Mit seinen Arbeiten zum »politischen Totenkult« hat Koselleck ein in der Bundesrepublik lange unbeachtetes Feld für die Geschichtsforschung gewonnen. Die wichtigsten Texte zu diesem Thema sind in dem vorliegenden Band versammelt.
Eröffnet wird der Band mit Aufsätzen, in denen Koselleck die europäische Denkmallandschaft analysiert, was ihn seit den späten 1960er Jahren beschäftigte, als »alle Sozialgeschichte der Kunst machen wollten«. Koselleck legte seitdem eine 30 000 Bilder umfassende Sammlung von Darstellungen des Todes in Revolution und Krieg an, wie sie sich vor allem in Denkmälern zeigen. Der Schwerpunkt liegt auf der Zeit seit der Französischen Revolution, in der Denkmäler der Sinnstiftung durch heroische Siegerdarstellungen oder dem dynastischen Totenkult dienten.
Das galt zumindest bis zum Ersten Weltkrieg, in dem das Massensterben die Frage nach dem Sinn des Todes selbst stellte. Auch die einfachen Soldaten wurden denkmalfähig und damit sinnstiftend, was man auch heute noch in jedem Dorf sehen kann. Koselleck untersucht diesen Prozeß an den Denkmälern selbst, aber auch an Todesdarstellungen in der Kunst oder dem Deutungswandel des Reiterdenkmals.
Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es erste Zweifel an der sinnstiftenden Funktion des Todes überhaupt, die sich schon vor, aber vor allem nach der Wiedervereinigung in einem völligen Bedeutungswandel der Denkmäler niederschlugen, die jetzt vor allem als »Negativdenkmäler« konzipiert waren. Koselleck begann sich in die öffentliche Diskussion um die Umgestaltung der Neuen Wache und die Konzeption des Holocaust-Mahnmals einzuschalten.
Bei ersterer sah er in dem Kompromiß, eine vergrößerte Pietà von Käthe Kollwitz aufzustellen, eine unangemessene Form der Erinnerung, da im Zweiten Weltkrieg nicht allein die Söhne, um die deren Mütter trauerten, gefallen seien, sondern aus allen Bevölkerungsteilen große Opfer zu beklagen waren. Im Holocaust-Mahnmal sah er das Problem, daß eine Opfergruppe ihr exklusives Mahnmal bekam, was zwangsläufig als Ungerechtigkeit empfunden werden müsse. Koselleck forderte deshalb entweder ein Mahnmal für alle Opfer oder für jede Gruppe ein extra Denkmal.
Daß seine Einwände nicht gehört wurden, hat Koselleck einerseits frustriert, andererseits hat es dazu geführt, daß er begann, sich allgemein zur Erinnerungskultur zu äußern. Damit sorgte er in den 1990ern für Aufsehen, weil er darin seine eigene Geschichte in die Debatte um die Frage, ob die Deutschen 1945 befreit worden seien, einbrachte: »Ich habe bis zum Schluß gekämpft, um nach Westen zu entkommen; zu behaupten, ich sei ein Opfer, wäre für mich eine Lüge. Und zu behaupten, ich sei befreit worden, als ich gefangen genommen wurde, widerspricht völlig meiner Erfahrung.«
Diese Texte fallen in eine Zeit, in der sich die Debatten um erinnerungspolitische Fragen immer mehr moralisiert hatten, so daß Kosellecks differenzierte Art des Zugriffs zu wütenden Reaktionen in den Feuilletons führte, insbesondere seine Forderung nach Errichtung eines »Tätermals«.
Im letzten Teil des Buches sind bislang unveröffentlichte Texte versammelt, die Koselleck sich seit den 1960er Jahren in einer Mappe notiert hatte, die immer in der Nähe seines Schreibtischs lag. Es handelt sich um immer wiederkehrende Träume hinsichtlich der traumatischen Erlebnisse in russischer Kriegsgefangenschaft, eine Erinnerung, die Koselleck niemals losgelassen hat. Diese Notizen sind nicht nur für die Biographie von Koselleck aufschlußreich, sondern verraten auch einiges über den Generationenbruch, der zwischen der Kriegs- und den Nachkriegsgenerationen besteht.
Mit dem Aussterben der Historikergeneration Kosellecks dominiert die moralisierende Geschichtsbetrachtung das Fach, weil es keinerlei Erfahrung bei den gegenwärtigen Historikern gibt, auf die sie zurückgreifen könnten, um Distanz zur Gegenwart zu gewinnen.
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Reinhart Koselleck: Geronnene Lava. Texte zu politischem Totenkult und Erinnerung, hrsg. von Manfred Hettling, Hubert Locher und Adriana Markantonatos, Berlin: Suhrkamp 2023. 572 S., 38 €
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