Der Autor präsentiert seinen Lesern sieben entscheidende Entwicklungsschritte der Moral, die er an sieben idealisierte Referenzzeiträume koppelt: Vor 5 000 000 Jahren habe bei den Vorfahren des Menschen die Evolution der Kooperation begonnen, was zu einer gruppenorientierten Moral geführt habe. Vor 500 000 Jahren sei das Strafen als soziale Regulation des Verhaltens hinzugetreten. Vor 50 000 Jahren sei die kulturelle Evolution ins Rollen gekommen, wodurch der Mensch zunehmend seine eigene Umwelt gestaltet habe; die Moral sei dadurch »identitätsorientiert« geworden.
Diese Entwicklung habe vor 5000 Jahren zu immer komplexeren Gesellschaften geführt, die eine hierarchische Strukturierung nötig gemacht und auf diesem Wege Ungleichheit erzeugt hätten. Diese Ungleichheit sei vor 500 Jahren zunehmend als Problem empfunden worden; durch weitere Schritte kultureller Evolution, insbesondere auf dem Gebiet der Wirtschaft, seien die meisten Hierarchien der Gesellschaft durch freiwillige Kooperation ersetzt worden: die Geburtsstunde der modernen Gesellschaft.
Vor rund 50 Jahren sei der »soziopolitische Status benachteiligter Minderheiten […] zur moralischen Priorität geworden.« Und seit rund fünf Jahren bereite nun der aus der Frühphase der Menschheit stammende Atavismus einer Einteilung in »wir« und »die« in Gestalt linker und rechter Identitätspolitik Probleme. Aber, so möchte Sauer seine Leser abschließend beruhigen: »Die moralischen Werte, die uns verbinden, gehen tiefer, als wir glauben, und die politischen Gräben, die uns trennen, sind weniger tief, als wir denken.«
Wer erwartet, daß diese holzschnittartige Zusammenfassung des Inhalts im Buch selbst als lebendige, empirisch fundierte und überzeugende Geschichte erzählt wird, wird enttäuscht werden. Denn was die anthropologischen Fakten angeht, ist das Buch, wie der Autor selbst freimütig zugesteht, pure Spekulation: Statt »Geschichtsschreibung im traditionellen Sinne, bei der auf konkrete, mehr oder weniger gut dokumentierte Ereignisse und Entwicklungen Bezug genommen wird«, gehe es hier um »eine Form der ›tiefen Geschichte‹, bei der nicht mit Jahreszahlen und Namen operiert, sondern ein plausibles Szenario entworfen wird, das ungefähr so abgelaufen sein könnte.« – Oder eben auch nicht.
Der halbwegs aufmerksame Leser wird jedenfalls regelmäßig über Unsinnigkeiten, Widersprüche und vor allem mangelnde Belege in der Darstellung des Autors stolpern. So wird man darüber belehrt, daß »diejenigen menschlichen Gesellschaften, die nennenswerte historische Spuren hinterlassen haben, […] immer extrem ungleich« waren, wohingegen »nomadenhaft lebende Gruppierungen von Jägern und Sammlern« – von denen sich solche Spuren freilich nicht finden lassen – »fast immer verblüffend egalitär organisiert waren.«
In der Urzeit seien sogar die Frauen gleichberechtigt an den Entscheidungen der Gruppe beteiligt gewesen, was der Autor »sehr löblich« findet. Woher er derartiges trotz fehlender Evidenz weiß? Man erfährt es nicht. Übertroffen wird die nonchalante Fabulierlust Sauers vielleicht nur durch die Blasiertheit, mit der er etwa Nietzsche und dessen Genealogie der Moral schlicht als »nicht wahr« abkanzelt.
Nun ist Nietzsche selbst für den höchst lesenswert, der alle seine Gedanken ablehnt. Das bringt den Rezensenten zum eigentlichen Skandal dieses Buchs: Der Verfasser – immerhin Berufsphilosoph – ist nicht in der Lage, einfachste Unterscheidungen zu treffen oder simpelste Reflexionen anzustellen. So bleibt es bis zum Ende des Buchs unklar, ob es Sauer um die Geschichte der Moral oder die der menschlichen Moral vorstellungen geht. Deutlich wird dies etwa dadurch, daß der Verfasser sich nicht nur nicht im klaren darüber zu sein scheint, ob Moral erfunden oder entdeckt wird, sondern daß er offenbar nicht einmal den Unterschied versteht: Der Untertitel des Buches spricht von der »Erfindung« von Gut und Böse, im Text selbst ist von der »Entdeckung der Moral« die Rede.
Auch bleibt der für Sauers Projekt entscheidende Unterschied zwischen Genese und Geltung der Moral gänzlich unreflektiert. Was, so fragt man sich bei der Lektüre, soll die Geschichte der Entstehung von Moralvorstellungen eigentlich über die Richtigkeit oder Falschheit dieser Vorstellungen aussagen? Und wenn ständig vom »moralischen Fortschritt« die Rede ist – ist das beschreibend oder doch wertend gemeint?
Angesichts dieser schmerzhaften Gedankenlosigkeit ist es kaum verwunderlich, daß Sauer auch das progressiv-liberale Moralverständnis der Gegenwart ohne jede Begründung als alternativlose Selbstverständlichkeit behandelt: »Es besteht ja kein Zweifel darüber, daß die moralischen Ziele inklusiver Bewegungen gut und richtig sind. Jeder sollte [sic!] zustimmen, daß in einer modernen Gesellschaft ethnische Zugehörigkeit, Hautfarbe, sexuelle Orientierung, körperliche Verfassung und soziale Herkunft keinen Einfluß auf das Schicksal einer Person haben sollten.« Somit erweist sich dieses Buch, das laut Eigenauskunft eine »Genealogie 2.0« sein will, bloß als geistloser Nietzsche-Abklatsch für Gutmenschen.
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Hanno Sauer: Moral. Die Erfindung von Gut und Böse, München: Piper 2023. 392 S., 26 €
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