Gut – Zurückhaltung: Ruth und Hans-Harald Schönwald dürfen auf viele gelungene Ehejahrzehnte zurückblicken. Sie haben drei anscheinend erfolgreiche Kinder, mit denen sich renommieren ließe: Chris, der als »poststruktureller« Literaturprofessor in den USA reüssiert. (Hans-Harald druckt jede Veröffentlichung von Chris aus und heftet sie ab.) Dann Benjamin, den hochbegabten Nachzügler, der mit einer schönen Milliardärstochter verheiratet ist, aber bewußt »Normcore« lebt. Und Karolin, die nun in Berlin eine Buchhandlung eröffnet.
Diese Feier ist der Ausgangspunkt des Romans: Alle Familienmitglieder reisen an, samt Anhang. Also auch Benjamins Schwiegervater Thomas, der Milliardär, mit junger Freundin; auch Kimberley, die trump-rechte Gespielin von Chris, der in Wahrheit von seiner Professorenstelle suspendiert worden ist und seit einiger Zeit – vor der Familie verborgen – als rechter Influencer punktet.
Nun ist die zu eröffnende Buchhandlung eine »kwiere«, und Ruth, Mitte siebzig, selbst Germanistin mit Schwerpunkt Thomas Mann, findet gleich heraus, was »kwier« bedeutet und weshalb der Laden sich »They/Them« nennt. Ruth und Hans-Harald (sie haben sich auf einem Bundeswehr-Ball kennengelernt: stockkonservativ also, aber man wächst ja mit seinen Aufgaben) stochern auf ihren Smartphones, bis ihnen eine KI »queer« vorschlägt.
Die Eröffnungsfeier von »They / Them« endet im Eklat. Aktivisten schleudern Farbbeutel gegen die Scheiben der Buchhandlung. Sind es etwa homophobe Nazis? Nein, die aggressiven Demonstranten haben Migrationshintergrund (»Ausländer, wie man früher gesagt hätte«, denkt Ruth), sind teils selbst »kwier« und klagen an, daß der Laden mit »Nazi-Geld« finanziert werde. Bitte? Es gibt keinen »Nazi-Hintergrund« in der Familie Schönwald! Die Argumentation der »Aktivisti« ist schlagend: Wer als Biodeutscher über Finanzmittel verfügt, muß den Grundstock auf diese oder jene Weise vor Jahrzehnten in der »Nazi-Zeit« gelegt haben.
Der Kampf, der sich hieran entzündet, ist überwältigend, ausufernd und grandios. Nach und nach kommt alles auf den Tisch, nur kein Nazi-Hintergrund. Um Lügen und Betrügen, um Treue und Loyalität geht es gleichwohl. Wir lesen die (hier menschlich nachvollziehbar geschilderte) Perspektive von Chris, und wie er vom talentierten, linken Linguistikprofessor zur rechten Posaune wurde. Chris, gewiefter Poststrukturalist, hat gelernt, alle Zeichen, alle Codes, alle »Signifikanten« »postmodern ironisch-gebrochen« zu lesen. Mit diesem »Turn« legitimiert er Trumps »Postfaktizität« scharfsinnig. Trump retweetet Chris’ Posts!
Wir lesen die hochkomplizierte Geschichte der neurotischen Zicke Emilia (Benjamins Frau) und warum sie zu einer solchen Problemperson werden mußte. Wir lernen die Sicht von Hans-Harald »Harry« Schönwald kennen, der bei seinem Berlinbesuch auf den jovial-geschwätzigen Berliner zu treffen hofft, den er aus seiner Studentenzeit kennt – allein: Überall antworten mittlerweile begriffsstutzige Ausländer, »Harry« checkt es nicht. Hans-Harald ist auch bis zuletzt nicht klar, daß seine Ruth über Jahre eine Affäre pflegte.
Schönwald ist nicht überall auf Wohlgefallen gestoßen. Bei der taz ätzte man, man habe »selten so was Reaktionäres« gelesen. Man betrachte die Geschichte als »obszön aufgrund unserer NS-Vergangenheit.« Auch die Süddeutsche fand ihn »nicht gut«. Die Zeit hielt ihn für »manchmal zu flapsig«. Nun: Alle irren sich. Autor Oehmke, Jahrgang 1974, arbeitet seit 2006 – ja, leider – für den Spiegel.
Mit diesem Romandebüt, das überaus kunstvoll verschachtelt ist und neben seinem Zeitgeistkolorit vor allem durch seine eminent treffsicheren Charakterzeichnungen brilliert, legt Oehmke ein Meisterwerk vor. Es nicht zu lesen hieße, sich wirklich etwas entgehen zu lassen. Ja, es ist ein langer Roman, aber es gibt hier keine Längen, weil die Gemengelagen nun genauso schwierig und spannend sind, wie es hier geschildert wird. Es ist ein Reallife-Roman, er ist wie aus dem Leben gegriffen, mit all den Diskussionen, die notwendig dranhängen.
Am Ende hat sich die zerstrittene weiße Mehrheitsgesellschaft unserer Schönwalds et al. übrigens im Dissens verabschiedet von der Erzählfläche. Die Party ist vorbei. Im letzten Absatz fährt Rainer vor, Ex-Mann von Karolin. Ein Spitzenkoch, ein »PoC«: »dunkel, sehnig, rasierter Kopf.« Rainer hat alles so gut vorbereitet! Wo sind aber all die Leute hin, denen er servieren will?
Schönwald – ein Roman mit bis zum Ende unglaublichen Wendungen, exakt auf der Höhe der Zeit. Was für ein Lesevergnügen!
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Philipp Oehmke: Schönwald. Roman, München: Piper 2023. 544 S., 26 €
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