Ein historischer Moment in der deutschen Nachkriegs- und Nachwendegeschichte: Im Juni 2023 überschritt eine rechte Partei erstmals in einer Umfrage die Grenze der 20-Prozent-Marke. Die AfD hat damit symbolisch und numerisch den Rahmen der alten Ordnung gesprengt.
Denn bisher war das politische Leben in der BRD von einer unheiligen Allianz bestimmt. Die Union tat so, als wäre sie rechts, machte aber linke Politik. Die linke Kulturhegemonie tat so, als wäre die CDU fürchterlich »rechts«, bekämpfte sie jedoch nie so entschlossen, wie sie das heute mit der AfD tut. Der Betrogene war stets der rechtskonservative Wähler der Union.
Wer es wagte, eine wirklich rechte politische Plattform zu gründen, sah sich einer bizarren Querfront gegenüber. Man war sich von ganz links bis Union einig: Neben der CDU durfte es keine authentisch rechte Kraft geben. Von den Republikanern über die Deutsche Volksunion (DVU) bis zur NPD, von den »Pro-Bewegungen« bis zu »Die Freiheit« wurden alle Ansätze einer rechten Politik im Keim erstickt.
Daß die AfD nun mit bundesweit 20 Prozent gehandelt wird, ist für das Macht- und Parteienkartell der BRD ein Betriebsunfall. Die AfD erblickte als Professorenpartei in den Nachwehen der Wirtschafts- und Eurokrise das Licht der Welt. Die standortpatriotische Kritik am Euro war abstrakt und ökonomisch genug, um nicht in den Ruch des »Völkischen« zu geraten. Das Poltern gegen die »Pleitegriechen« traf keine geschützte Opfergruppe und wurde zeitweise auch in deutschen Talkshows geduldet.
Bernd Lucke paßte als authentische Verkörperung eines biederen »Bruttoinlandsprodukt-Patrioten« perfekt ins Bild. Die Medienpräsenz der jungen AfD war beeindruckend. Im Vergleich zu heute wurde fast neutral, ja wohlwollend über sie berichtet. Man darf vermuten, daß die linken Strategen hofften, mit einer populistischen »FDP 2.0« das rechte Lager zu fragmentieren. Sollte dies der Fall gewesen sein, so rächte sich der taktische Schachzug, die AfD »groß werden zu lassen«, später bitter.
Der Einzug in den Bundestag gelang, und die AfD erreichte eine kritische Masse. Als 2015 das Migrationsthema das Eurothema ablöste, kam es zu einem Akt der politischen »Entpuppung«, welcher dem System den Atem raubte. Die AfD war nicht direkt als migrations- oder gar islamkritische Partei angetreten. Es war eher ein unbeabsichtigter Nebeneffekt, daß ein Großteil der »Standortpatrioten« in der Regel auch migrationskritisch eingestellt war. So »schaltete« die AfD auf einen Schlag um und wurde von einer eurokritisch-liberalen zu einer patriotisch-identitären Kraft. Symbolisch dafür steht immer noch Björn Höcke als Ausnahmepolitiker der deutschen Nachkriegsgeschichte.
Entscheidend blieb aber, daß man der Partei aufgrund einer Fehleinschätzung ihres Potentials Zeit gelassen hatte, eine stabile Plattform zu bilden und eine kritische Masse zu sammeln, bevor die üblichen Zersetzungsmechanismen einsetzten. Die mit Übereifer nachgereichten Vernichtungskampagnen erreichten das Gegenteil. Sie schafften es nicht, die Partei zu zermürben, sondern machten sie nur bekannt – und zur ersten Wahl für jede Proteststimme.
Außerdem führten die Angriffe zur Bildung eines weltanschaulich grundsätzlichen Kerns, der liberale »Selbstverharmlosungen« im Innern dauerhaft unterbinden konnte. Diese Selbstfindung der AfD als migrationskritische Kraft gelang nicht ohne Reibungen. Regelmäßig fanden Häutungen statt, bei denen die »patriotische Basis« eine »liberale Spitze« loswerden mußte. Die Gefahr einer Zerschlagung der AfD wurde im Spaltungssommer 2022 abgewendet: Mit Jörg Meuthen und seinem Vorstand wurde das letzte Stück des eurokritisch-liberalen Kokons abgestreift.
