Der Autor ist ein münsterländischer Bauernsohn, und er erzählt die Geschichte seiner Herkunftsfamilie, in der sich der Niedergang des Bauernstandes in Westdeutschland spiegelt. »1980 verließ die letzte Kuh und mit ihr der letzte landwirtschaftliche Betrieb den Ort.«
Als Leser merkt man sofort, daß hier einer schreibt, der eine enge Beziehung zu seinem Thema hat. Er selbst sieht das Buch als einen Grenzfall zwischen Wissenschaft und Familiensinn. Genau hierin liegt die besondere Stärke des Werkes. Es ist sowohl persönlich authentisch als auch fachlich solide – und damit beispielgebend für eine gelingende Vermittlung historischer Zusammenhänge.
Nicht repräsentativ für deutsche Verhältnisse, aber vielleicht gerade deswegen aussagekräftig, ist der Ort des Geschehens: Er liegt im Münsterland, zwischen den Städten Coesfeld und Lüdinghausen. Hier finden wir eine ländliche Siedlungsstruktur vor, von Einzelgehöften bestimmt, die hier »Bauerschaften« heißen. Frie beschreibt sehr plastisch die harte, aber auch erfüllende Arbeit der Eltern sowie das bäuerliche Familienleben – jeweils eingebettet in die historischen und politischen Rahmenbedingungen.
Er schildert die ländlichen Traditionen und das Glaubensleben. Rituale, die Gemeinschaft stiften, Halt geben und den Fortschritt einhegen. Aus dem erfolgreichen und vielseitigen Bauernhof des Vaters mit seinem Schwerpunkt auf die Zucht des Rotbunten Milchrinds wird ein moderner Betrieb. Die vom ältesten Sohn vorgenommene Spezialisierung auf Schweinezucht und Ferkelproduktion schützt nicht davor, daß der Hof wirtschaftlich unter Druck gerät.
Der Wandel der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse auf den Bauernhöfen vollzieht sich so rasant, daß sich aus den Interviews des Autors mit seinen Geschwistern ganz verschiedene Perspektiven herauskristallisieren. Eines jedoch ändert sich kaum. So wie seine Eltern der Überzeugung waren, »daß Politik ein Schicksal sei, das man kaum ändern könne«, meinen auch er und seine Geschwister, Politik sei nicht ihr Feld: »Wir gehen wählen. Aber wir packen da an, wo wir die Folgen unseres Handelns abschätzen und sehen können.«
Frie schildert den »stillen Abschied vom bäuerlichen Leben« ohne Wehmut und ohne Wertung, »frei von Nostalgie, mit klarem Blick«, wie es in einer Spiegel-Rezension heißt. Das mag dem akademischen Anspruch des Historikers geschuldet sein. Bei genauerer Betrachtung ist dies aber eine ahistorische Sicht, die manch klaren Blick scheut. Hier unterschlägt nämlich der Autor die wahre historische Dimension des Geschehens. Seit dem Austritt menschlicher Gesellschaften aus ihrem Leben als Jäger und Sammler, seit dem Seßhaft-Werden und dem Erscheinen von Kultur im engeren Sinne ist das Bauerntum die Grundlage jeder geschichtlichen Entwicklung.
Nicht umsonst heißt diese vor über fünftausend Jahren begonnene Epoche, zu der auch unsere Industriegesellschaft gerechnet wird, »Ackerbaukultur«. Ein klarer Blick würde auch zutage fördern, daß die Zerschlagung des Bauernstandes im kapitalistischen Westen ebenso wie im kommunistischen Osten politisch betrieben wurde und Folgen hat, die weit über unseren Horizont hinausreichen.
Schon Oswald Spengler hatte darauf hingewiesen, daß der Degenerationsprozeß einer Kultur dadurch gekennzeichnet sei, die ländlichen Räume zur Provinz herabzustoßen: »statt eines formvollen, mit der Erde verwachsenen Volkes ein neuer Nomade, ein Parasit […] mit einer tiefen Abneigung gegen das Bauerntum«. Das von Spengler entworfene zyklische Geschichtsbild vom Werden und Vergehen der Kulturen stiftet aber auch Hoffnung. Hoffnung auf eine Wiedergeburt des bäuerlichen Lebens, auf dessen Grund eine Kultur gedeihen kann, die diesen Namen verdient.
Das heute vorherrschende und auch von Frie vermittelte lineare Geschichtsbild ist insoweit ein fatalistisches, als es eine mehr oder weniger kontinuierliche Fortentwicklung meint (und herbeizuführen hilft), deren Lauf von einer globalen ökonomischen Zwangsläufigkeit bestimmt wird. Für progressive Geister ist das Ende der Bauern unwiderruflich und ein notwendiger Teil des Fortschritts, der zu begrüßen oder zumindest hinzunehmen sei.
Ein solches Narrativ läuft auf einen endgültigen Verlust von Beheimatung und schließlich auf kulturellen Niedergang hinaus. Wer eher konservativ fühlt und in der genannten Zwangsläufigkeit ein destruktives Geschehen erkennt, sieht darin vielmehr eine »Himmelfahrt ins Nichts«, vor der der Ökologe und Grünen-Mitgründer Herbert Gruhl (1921 – 1993) warnte.
So oder so, ein Geschichtsfatalismus lähmt gerade diejenigen, die noch ahnen, daß die bäuerliche Arbeit auch Kräfte freisetzt; daß es einen Wert an sich hat, dort, wo man lebt, ein Stück Erde zu bearbeiten, das man selbst gestalten kann. Wer sich die Hoffnung auf eine neue generationenübergreifende Bodenständigkeit nicht nehmen lassen will, braucht anschauliche Vorstellungen von dem, was bäuerliches Leben ausmacht. Dafür ist Ewald Fries zu Recht preisgekröntes Buch eine ergiebige Quelle.
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Ewald Frie: Ein Hof und elf Geschwister. Der stille Abschied vom bäuerlichen Leben, München: C. H. Beck 2023. 191 S., 23 €
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