Philipp Oehmke: Schönwald

 Grundregel der Rezension: Erst schildern, dann bewerten. Was aber, wenn man übersprudelt vor Vergnügen?

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

Gut – Zurück­hal­tung: Ruth und Hans-Harald Schön­wald dür­fen auf vie­le gelun­ge­ne Ehe­jahr­zehn­te zurück­bli­cken. Sie haben drei anschei­nend erfolg­rei­che Kin­der, mit denen sich renom­mie­ren lie­ße: Chris, der als »post­struk­tu­rel­ler« Lite­ra­tur­pro­fes­sor in den USA reüs­siert. (Hans-Harald druckt jede Ver­öf­fent­li­chung von Chris aus und hef­tet sie ab.) Dann Ben­ja­min, den hoch­be­gab­ten Nach­züg­ler, der mit einer schö­nen Mil­li­ar­därs­toch­ter ver­hei­ra­tet ist, aber bewußt »Norm­co­re« lebt. Und Karo­lin, die nun in Ber­lin eine Buch­hand­lung eröffnet.

Die­se Fei­er ist der Aus­gangs­punkt des Romans: Alle Fami­li­en­mit­glie­der rei­sen an, samt Anhang. Also auch Ben­ja­mins Schwie­ger­va­ter Tho­mas, der Mil­li­ar­där, mit jun­ger Freun­din; auch Kim­ber­ley, die trump-rech­te Gespie­lin von Chris, der in Wahr­heit von sei­ner Pro­fes­so­ren­stel­le sus­pen­diert wor­den ist und seit eini­ger Zeit – vor der Fami­lie ver­bor­gen – als rech­ter Influen­cer punktet.

Nun ist die zu eröff­nen­de Buch­hand­lung eine »kwie­re«, und Ruth, Mit­te sieb­zig, selbst Ger­ma­nis­tin mit Schwer­punkt Tho­mas Mann, fin­det gleich her­aus, was »kwier« bedeu­tet und wes­halb der Laden sich »They/Them« nennt. Ruth und Hans-Harald (sie haben sich auf einem Bun­des­wehr-Ball ken­nen­ge­lernt: stock­kon­ser­va­tiv also, aber man wächst ja mit sei­nen Auf­ga­ben) sto­chern auf ihren Smart­phones, bis ihnen eine KI »que­er« vorschlägt.

Die Eröff­nungs­fei­er von »They / Them« ­endet im Eklat. Akti­vis­ten schleu­dern Farb­beu­tel gegen die Schei­ben der Buch­hand­lung. Sind es etwa homo­pho­be Nazis? Nein, die aggres­si­ven Demons­tran­ten haben Migra­ti­ons­hin­ter­grund (»Aus­län­der, wie man frü­her gesagt hät­te«, denkt Ruth), sind teils selbst »kwier« und kla­gen an, daß der Laden mit »Nazi-Geld« finan­ziert wer­de. Bit­te? Es gibt kei­nen »Nazi-Hin­ter­grund« in der Fami­lie Schön­wald! Die Argu­men­ta­ti­on der »Akti­vis­ti« ist schla­gend: Wer als Bio­deut­scher über Finanz­mit­tel ver­fügt, muß den Grund­stock auf die­se oder jene Wei­se vor Jahr­zehn­ten in der »Nazi-Zeit« gelegt haben.

Der Kampf, der sich hier­an ent­zün­det, ist über­wäl­ti­gend, aus­ufernd und gran­di­os. Nach und nach kommt alles auf den Tisch, nur kein Nazi-Hin­ter­grund. Um Lügen und Betrü­gen, um Treue und Loya­li­tät geht es gleich­wohl. Wir lesen die (hier mensch­lich nach­voll­zieh­bar geschil­der­te) Per­spek­ti­ve von Chris, und wie er vom talen­tier­ten, lin­ken Lin­gu­is­tik­pro­fes­sor zur rech­ten Posau­ne wur­de. Chris, gewief­ter Post­struk­tu­ra­list, hat gelernt, alle Zei­chen, alle Codes, alle »Signi­fi­kan­ten« »post­mo­dern iro­nisch-­ge­bro­chen« zu lesen. Mit die­sem »Turn« legi­ti­miert er Trumps »Post­fak­ti­zi­tät« scharf­sin­nig. Trump re­tweetet Chris’ Posts!

Wir lesen die hoch­kom­pli­zier­te Geschich­te der neu­ro­ti­schen Zicke Emi­lia (Ben­ja­mins Frau) und war­um sie zu einer sol­chen Pro­blem­per­son wer­den muß­te. Wir ler­nen die Sicht von Hans-Harald »Har­ry« Schön­wald ken­nen, der bei sei­nem Ber­lin­be­such auf den jovi­al-geschwät­zi­gen Ber­li­ner zu tref­fen hofft, den er aus sei­ner Stu­den­ten­zeit kennt – allein: Über­all ant­wor­ten mitt­ler­wei­le begriffs­stut­zi­ge Aus­län­der, »Har­ry« checkt es nicht. Hans-Harald ist auch bis zuletzt nicht klar, daß sei­ne Ruth über Jah­re eine Affä­re pflegte.

Schön­wald ist nicht über­all auf Wohl­ge­fal­len gesto­ßen. Bei der taz ätz­te man, man habe »sel­ten so was Reak­tio­nä­res« gele­sen. Man betrach­te die Geschich­te als »obs­zön auf­grund unse­rer NS-Ver­gan­gen­heit.« Auch die Süd­deut­sche fand ihn »nicht gut«. Die Zeit hielt ihn für »manch­mal zu flap­sig«. Nun: Alle irren sich. Autor Oehm­ke, Jahr­gang 1974, arbei­tet seit 2006 – ja, lei­der – für den Spie­gel.

Mit die­sem Roman­de­büt, das über­aus kunst­voll ver­schach­telt ist und neben sei­nem Zeit­geist­ko­lo­rit vor allem durch sei­ne emi­nent treff­si­che­ren Cha­rak­ter­zeich­nun­gen bril­liert, legt Oehm­ke ein Meis­ter­werk vor. Es nicht zu lesen hie­ße, sich wirk­lich etwas ent­ge­hen zu las­sen. Ja, es ist ein lan­ger Roman, aber es gibt hier kei­ne Län­gen, weil die Gemenge­la­gen nun genau­so schwie­rig und span­nend sind, wie es hier geschil­dert wird. Es ist ein Real­li­fe-Roman, er ist wie aus dem Leben gegrif­fen, mit all den Dis­kus­sio­nen, die not­wen­dig dranhängen.

Am Ende hat sich die zer­strit­te­ne wei­ße Mehr­heits­ge­sell­schaft unse­rer Schön­walds et al. übri­gens im Dis­sens ver­ab­schie­det von der Erzähl­flä­che. Die Par­ty ist vor­bei. Im letz­ten Absatz fährt Rai­ner vor, Ex-Mann von Karo­lin. Ein Spit­zen­koch, ein »PoC«: »dun­kel, seh­nig, rasier­ter Kopf.« Rai­ner hat alles so gut vor­be­rei­tet! Wo sind aber all die Leu­te hin, denen er ser­vie­ren will?

Schön­wald – ein Roman mit bis zum Ende unglaub­li­chen Wen­dun­gen, exakt auf der Höhe der Zeit. Was für ein Lesevergnügen!

 Phil­ipp Oehm­ke: Schön­wald. Roman, Mün­chen: Piper 2023. 544 S., 26 € 

 

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Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

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