Die Wahl zwischen Meuthen und Chrupalla war mehr als ein parteiinterner Machtkampf. Beide standen symbolisch für zwei Leitstrategien, die unsichtbar und meist unbemerkt um die Partei und das rechte Lager ringen: Parlamentspatriotismus versus Reconquista. Mit Kickl, Höcke und Chrupalla haben sich die Kräfte der Reconquista an die Spitze gesetzt. Doch immer noch beherrscht der Parlamentspatriotismus das Denken vieler Funktionäre. Vielen ist er bereits in Fleisch und Blut übergegangen. Gelingt seine Überwindung, könnten die beiden größten rechtspopulistischen Parteien im deutschsprachigen Raum zu Vertretern der Reconquista werden und eine »Kulturrevolution von rechts« einleiten.
Reconquista und Parlamentspatriotismus sind konkurrierende Leitstrategien des rechten Lagers. Sie und ihre Vertreter eint ein inhaltliches Ziel: der Erhalt des deutschen Volkes und seiner Identität. Daß dazu eine alternative Bevölkerungs- und Identitätspolitik nötig sei, würde sowohl von Jörg Meuthen und Norbert Hofer als auch von Herbert Kickl und Björn Höcke unterschrieben werden. Doch beide Strategien schlagen radikal unterschiedliche Wege zur Erreichung dieses Zieles vor.
»Leitstrategie« ist ein der Kriegs- und Geopolitik entlehnter Begriff. Er bezeichnet die Gesamtstrategie eines Staates im Hinblick auf seine außen- und innenpolitischen Ziele in Anbetracht aller politischen, militärischen und ökonomischen Mittel. In meinem Buch Regime Change von rechts übertrage ich dieses Schema auf das rechte Lager. Die Leitstrategie ist danach das umfassende Konzept zur Erlangung staatspolitischer Gestaltungsmacht, zur Umsetzung des Hauptziels. Die Akteure, die diese Leitstrategie umsetzen, sind: Partei, Bewegung, Gegenkultur, Theoriebildung und Gegenöffentlichkeit.
Der Parlamentspatriotismus ist daher mehr als die Ausrichtung der Partei. Er prägt als Leitstrategie das gesamte rechte Lager. Seine Definition lautet: »Erreichung des rechten Hauptziels ausschließlich durch Stimmenmaximierung und Wahlerfolge«. Das rechte Hauptziel soll durch einen Kantersieg an der Wahlurne errungen werden. Daraus ergibt sich ein Fokus aller rechten Ressourcen auf Stimmenmaximierung sowie maximale Anschlußfähigkeit, Anpassung an die Diskurse und Beseitigungen von Reibungsflächen.
Jene Bereiche des rechten Lagers, deren Arbeit nicht unmittelbar Wahlstimmen bringt, stellen aus Sicht des Parlamentspatriotismus Ressourcenvergeudung dar. Im schlimmsten Fall gelten sie sogar als Gefahr für die Mehrheitsfähigkeit. Das trifft vor allem die Bewegung, die Theoriebildung und die Gegenkultur. Aktivismus, Hochschulpolitik, Weltanschauung und Kulturarbeit werden zugunsten eines oberflächlichen »Protestwellenreitens« vernachlässigt.
Aus Sicht des Parlamentspatrioten sind Aktivisten eher ein Risikofaktor, für den man sich ständig in Talkshows und Interviews rechtfertigen muß. Parlamentspatriotische Parteien verhalten sich gegenüber dem außerparlamentarischen aktivistischen Umfeld tendenziell feindlich und distanziert. Exemplarisch dafür steht die Aussage von Heinz-Christian Strache kurz vor dem Ibiza-Skandal. Zur Rettung der Koalition mit der ÖVP »opferte« man damals die Identitäre Bewegung. Sein Tenor: Die Politik »gehört in den Gebietskörperschaften und der Regierung umgesetzt und nicht auf der Straße.«
Auch die Gegenöffentlichkeit wird oft stiefmütterlich behandelt – hat sie doch im Gegensatz zum Mainstream eine geringere Reichweite und keine legitimierende Wirkung. Statt dessen giert der Parlamentspatriot nach Auftritten in den »Öffentlich-Rechtlichen«.
