In der europäischen Aufklärung entwickelt sich ein Diskurs, der unter dieser Bezeichnung über das sexuelle Verhältnis zwischen Eheleuten räsoniert. Dieses solle künftig nicht mehr durch die Erfüllung dröger »ehelicher Pflichten« gekennzeichnet sein, die zu absolvieren seien wie der Hausputz oder sonstige Verpflichtungen.
An die Stelle dieser Pflicht soll nunmehr eine Form der freien Aushandlung beziehungsweise der Verführung treten, die eben mit dem Begriff der »Zärtlichkeit« gekennzeichnet wird. Der Autor verfolgt diesen Prozeß sowohl rechtsgeschichtlich als auch anhand von Fallbeispielen der obengenannten Denker.
Offenbar ist diese verschleiernde Sprachverwendung keine semantische Eigenheit des 18. Jahrhunderts, da Kleinbeck ausdrücklich darauf verweist, daß alle Genannten »die freie Aushandlung des ehelichen Beischlafs« als Zärtlichkeit bezeichnet hätten.
Faszinierend ist, wie sich die bei Rousseau angebahnte Mentalität in der napoleonischen Gesetzgebung handfest niederschlägt. Empfindsamkeit und subjektive Stimmung werden Recht – ein Vorgang, der sich in anderer Weise auch heute beobachten läßt, allerdings in Formen, die nicht nur die Aufklärer mehrheitlich befremdet hätten. »In der Rechtsauffassung vom Beischlaf markiert der Code Civil des Français eine historische Zäsur. […] In Napoleons bürgerlichem Eherecht wird der Beischlaf […] nicht mehr zu den ehelichen Pflichten gezählt, selbst die zeitgenössischen Lehr- und Handbücher äußern sich nicht mehr zu ihm.«
Damit wird die von Paulus’ erstem Brief an die Korinther abgeleitete Auffassung des kanonischen Rechts aus den Angeln gehoben – eine Weichenstellung, deren große praktische und mentalitätsgeschichtliche Bedeutung unmittelbar einleuchtet.
In der dichten und informativen Beschreibung dieser Zäsur liegt der größte Wert des Buches. Die Ausführungen zu den so unterschiedlichen Charakteren sind glänzend geschrieben und verdeutlichen auch sehr schön den Zusammenhang des Zärtlichkeitsdiskurses mit der seit der Aufklärung unvermeidlichen Frage nach der (säkularen) persönlichen Freiheit. Damit wird klar, daß es sich nicht, wie man anfangs meinen könnte, um einen Spezialaspekt des Privatlebens handelt, sondern daß anhand dieser privaten Konstellation eine Grundfrage moderner Gesellschaften verhandelt wird.
Denn der Frage nach der Freiheit des Individuums und danach, wie weit sie reicht, läßt sich, egal wie man sie beantwortet, nicht ausweichen. Allerdings sind manche Formulierungen nicht frei von einer gewissen Komik, so die Zwischenüberschrift von der »unbewußten Zärtlichkeit der Nationalökonomie«. Und enerviert hat die Rezensentin die Hartnäckigkeit, mit der der Autor den enormen Freiheitsgewinn, den die Freiwilligkeit in dieser Sache für die Frau bedeutet, nicht würdigt, sondern als eine hinterhältige Form der »patriarchalischen« Herrschaft interpretiert.
Die »Zärtlichkeit« stehe »im Zeichen eines spezifisch modernen Durchsetzungsmechanismus des Patriarchats, in dem die männlichen Bürger ihre Privilegien nicht länger über rohe Gewalt oder die Zwänge des Rechts […] abzusichern suchen«, sondern ganz perfide über »Mienen, Blicke, Gesten und Worte«, die nur ein scheinbar »freies Spiel« darstellten. Er bleibt damit konventionell auf die Benachteiligung der Frau fixiert, ohne zu fragen, welchen Preis Männer andererseits für ihre Dominanz zu bezahlen hatten. Hier gibt es noch einige Baustellen für eine künftige Geschlechtergeschichte.
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Johannes Kleinbeck: Geschichte der Zärtlichkeit. Die Erfindung des einvernehmlichen Sex und ihr zwiespältiges Erbe bei Rousseau, Kant, Hegel und Freud, Berlin: Matthes & Seitz 2023. 334 S., 28 €
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