3,2 bis 3,6 Millionen von ihnen gerieten in sowjetische Haft. 1,11 Millionen kamen dort ums Leben. Die Sterberate lag offiziell bei 30 Prozent.
Das Buch verspricht im Klappentext, »die ganze Geschichte der Kriegsgefangenschaft« zu erzählen, behandelt aber nur den europäischen Kriegsschauplatz und legt den Schwerpunkt auf die deutschen Gefangenen. Das Thema wird in 20 Kapiteln aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet: die Genese des Kriegsvölkerrechts, unterschiedliche Haftbedingungen in Ost und West, Schilderungen von Erlebnissen in sowjetischer Kriegsgefangenschaft in der Nachkriegszeit, Behandlung von Frauen, Schwarzen und Juden, das Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen, Lauschaktionen des US-Nachrichtendienstes, gezielte Inhaftnahme deutscher Spezialisten, um ihr technisches Wissen abzuschöpfen, Massensterben in den Rheinwiesenlagern, Adenauers diplomatische Intervention in Moskau zur Befreiung der letzten deutschen Kriegsgefangenen, zivilgesellschaftlicher Einfluß der Kriegsgeneration auf die Politik.
Mehrere Widersprüche fallen ins Auge: Einerseits gelten die Kriegsgefangenen laut Untertitel als »vergessene Soldaten«, andererseits stellt das Vorwort fest, daß »Kriegsgefangene und Rußland in der kollektiven Erinnerung der Deutschen eng verknüpft« seien.
Zweitens wird pauschal das »Schweigen« der Erlebnisgeneration postuliert, während gleichzeitig etwa Harald Justin in seinem Beitrag ausführt, wie gern und ausführlich sein Vater von der sowjetischen Kriegsgefangenschaft berichtet hat. »Ich konnte nicht genug bekommen von seinen Geschichten. Als dankbarer Zuhörer stellte ich Fragen. Mein Vater hat gern erzählt.«
Das Schicksal der Kriegsgefangenen sei öffentlich nur wenig beachtet worden, heißt es weiter. Dem widersprechen mehrere Beiträge im Buch. So stellt Felix Bohr zum Beispiel fest, die Kriegsgefangenenfrage bewegte die junge Bundesrepublik. Praktisch jede Familie, in denen die männlichen Angehörigen nicht gefallen waren, war davon betroffen. Medien publizierten eine Vielzahl von Berichten. 1959 erschien als Mehrteiler im Fernsehen der Spielfilm So weit die Füße tragen von der Flucht eines deutschen Soldaten aus sibirischer Lagerhaft.
Die Kriegsgefangenenfrage beeinflußte die Politik. Sie spielte in der Phase der Wiederbewaffnung eine große Rolle. Ehemalige Soldaten der Wehrmacht, die für den Aufbau der Bundeswehr herangezogen wurden, setzten sich für Freilassung und Rehabilitierung ihrer »Kameraden« ein. Soldatenverbände engagierten sich publizistisch dafür, die wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen immer noch Inhaftierten endlich freizulassen. Politiker aller Parteien und Vertreter der Kirchen appellierten immer wieder an die Siegermächte, die »Kriegsverurteilten« zu entlassen.
In der »Himmeroder Denkschrift« forderten 15 hohe und höchste Offiziere der Wehrmacht: Ehe deutsche Soldaten – diesmal im Bündnis mit den westlichen Siegern des Zweiten Weltkrieges – wieder zu den Waffen greifen, müsse endlich ein Schlußstrich unter die Vergangenheit gezogen und eine Ehrenerklärung abgegeben und sollten alle Gefangenen entlassen werden. NATO-Oberbefehlshaber Dwight D. Eisenhower, im Krieg Oberkommandierender der Westalliierten und späterer US-Präsident, gab diese Ehrenerklärung am 23. Januar 1951 ab, indem er sagte, der deutsche Soldat habe im Krieg tapfer für seine Heimat gekämpft.
Zahlreiche Erlebnisberichte ehemaliger Gefangener wurden in den 1950er Jahren veröffentlicht. 1957 wurde vom Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte eine wissenschaftliche Kommission gegründet, die eine 22bändige wissenschaftliche Dokumentation über die deutschen Kriegsgefangenen vorlegte. Wie vor diesem Hintergrund die im Buch interviewte Gedenkspezialistin Elke Gryglewski behaupten kann, Kriegsgefangenschaft habe in der deutschen Öffentlichkeit keine große Rolle gespielt, erschließt sich dem Rezensenten nicht.
Ein wichtiger Aspekt, der in dem Werk völlig ausgeblendet wird, ist der Zeitpunkt, an dem der Soldat in Kriegsgefangenschaft fällt, und wie er dann behandelt wird. Aus den Forschungen von Alfred de Zayas und Franz Seidler wissen wir, daß viele deutsche Soldaten den Moment ihrer Gefangennahme nicht überlebt haben. Sie wurden – besonders an der Ostfront in den Jahren 1941 bis 1943 – erst gar nicht registriert und zu Zehntausenden ermordet, nicht selten vorher gefoltert und ihre Leichen danach zerstückelt.
Die Opfer tauchen in keiner Statistik auf. Die Dokumente der Wehrmacht-Untersuchungsstelle, die de Zayas veröffentlicht hat, sprechen eine deutliche Sprache. Nahezu immer ging die Gefangennahme einher mit der Ausplünderung der Soldaten. Uhren, Wertgegenstände, Füllfederhalter, lebenswichtige Ausrüstungsgegenstände, Kleidungsstücke und Schuhe wurden den Soldaten abgenommen.
Das Kapitel zu Soldatinnen widmet sich nur den Frauen in sowjetischer Uniform, das Schicksal deutscher Wehrmachthelferinnen wird ausgeblendet. Ein Abschnitt behandelt italienische Gefangene in deutschem Gewahrsam, über zum Beispiel ungarische in sowjetischer Haft hingegen kein Wort. Fazit: Eine sehr lückenhafte Darstellung, die weit hinter ihrem eigenen Anspruch zurückbleibt.
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Felix Bohr, Eva-Maria Schnurr (Hrsg.): Kriegsgefangene. Die vergessenen Soldaten des Zweiten Weltkrieges, München: Deutsche Verlags-Anstalt 2023. 233 S., 22 €
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