Melonisierung heißt: Man wird gewählt als grundsätzliche Alternative zum falschen Ganzen, betreibt dann aber, zielstrebig in Amt und Würden gekommen, in Schlüsselfragen wie der Migrations‑, Wirtschafts- und Sozialpolitik eine Politik, die mit dem medialen, wirtschaftlichen und politischen Establishment in der eigenen Hauptstadt und in Brüssel übereinstimmt.
Das Prozedere des mittigen Selbstumbaus wird dann wahlweise als »realpolitische Notwendigkeit« oder als »Lerneffekt« idealisiert. Daß dieser Vorgang verschiedenen Rechtsparteien Westeuropas droht, ist evident. Ebenso, daß er mit dem Namen Giorgia Meloni verbunden wird und folgerichtig ihren Namen trägt.
Auf gegenteilige Schlußfolgerungen kann man kommen, wenn man an der Spitze der EU-Bürokratie steht, auf den Namen Ursula von der Leyen hört und persönlich mit Meloni harmoniert; auf gegenteilige Schlußfolgerungen gelangt man indes auch von radikal links aus. Von dort stammt der Italienhistoriker Gerhard Feldbauer, und das wird in vorliegender Studie zu einem handfesten Problem. Denn Feldbauers eigenes Vorab-Urteil – Meloni sei die Reinkarnation »des Faschismus« – wird von ihm nicht kritisch Schritt für Schritt überprüft, sondern lediglich mit immer wiederkehrender Vehemenz bekräftigt.
Spürbar geschockt von der Regierungsübernahme Melonis am 24. Oktober 2022 – fast exakt 100 Jahre nach Mussolinis Marsch auf Rom –, schreibt Feldbauer die für sich genommen lesenswerte Meloni-Lebensgeschichte im Kontext ihrer Zeit nieder. Politische und persönliche Eigenheiten werden eingeführt, rechte Organisationsversuche und Parteiformationen der 1980er Jahre bis heute abgebildet. Aber Feldbauer ist zu dogmatisch links, um zu begreifen, daß die »Postfaschistin« vor allem eine opportunistische Neokonservative verkörpert, deren Wahl im Herbst 2022 denn auch von NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg fröhlich kommentiert wurde: »Ich freue mich darauf, mit Ihnen zusammenzuarbeiten.«
Von der Leyen sekundierte, wie schön es sei, daß erstmals eine Frau Italien regiere. Und Meloni lieferte in ihrem ersten Regierungsjahr innen- wie außenpolitisch im Sinne der Eliten: massive Ukraineförderung, neue Migrationswellen, unkritische Affirmation des »freien Westens« – sie ließ kein Steckenpferd der Neocon-Programmatik aus. Zu dieser zählt auch das lautstarke Bekenntnis zu traditionellen Familienformen und nationaler Größe. Bisher lassen sich die Wähler der Fratelli d’Italia davon blenden und ignorieren den Ausverkauf italienischer Großunternehmen ins Ausland ebenso wie den sozialen Kahlschlag – oder sie goutieren es sogar; Roms Politikwissenschaftler sind sich hier uneinig.
Es ist überdies anzunehmen, daß zu Melonis anhaltender Akzeptanz durch die Rechtswähler beiträgt, daß die Fördersummen aus Brüssel weiterhin reichlich fließen (zuletzt 191 Milliarden Euro aus dem Corona-Wiederaufbauprogramm) und viele Migranten Italien nur als Zwischenstation sehen – auf ihrer Reise in den deutschsprachigen Raum.
Meloni jedenfalls setzt ihre Politik der Nachahmung des Establishments fort: Längst reüssieren unter ihr Akteure wie Finanzminister Giancarlo Giorgetti, der schon unter dem ehemaligen EZB-Präsidenten Mario Draghi treu als Minister diente. Gerhard Feldbauer weist darauf hin, daß dies keine Überraschung darstellt: Schließlich habe Meloni bereits im Wahlkampf stolz erklärt, daß sie eine transatlantische und EU-freundliche Regierungszeit anstrebe.
Feldbauer aber kann nicht aus seiner Haut und hält Meloni trotz allem für eine lupenreine Faschistin. Bei derlei Begriffsnarreteien verliert der Faschismusbegriff auch noch seine letzte Bedeutung.
Wer Giorgia Melonis Lebens- und Politikweg dennoch auch anhand des vorliegenden Buches studiert, ahnt, daß es in Deutschland und anderswo ganz ähnlich kommen kann. Jedenfalls, solange neokonservativ-transatlantische Netzwerke weiterhin ihre Resonanzräume in der (partei-)politischen Rechten finden.
–
Gerhard Feldbauer: Giorgia Meloni und der italienische Faschismus, Köln: PapyRossa 2023. 168 S., 14,90 €
Dieses Buch können Sie auf antaios.de bestellen.