nisch natür­lich! Nie frei her­aus, nicht wenigs­tens ehr­li­che, auf­rich­ti­ge Ver­ach­tung, immer ver­steckt, spie­le­risch, mehr­deu­tig. Mir wur­de aber klar, daß es den­noch ein Her­ab­schau­en war, ein abwer­ten­der Blick auch auf mei­ne eige­ne Herkunft.

Mein Bruch mit der Zeit voll­zog sich stu­fen­wei­se. Mir wur­de immer deut­li­cher, daß Anspruch und Wirk­lich­keit (Stich­wort ›Tole­ranz‹) aus­ein­an­der­klaff­ten, daß die Zeit nicht ein­lös­te, was sie ver­spro­chen hat­te (vor allem in der Bericht­erstat­tung zu Ruß­land und Pegi­da, die unfaß­bar hohl, grob und niveau­los war), daß die­se Hal­tung nur Atti­tü­de war, nur Ver­packung, daß die­se ver­meint­lich auf­ge­klär­te, fort­schritt­li­che, lich­te, bes­se­re Schicht unfä­hig zu ech­ten Debat­ten war, gar nicht zu reden von Streit oder ech­ter, klä­ren­der Aus­ein­an­der­set­zung auf Augenhöhe.

In mei­nen Augen wan­del­te sich die Zeit von einem Magne­ten, der durch die Ver­mitt­lung einer spe­zi­el­len Hal­tung und eines spe­zi­el­len Gefühls Leu­te gesam­melt und in gewis­sem Sin­ne auch ästhe­tisch und gesell­schafts­po­li­tisch erzo­gen hat­te, zu einer Art Boll­werk, das den Bestand ver­tei­dig­te, und zwar auf eine so dum­me Art und Wei­se, daß ich baß ent­täuscht war. Aber: Ent­täu­schung ist ja etwas Gutes!«

Soweit der ehe­ma­li­ge Leser. Mor­gen erscheint schon wie­der eine neue Zeit. Auch sie wird einen bun­ten Strauß an Info-Gra­fi­ken, erschüt­tern­den Fotos und »dis­si­den­ten Mei­nun­gen« bereit­hal­ten: »Wir müs­sen drü­ber reden!« Klar. Nur – natür­lich nicht über alles! Wo kämen wir hin!

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

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