Heideggers Phänomenologie von Verfallenheit, Eigentlichkeit, Zeitlichkeit und Vorläufen zum Tode prägt dennoch bis heute die hermeneutischen Wissenschaften. Die Kontingenz mit allen Formen von Glück und Unglück ist ein Konstituens des menschlichen Daseins und seines Vollzugs.
Die Vielfalt der Formen des Scheiterns zwingt jeden, der sich damit auseinandersetzt, fast notwendigerweise zur essayistischen Betrachtung. Die entsprechenden Erscheinungen sind bestenfalls gedanklich zu umkreisen.
Vor dem Hintergrund ist es beachtlich, wie sich der Publizist Michael Böhm dem Thema nähert. Mißlingen ist immer eine Angelegenheit des individuellen Daseinsvollzugs, aber auch gesellschaftlicher Voraussetzungen. In Epochen, in denen die Freiheit des einzelnen geringgeschätzt wird – zahllose Belege gibt es exemplarisch in der antiken Tragödie –, hat das Individuum weniger die Folgen zu tragen als in Zeitaltern, in denen die Übermacht kollektiver Mechanismen und Regularien vorherrscht.
In der westlichen Welt sind Freiheit und Individualismus zwei Grundwerte, die einmal mehr, einmal weniger in der Praxis eingelöst werden. Sie lassen wichtige Vorläufer erkennen, etwa das Christentum. Jedenfalls lasten die neuen Erscheinungsmöglichkeiten dem einzelnen mehr Verantwortung auf. Anhand vieler Beispiele aus Literatur, Kultur und alltäglicher Gesellschaft analysiert Böhm die Kehrseite der Medaille. Der Schmied kann sein vielzitiertes Glückseisen auch so verformen, daß es bricht.
Zu den Konsequenzen westlicher Freiheitskultur gehören neben positiven Aspekten eine Zunahme der Depressionen, der sozialen Ängste, der Unsicherheiten und vieles mehr. Eine wichtige Studie, die diesen Problemkomplex untersucht, ist eine grundlegende, von Alain Ehrenberg über das »erschöpfte Selbst« verfaßte Abhandlung. Böhm arbeitet sich an dieser Publikation ab. Die zunehmend fehlende Einbettung in soziale Kontexte, insbesondere die Tendenz zur Versingelung, hat durchaus ihren Preis. Freiheitskritische Ansätze in der Wissenschaft, wie sie etwa vom Neurobiologen Wolf Singer vorgebracht werden, entlasten den Menschen von seiner Verantwortung für Fehlverhalten, das beispielsweise pointiert in der Erziehung und in kriminellen Verhaltensweisen offenkundig wird.
Die Präsentation individueller Lebensläufe gibt Böhms Schrift ihre besondere Würze. Christiane F. (Felscherinow), eine Kind-Prostituierte, wurde in den frühen 1980er Jahren durch die Verfilmung ihrer Erfahrungen im Berliner Kiez- und Drogenmilieu (Wir Kinder vom Bahnhof Zoo) bekannt. Daß die in prekäre Familienverhältnisse hineingeborene Deklassierte nicht in Vergessenheit geraten ist, zeigt der Erfolg ihrer vor wenigen Jahren veröffentlichten Biographie.
Sie verrät auch, daß ihre zeitweilige Prominenz nicht alles in ihrem Leben hat gut werden lassen. Der durch einen TV-Auftritt 2009 öffentlich gewordene Absturz des vorher wohlsituierten Walter Thrun in die Obdachlosigkeit erhielt nicht zuletzt deshalb Applaus, weil er seinen Ausstieg mit Widerstand gegen die »verlogene Konsumgesellschaft« begründete.
Völlig anders hingegen stellt sich das Scheitern des ehemaligen hessischen Finanzministers Thomas Schäfer dar. Er sah sich während der Corona-Pandemie seinen Aufgaben nicht mehr gewachsen und setzte wohl deshalb seinem Leben ein Ende. Ein geradezu musterhaftes Mißlingen erkennen wir im gesamten Lebenslauf des dänischen Philosophen Søren Kierkegaard, der sein absehbares frühes Lebensende durch einen existentiellen Entwurf überhöhte.
Daß Fehlschläge und Glücken des Daseins nicht getrennt werden können, sollte keineswegs entmutigen. Im Augenblick dunkelster Schatten wird gelegentlich das hellste Licht sichtbar. Kein Geringerer als der Stifter des Christentums steht dafür paradigmatisch. Der Evangelist Lukas hat es, gültig für alle Zeiten, formuliert: Mußte nicht der Christus also leiden und in seine Herrlichkeit eingehen? Arbeit am Glauben gehört ebenso zentral zu unserer Kultur wie die von Böhm eingeforderte Arbeit an der Mythisierung der Welt.
– –
Michael Böhm: Versuch über das Scheitern. Betrachtungen eines unangenehmen Phänomens, Lüdinghausen: Manuscriptum 2023. 192 S., 22 €
Dieses Buch können Sie auf antaios.de bestellen.