Der Osten bleibt nicht nur im Gespräch, er bestimmt die Politik – gerade darüber, daß die AfD dort in aktueller Wählerumfrage auf 32 Prozent kommt, eine mehr als doppelt so hohe Zustimmung wie im Westen.
Mittelbar hat das Ursachen, die in der Vergangenheit und mithin im Selbstbild der Ostdeutschen liegen. Ganz offenbar ist man hier nicht nur weniger zufrieden damit, wie es insbesondere migrationspolitisch läuft, man wird überhaupt selbstbewußter, indem man die eigene Identität offensiver vertritt. Daher die Resonanz auf die neuen Geschichtsbestseller.
Nach Dirk Oschmanns polemisch diskutiertem Der Osten: eine westdeutsche Erfindung (Berlin: Ullstein 2023) nun das Werk der jungen, in Thüringen geborenen und in England lehrenden Historikerin Katja Hoyer, rückübersetzt aus dem Englischen: Diesseits der Mauer. Eine neue Geschichte der DDR (Hamburg: Hoffmann und Campe 2023).
Die DDR-frustrierte Ines Geipel formulierte gegenüber beiden den Vorwurf, »ein ostdeutscher Kriegsenkel und eine ostdeutsche Kriegsurenkelin, mit globalem Bildungsprogramm und entsprechend weltläufigem Vokabular ausgestattet, setzen auf Umschreibung, Mythenbildung und Selbstauratisierung, um der im Osten verbliebenen Großeltern- und Elterngeneration ein Drehbuch zu offerieren, das die schmerzhafte Erinnerung der Niederlage überwinden hilft«.
Matthias Jügler, der Katja Hoyer unterstellt, sie wolle »die dunklen Seiten der DDR zugunsten von Grillfeiern und ausgelassenen Urlaubsreisen verdecken«, zog nach und attestierte allgemein »den Wunsch nach Selbstermächtigung, nach Befreiung aus dem westdeutsch geprägten Narrativ«, verärgert darüber, »daß ein beschönigendes Buch wie das von Katja Hoyer gerade so gefragt ist.«
Katja Hoyer beschönigt gar nichts. Im Gegenteil, sie beschreibt eindrucksvoll, aus welchem historischen Horror die DDR entstand – im Ergebnis einer »Befreiung«, die nicht zuerst als Chance, sondern vielmehr als Rache, Raub und Vergewaltigung wahrgenommen wurde. Den Neubeginn prägte die von den Sowjets eingeflogene »Gruppe Ulbricht«, kommunistische Exilanten, die den Alptraum stalinistischer Säuberungen überstanden, weil sie sich als angepaßt stalinhörig erwiesen hatten.
Hoyer vermag zu zeigen, wie sich das geschundene und an Ressourcen knappe Ostdeutschland, ausgeplündert von Reparationsleistungen an die sowjetischen Sieger, kraft der Leistung seiner Menschen zu behaupten vermochte. Fünfundzwanzig Prozent dieser Ostdeutschen waren Flüchtlinge aus den Ostgebieten, starteten also mit nichts. Man darf darüber staunen, daß in der SBZ und der daraus erwachsenden DDR überhaupt etwas entstand – trotz der neuerlichen Ideologisierung und der Enge der Planwirtschaft. Das wird eine Konstante der DDR-Geschichte bleiben: Was überhaupt glückte, das gelang nicht wegen, sondern trotz des Systems. Aber vielfach mit Enthusiasmus.
Und wenn am Ende die Kräfte nicht reichten und das Land unterging, nicht nur im revolutionären Akt der Wende, sondern auch resignierend, dann darf man das tragisch finden, weil sich nicht wenige für dieses schwierige Land aufgeopfert hatten. Während sich die Bundesrepublik nie der Häme dem sozialistischen Experiment gegenüber zu enthalten vermochte und damit am Ende fatalerweise von der Geschichte recht bekam.
Es schmerzt nun mal, wenn sich das geschaffene Eigene trotz aller Mühe als gescheitertes Provisorium erweist, und es ist legitim, der Niedergeschlagenheit Ausdruck zu geben – nicht sentimental und ostalgisch, sondern indem umfassendere Zusammenhänge aufgezeigt werden, als es eine Siegergeschichtsschreibung nach dem Beitritt 1990 zugelassen hatte.
Allzu pauschal bestand eine offizielle Grundwahrnehmung darin, im Westen lebten die genuinen Demokraten, die sich ihren Wohlstand mit der Maloche in den Fünfzigern und Sechzigern erarbeitet hatten, im Osten aber wurstelte eine degenerierte Abart davon, zur Demokratie ebenso unbefähigt wie zur Wirtschaftsleistung. Nur war dieser »Ossi« eben nicht nonkausal entstanden; er hatte seine Geschichte und lebte in Umständen, deren Gründe historisch genau aufgezeigt werden müssen, damit qualifiziert geurteilt werden kann.
Das gelingt Katja Hoyer mit hoher Genauigkeit: Sie schreibt kenntnisreich, spart Verbrechen und Schuld nicht aus, versteht aber, auf Stärken und Erfolge aufmerksam zu machen, die es so nur in der DDR geben konnte, meist gegen das Regime, mitunter jedoch sogar mit oder wegen der SED-Herrschaft. Daß sie immerfort exemplarische Einzelschicksale einblendet, durchaus im Verfahren einer guten Doku-Soap, sorgt für Authentizität wie für literarischen Unterhaltungswert.
