An Ruges Zugriff waren zwei Merkmale bestechend: Er schilderte die eingeübte Ordnung einer Welt, die von ihrem Zusammenbruch nichts ahnte, und das nachgereichte Besserwissen einer »Freiheit«, die wiederum bloß aus anders gelagerten Unfreiheiten bestand.
Pompeji ist erneut ein Roman über eine Welt vor ihrem Untergang. Man ahnt nichts vom Leben am Rande eines Vulkans. Auch als Plinius auftaucht und den Tod zweier Vogeljäger in den Hängen des Vesuvs als Erstickungstod in den Dämpfen eines unruhigen Vulkans deutet, ziehen die Bewohner der Stadt keine Konsequenzen. Nur Josse, ein rednerisches Naturtalent, entwirft eine Strategie der Sammlung an sicherem Ort und zieht mit einer Gruppe Philosophen und Aussteiger in eine Bucht, um an diesem »Fenster des Meeres« eine neue Siedlung zu errichten.
Man kann in Josses Karriere ein Urbild wendiger Politik an sich erkennen. Von der rhetorisch brillant vorgetragenen Neubauidee bis zur kapitalisierten Stiftung eines vulkanischen Kultes braucht er gerade einmal fünf Reden, in denen er sich selbst und andere stets aufs neue überzeugt und überredet. Am Ende ist er als Liebhaber einer steinreichen Bauherrin in der Mitte der Gesellschaft angekommen und wird – blind für das, was er einmal wußte – auf der Flucht vor dem Glutwind des Vesuvs einen raschen Tod finden.
Ruges Roman ist ein »Schlüsselroman«, eine Parabel auf unsere Zeit. Ein Beispiel: Als das Gerede über den Vulkan aufkommt, sind es die »römisch-patriotischen Bürger, die die Vulkangerüchte ablehnen, während die anderen, die Nörgler und Querulanten, an den Vulkan glauben«. Wieso ist das so, fragt der Erzähler, und wir sollten fragen: Wer vergibt wann und zu welchem Zweck die Bezeichnungen Nörgler und Querulant? Ist nicht alles eine Frage der Perspektive, der Meinungsmacht, des Meinungsmachens und der Besserwisserei im nachhinein?
Pompeji ist unterhaltsam, wenn man nicht nach genauen Entsprechungen sucht, sondern das Durcheinander aus Plausibilität, Egozentrik, Zufall, Kalkül und Blindheit am Beispiel dieses Untergangs nachvollzieht und auf andere Epochen zu übertragen beginnt – eben auch auf unsere.
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Eugen Ruge: Pompeji. Roman, München: dtv 2023. 360 S., 25 €
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