Der emeritierte Professor der Politikwissenschaft Werner J. Patzelt versucht, das Land der Magyaren zu erklären. Der 2019 als »Pegida-Versteher« abgeurteilte Patzelt arbeitet nach seiner langjährigen, schließlich nicht verlängerten Professur an der TU Dresden nun als Forschungsdirektor des ungarischen, regierungsnahen Mathias-Corvinus-Collegiums (MCC) in Brüssel. In seinem Buch wirbt er für einen ganzheitlichen Blick auf die Wahlentscheidung der Ungarn und auf deren Regierung.
Die Kapitel widmen sich unter anderem dem deutschen Ungarnbild, der Geschichte sowie dem Regierungs‑, Bildungs- und Sozialsystem. Auch die besondere Rolle der Ungarndeutschen, deren Vertreibung Ministerpräsident Viktor Orbán 2012 einen jährlichen Gedenktag widmete, vernachlässigt Patzelt nicht.
Hinsichtlich der Nationalitätenpolitik unterstreicht er die kaum zu überschätzende, verheerende Rolle des Vertrags von Trianon, durch den Ungarn nach dem Ersten Weltkrieg zwei Drittel seines Staatsgebietes verlor. Wie Patzelt an vielen Beispielen zeigt, versucht die ungarische Führung, die Auslandsungarn in das politische und kulturelle Geschehen ihres Heimatlands einzubinden.
Der 1988 entstandene, einst liberale und unter Orbán national-konservativ gewordene »Fidesz – Ungarischer Bürgerbund« sowie dessen dauerhafter Bündnispartner, die Christlich-Demokratische Volkspartei (KDNP), bilden seit 2010 die Regierung. Die Parlamentswahl von 2010 kann nicht nur als Startschuß für eine national-konservative Revolution, sondern auch als verspäteter Auftakt zur Befreiung von altsozialistischen Kadern verstanden werden.
2010 errang der bereits von 1998 bis 2002 mit Orbán in Regierungsverantwortung stehende Fidesz gemeinsam mit der KDNP 52,3 Prozent der Wählerstimmen. Diesen Triumph konnte Fidesz 2018 und 2022 – auch dank einem neuen Mehrheitswahlrecht – zu einer Zweidrittelmehrheit ausbauen, die ihm seither umfassende Reformen ermöglicht. Die zugrundeliegende Wahlrechtsreform, das ungarische Mediengesetz und insbesondere die neue, betont nationale und christliche Verfassung von 2011 unterzieht Patzelt einer ausführlichen Analyse.
Jenen, die Orbán und Fidesz undemokratische Machtpolitik vorwerfen, hält Patzelt das gern verschwiegene Versagen der Opposition seit 1990 entgegen. So war es die sozialdemokratische MSZP, die auch im Gedächtnis der Ungarn in den 1990ern und 2000ern für radikale Marktliberalisierungen und einen Abbau des Sozialstaats verantwortlich zeichnete.
Leider wächst Patzelts Blick kaum über die Perspektiven des Regierungslagers und der linksliberalen Fidesz-Gegner hinaus. So bleibt das Buch eine Erklärung schuldig, wie trotz der national-konservativen Politik Orbáns zeitweise die deutlich weiter rechts stehende und inzwischen mit linken Orbán-Gegnern zusammenarbeitende Jobbik-Partei 2014 bis zu 20 Prozent bei den Parlamentswahlen erzielen konnte.
Auch die Partei »Mi Hazank« (»Unsere Heimat«), der ein positiver Einfluß auf eine Gesetzesänderung zum Lebensschutz nachgesagt wird, spart Patzelt weitestgehend aus. Die unstrittig vorhandenen, jedoch für Ungarn nicht neuen Korruptionsvorwürfe gegenüber der Regierung benennt der Politikwissenschaftler Patzelt der Form halber, bleibt aber im unklaren.
Bemerkenswert ist außerdem, daß es Patzelt gelingt, die umstrittene Corona-Gesetzgebung in Ungarn und den anhaltenden Einwanderungsüberschuß fast völlig auszusparen, während die ungarische Rolle im russisch-ukrainische Krieg Erwähnung findet. Die Auflösung zum scheinbaren Rätsel des »Orbán-Landes« mag somit detailliert sein, bleibt aber unvollständig. Wer Ungarn verstehen will, ist mit diesem Buch trotzdem gut beraten.
–
Werner J. Patzelt: Ungarn verstehen. Geschichte – Staat – Politik, München: Langen Müller 2023. 480 S., 35 €
Dieses Buch können Sie auf antaios.de bestellen.