Kern der Leitstrategie des Parlamentspatriotismus ist eine falsche Analyse der Machtverhältnisse. Die Macht wird mit den formellen Machtpositionen identifiziert. De jure liegt die Macht in der BRD beim Parlament, de facto sitzt sie aber an ganz anderer Stelle! Zwar ist formelle Regierungsgewalt unverzichtbar: Für eine rechte Identitäts- und Bevölkerungspolitik (bestehend aus Leitkultur, Familienförderung, Grenzschutz, Remigration, Deislamisierung etc.) sind stabile parlamentarische Mehrheiten notwendig. Doch sie sind nicht der Schlüssel zur wahren politischen Macht, sondern vielmehr deren Ergebnis.
Die Macht liegt nach Louis Althusser nicht im »repressiven Staatsapparat«, in dem schon Antonio Gramsci nur einen »vorgelagerten Schützengraben« erkannte. Das Herz der Macht sind die »ideologischen Staatsapparate« (Althusser), mittels derer die herrschende Ideologie die Zivilgesellschaft kontrolliert. Die metapolitischen Multiplikatoren sind die Universitäten, die Redaktionen, die Kirchen, die Verlage, die Bühnen und Galerien, die Hoch- und die Populärkultur. Sie alle sind seit Jahrzehnten fest in linker Hand.
Die ideologischen Staatsapparate kolonialisieren und transformieren unsere Sprache und unsere Gedanken. Das vielzitierte »Overton-Fenster« (der Rahmen des Sagbaren) folgt ebenfalls seit Jahrzehnten der Zentripetalkraft dieser linken »Hegemonie« (Gramsci). Über den Köpfen verdutzter »Konservativer« verschiebt sich das politische Koordinatensystem, so daß ihr unveränderter Standpunkt im »Kontext« der Gesellschaft erst »problematisch« und dann »gesichert extremistisch« wird.
Dieses metapolitische Machtverständnis fehlt dem Parlamentspatriotismus. Er beklagt zwar oft und wortreich die negative Wirkung der linken metapolitischen Dominanz und die Folgen der »68er-Bewegung«. Sein Lösungsvorschlag für dieses Problem ist aber denkbar plump. Ein populistischer Wahlsieg soll die Partei »an die Macht bringen«. Vom Parlament aus werde man dann den »Laberfächern« an der Uni und der »Lügenpresse« im Mainstream finanziell und gesetzlich »den Saft abdrehen«.
Um diesen massiven Wahlsieg zu erringen, müssen um jeden Preis Stimmen maximiert werden. Dazu muß die Partei dorthin gehen, wo sie die größte Masse vermutet, also leicht rechts der Mitte. Der Parlamentspatriot meidet daher um so mehr Randbereiche des Overton-Fensters, um nicht anzuecken. Er positioniert sich klar gegen den »neuesten Wahnsinn von links«, arrangiert sich aber mit dem linken Wahnsinn von gestern. Der Kampf gegen »Drag Queens« geht Hand in Hand mit der Versöhnung mit der Homoehe.
Mit denselben Argumenten wirbt der Parlamentspatriot für »Charmeoffensiven« zur Gewinnung migrantischer Wähler und trottet auch überall sonst dem Zeitgeist hinterher. Norbert Hofer, die Verkörperung dieser falschen Leitstrategie, ließ keine Gelegenheit aus, sich von der (medial unpopulären) Identitären Bewegung zu distanzieren, während er sich sowohl mit der (medial populären) »Black Lives Matter«-Bewegung als auch mit »Fridays for Future« solidarisierte. All das hat nur einen einzigen Effekt: Der Rahmen des Sagbaren verschiebt sich weiter nach links, und das mit rechter Hilfe.