Die junge DDR wurde nicht mal von der Siegermacht im Osten akzeptiert: »Unter den Ländern des Ostblocks war die DDR insofern einzigartig, als ihre Existenz nie gesichert war. Ulbricht, Mielke und ihre Weggefährten mußten ihren Staat nicht nur gegen den Westen verteidigen, sondern auch gegen Stalin, der es immer noch vorgezogen hätte, ihn in ein vereintes, neutrales Deutschland integriert zu sehen.«
Je mehr sich die BRD dem Westen zuwandte und der Kalte Krieg die feindlichen Blöcke generierte, wurde die DDR von der Sowjetunion als Vorposten in der Konfrontation genutzt so wie andererseits die BRD, was zwischen beiden eine Feindschaft bedingte, die ab 1990 verdrängt wurde. Als Honecker, nicht zuletzt wirtschaftlicher Probleme wegen, den Ausgleich mit dem anderen Deutschland suchte, plante Moskau, ihn abzusetzen.
Weshalb aber keine Demokratie und kaum Freiheiten? Hoyer meint, die Erfahrungen der ersten Hälfte des Jahrhunderts brachten die Menschen dazu, »Stabilität und Einheit über eine pluralistische Diskussion zu stellen. […] Im Jahr 1949 hatte ein Deutscher mittleren Alters in seinem Leben das gesamte Spektrum politischer Systeme miterlebt, aber keines hatte eine funktionierende Demokratie geboten. Woher sollte die Liebe zum Wählen, zu den Bürgerrechten und zu einer pluralistischen Gesellschaft also kommen?«
Selbst die Errichtung der Mauer, sonst als das Symbol der Unmenschlichkeit präsentiert, faßt die Autorin mit sehr gewagtem Realismus auf: »Kennedy, Chruschtschow, Adenauer und Ulbricht waren gleichermaßen erleichtert, daß die gefährliche Woge der Feindseligkeit im Kalten Krieg nun einen Wellenbrecher in Berlin gefunden hatte. […] Mit der Zementierung der ideologischen Kluft setzte eine Phase der Ruhe ein.« Und der relativen Erfolge, da die Abwanderung von Leistungsträgern gestoppt war.
Zwar würgte Honecker – im persönlichen Einvernehmen mit Breschnew – die hoffnungsvolle Phase eines Marktelemente einbeziehenden »neuen ökonomischen Systems« Ulbrichts ab und schränkte eine verhaltene Liberalisierung in Alltag und Kultur wieder ein, aber die spürbaren materiellen Verbesserungen seit den späten Sechzigern sorgten – ebenso wie industrielle und wissenschaftliche Erfolge – dennoch für eine Identifizierung der meisten mit ihrem »sozialistischen Vaterland«.
Klar, Mielkes Stasi behielt argwöhnisch alles im Blick. Andererseits ermöglichte das effiziente Bildungssystem einen beispiellosen sozialen Aufwärtstrend. Die Schule indoktrinierte die Kinder, aber das TV-»Sandmännchen« brachte sie gut ins Bett. Ideologie ermöglicht nicht zuletzt Sinngebung – in zweierlei Hinsicht, einerseits im Bekenntnis dazu, andererseits mit alternativen und subkulturellen Lebensentwürfen dagegen.
Die Autorin zeigt zum einen den spezifischen DDR-Alltag in seiner eigenwilligen Lebendigkeit, zum anderen offenbart sie so analytisch wie episodisch, welche politischen Machtkämpfe im Hintergrund ausgefochten wurden. Die brutale Kaltstellung Ulbrichts, von Honecker im konspirativen Komplott mit der Sowjetführung vollzogen, hat das Format eines Shakespeareschen Dramas.
Erheblicher noch als die Bundesrepublik waren die Geschicke der DDR von außenwirtschaftlichen Bedingungen abhängig. Solange die UdSSR billiges Öl lieferte, ging es bergauf, zumal die DDR den Rohstoff in Raffinerien aufbereitete und dann selbst exportierte. Das machte 28 Prozent ihrer Westexporte aus. Als die Sowjetunion 1981 die Lieferungen reduzierte, war das der Anfang vom Ende – und der Beweis dafür, daß von »brüderlichen Beziehungen« nie die Rede sein konnte. Honecker schrieb: »Ich bitte dich, den Genossen Breschnew zu fragen, ob es zwei Millionen Tonnen Erdöl wert sind, die DDR zu destabilisieren.«
Katja Hoyer schreibt unterhaltsam, ohne zu romantisieren – zur landeseigenen Jeansherstellung etwa, die einen Markenstreit mit dem US-Unternehmen Levi Strauss auslöste, oder wie die DDR, um ihren Mangel an dem devisenlastigen Getränk endlich zu beheben, Vietnam zu einem Land des Kaffeeanbaus entwickelte. Und natürlich Katarina Witt als sterbende Carmen auf dem Olympia-Eis von Calgary 1988 – kurz vorm Ende. Die von Honecker personifizierte Kleinkariertheit stand ebenso für die DDR wie andererseits der zeitweilige Anschein, doch für ein neues, junges Deutschland zu stehen – so erlebbar etwa bei den X. Weltfestspielen der Jugend und Studenten in Ost-Berlin 1973.
Wie die Siebziger trotz Biermann-Affäre die Anmutung des Aufbruchs vermittelten, standen die Achtziger für deprimierende Stagnation und den Niedergang. Entscheidendes war systemisch verschuldet, aber so wie die Gründung des Landes von außen veranlaßt worden war, war auch der Untergang nicht primär von der DDR selbst verursacht. Von konkreter Schuld im einzelnen spricht das keinen ihrer Akteure frei.