In manchen Jahren haben solche Fragen Konjunktur. »Die« sind immer noch »die anderen«, die Zonis, deren Geschichte angeblich »nie wirklich« erzählt wurde. Natürlich geschah dies längst x‑fach, wenn auch immer unter exotischem Etikett. Othering sagt man heute. Wir haben in der Bundesregierung einen »Ostbeauftragten«, was in manchen Ohren wie »Zuständiger für andere Behinderungen« klingt.
Felix Stephan, Jahrgang 1983 und Redakteur bei der Süddeutschen Zeitung, verspricht nun »einen verstörend intimen Blick auf das Leben der Angepaßten.« Seine Eltern und der Großvater hatten Rang und Namen in der DDR. Klappentext: »Als die DDR zusammenbricht, versammelt sich die Familie des Erzählers eines Abends vor dem Ofen, um sämtliche Beweise der Stasi-Tätigkeit ihrer Mitglieder zu verbrennen. Der einzige Sohn wächst in eine Welt hinein, die sich in Auflösung befindet und in der die Eltern die Orientierung verlieren.« Diesen Leuten »zerrinnt alles zwischen den Fingern, woran sie glaubten.«
Stephan hat dem Buch ein Zitat ausgerechnet von Yukio Mishima vorangestellt: »Der Fehler der Jugend ist es zu glauben, man könne den Dämon zufriedenstellen, indem man ihn zum Helden macht.« Forsch legt Stephan über seine Eltern los: »Alles in allem glaubten sie, was der Staat ihnen über sich selbst erzählte. Wenn man die eigene Unfreiheit erstmal verinnerlicht hat, ist sie von Freiheit nicht mehr zu unterscheiden. Wenn die Unfreiheit zum Lebensprinzip geworden und verschmolzen ist mit einem selbst, wenn es einem gelungen ist, trotzdem ein äußerlich normales Leben zu führen, beginnt man, sie zwangsläufig zu lieben, weil man sie für die Bedingung von Normalität hält.«
Das ist eine interessante Anordnung! Kluge Sätze, die man gern zweimal lesen darf. Man ist gleich neugierig. Würde gern mehr erfahren! Leider geht es nach diesem Kapitel I (von XXIV) nicht wirklich weiter. Felix Stephan schildert uns den Lebensweg eines Jungen, der so aggressiv wie hochbegabt ist (mit beiden Attributen wird ordentlich kokettiert) und der über Schreibwettbewerbe langsam, aber sicher eine mainstreamförmige Karriereleiter erklimmt. Mal war er Outsider, mal Trendsetter; wer kennt es nicht?
Mit der Ostherkunft hat dies alles nur am Rande zu tun. Der Opa, überzeugter DDRler, wird dement – die Geschichten dazu (»Gedächtnis: gestrichen«) soll der Leser wohl »symbolisch« verstehen. Um ehrlich zu sein: Nicht mal die Eingangsgeschichte mit dem Autodafé wirkt authentisch. Daß Akten »andächtig« im Familienkreis verbrannt wurden: Hier hat doch einer zu viele Filme gesehen? Oder wollte einfach einen fulminante Aufriß haben?
Felix Stephan hat gerappt, hat geknutscht, hatte immer Zweifel. Er hat ein paar leicht witzige Jedermann-Anekdoten behalten, die er nun preisgibt; gewisse Idiosynkrasien, die im Grunde jede Familiengeschichte so oder anders bereithält. Man liest es rasch und ohne Zugewinn. Daß dergleichen (»verstörend intimer Blick«) nun als Roman bei einem großen Publikumsverlag erscheint, gibt abermals Anlaß zu kulturpessimistischem Zweifel. Nichts daran ist »verstörend«, nichts daran ist außerhalb von »angepaßt«! Angepaßt waren die Eltern und Großeltern damals, angepaßt ist Felix Stephan heute unter veränderten Bedingungen.
»Wenn die Sonne der Kultur niedrig steht, werfen selbst Zwerge lange Schatten.« (angeblich Karl Kraus)
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Felix Stephan: Die frühen Jahre, Berlin: Aufbau 2023. 255 S., 22 €
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