Je stärker die kulturelle Hegemonie des Gegners wird, desto verzweifelter bemüht sich der Parlamentspatriot um »Mehrheitsfähigkeit« zur Stimmenmaximierung. Je rascher das Overton-Fenster, die »Mitte« nach links rückt, desto schneller taumelt der Parlamentspatriot metapolitisch hinterher. Er erfindet sich Jahr für Jahr neu, immer ein Stück »progressiver« und »fortschrittlicher«. Gelingt zwischenzeitlich tatsächlich ein Wahlsieg, tritt ein, was Thor v. Waldstein in seinem Essay Metapolitik festhält: Der »Eintagserfolg einer politischen Partei ohne eine solide kulturelle / metapolitische Verankerung im Wahlvolk« führe nur zu einer »nominellen Machtstellung durch ein Parlamentsmandat«, die »in der Regel genauso schnell verschwindet, wie sie entstanden ist«.
Ohne metapolitische Rückendeckung kann eine rechte Partei staatspolitische Macht weder halten noch erfolgreich umsetzen. Bleiben die linken ideologischen Staatsapparate und ihre herrschende Ideologie intakt, so fehlt der rechten Regierung die nötige Autorität. Sie sieht sich einem tiefen linken Staat aus Medien, Justiz, Verwaltung, NGOs, Finanz, Kirche und Aktivisten gegenüber, dem sie nicht gewachsen ist.
Zahlreiche gescheiterte rechte Regierungsbeteiligungen zeigen, daß ohne patriotische Zivilgesellschaft, ohne Gegenöffentlichkeit, ohne mobilisierbare Masse auf der Straße, ohne eine starke weltanschauliche Basis keine Wende zu haben ist. Auf den Höhenflug folgt so stets die Enttäuschung. Die parlamentspatriotische Herangehensweise ist weder pragmatisch noch machiavellistisch, bringt sie unsere Richtung doch der Macht keinen Schritt näher. Es ist kein Wunder, daß sich die Machteliten am ehesten mit einer parlamentarischen Partei arrangieren können.
Rechter Aktivismus und rechte Medienprojekte werden, wo sie erfolgreich auftreten, dagegen mit Zersetzung, Zensur und Repression bekämpft – womöglich sogar schärfer. Der Gegner weiß schließlich selbst nur allzu gut, wo das wahre Zentrum seiner Macht liegt: nicht in seinen Parteien, sondern in seiner metapolitischen Dominanz! Ein kurzfristiges Umfragehoch einer rechten Partei ist für ihn langfristig weniger gefährlich als eine erfolgreiche, rechte Kampagne, die langfristig in die Diskurse eindringt. Eine rechte Regierungsbeteiligung ist für ihn wesentlich leichter zu kontrollieren als eine unabhängige, rechte Massenbewegung auf der Straße.
Der Parlamentspatriotismus zäumt das Pferd von hinten auf. Die Überwindung der herrschenden Ideologie ist nichts, das man auf »später« verschieben könnte. Das rechte Lager muß hier und jetzt damit beginnen, den Korridor des Sagbaren durch anschlußfähige Provokation zu erweitern und den Rahmen nach rechts zu verschieben.
Wenn die AfD und die FPÖ nicht nur auf einer Protestwelle reiten, sondern tatsächlich staatspolitische Macht erlangen wollen, müssen sie mit den außerparlamentarischen Akteuren des rechten Lagers zusammenarbeiten. Die personellen, finanziellen und zeitlichen Ressourcen, über die wir verfügen, müssen strategisch auf Partei, Bewegung, Theoriebildung, Gegenkultur und Gegenöffentlichkeit verteilt werden.
Die Partei muß insbesondere ausreichend Ressourcen für Hochschulpolitik und Elitenbildung bereitstellen. Gerade in Phasen rechter Themenkonjunktur muß abseits von Wahlkämpfen die metapolitische Pionierarbeit intensiviert werden. In gemeinsamer Kampagnenarbeit muß gezielt und kontrolliert eskaliert und provoziert werden, um den Rahmen des Sagbaren auszubauen und die herrschende Ideologie zu demontieren. Das ist der Weg, der gemeinhin als »Reconquista« bezeichnet wird. Er führt geradewegs zum Zentrum der Macht und erreicht es durch eine »Kulturrevolution« oder notfalls mit einem demokratischen »Regime Change von rechts«!