Werner J. Patzelt: Ungarn verstehen

-- von Johannes Schüller

Noch immer ist Ungarn »Linken« wie »Rechten« ein Rätsel: den einen, weil sie fassungslos auf den völligen Machtverlust ihrer Gesinnungsgenossen starren, den anderen, weil sie sich den seit der Parlamentswahl 2010 stringent erfolgten Umbau der ungarischen Gesellschaft im eigenen Land nicht recht vorstellen können.

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Der eme­ri­tier­te Pro­fes­sor der Politikwissen­schaft Wer­ner J. Pat­z­elt ver­sucht, das Land der Magya­ren zu erklä­ren. Der 2019 als »Pegi­da-­Ver­ste­her« abge­ur­teil­te Pat­z­elt arbei­tet nach sei­ner lang­jäh­ri­gen, schließ­lich nicht ver­län­ger­ten Pro­fes­sur an der TU Dres­den nun als For­schungs­di­rek­tor des unga­ri­schen, regie­rungs­na­hen ­Mathi­as-Cor­vi­nus-Col­le­gi­ums (MCC) in Brüs­sel. In sei­nem Buch wirbt er für einen ganz­heit­li­chen Blick auf die Wahl­ent­schei­dung der Ungarn und auf deren Regierung.

Die Kapi­tel wid­men sich unter ande­rem dem deut­schen Ungarn­bild, der Geschich­te sowie dem Regierungs‑, Bil­dungs- und Sozi­al­sys­tem. Auch die beson­de­re Rol­le der Ungarn­deut­schen, deren Ver­trei­bung Minis­ter­prä­si­dent Vik­tor ­Orbán 2012 einen jähr­li­chen Gedenk­tag wid­me­te, ver­nach­läs­sigt Pat­z­elt nicht.

Hin­sicht­lich der Natio­na­li­tä­ten­po­li­tik unter­streicht er die kaum zu über­schät­zen­de, ver­hee­ren­de Rol­le des Ver­trags von Tria­non, durch den Ungarn nach dem Ers­ten Welt­krieg zwei Drit­tel sei­nes Staats­ge­bie­tes ver­lor. Wie Pat­z­elt an vie­len Bei­spie­len zeigt, ver­sucht die unga­ri­sche Füh­rung, die Auslands­ungarn in das poli­ti­sche und kul­tu­rel­le Gesche­hen ihres Hei­mat­lands einzubinden.

Der 1988 ent­stan­de­ne, einst libe­ra­le und unter Orbán natio­nal-kon­ser­va­tiv gewor­de­ne »Fidesz – Unga­ri­scher Bür­ger­bund« sowie des­sen dau­er­haf­ter Bünd­nis­part­ner, die Christ­lich-Demo­kra­ti­sche Volks­par­tei (KDNP), bil­den seit 2010 die Regie­rung. Die Par­la­ments­wahl von 2010 kann nicht nur als Start­schuß für eine natio­nal-kon­ser­va­ti­ve Revo­lu­ti­on, son­dern auch als ver­spä­te­ter Auf­takt zur Befrei­ung von alt­so­zia­lis­ti­schen Kadern ver­stan­den werden.

2010 errang der bereits von 1998 bis 2002 mit Orbán in Regie­rungs­ver­ant­wor­tung ste­hen­de ­Fidesz gemein­sam mit der KDNP 52,3 Pro­zent der Wäh­ler­stim­men. Die­sen Tri­umph konn­te Fidesz 2018 und 2022 – auch dank einem neu­en Mehr­heits­wahl­recht – zu einer Zwei­drit­tel­mehr­heit aus­bau­en, die ihm seit­her umfas­sen­de Refor­men ermög­licht. Die zugrun­de­lie­gen­de Wahl­rechts­re­form, das unga­ri­sche Medi­en­ge­setz und ins­be­son­de­re die neue, betont natio­na­le und christ­li­che Ver­fas­sung von 2011 unter­zieht Pat­z­elt einer aus­führ­li­chen Analyse.

Jenen, die Orbán und ­Fidesz unde­mo­kra­ti­sche Macht­po­li­tik vor­wer­fen, hält Pat­z­elt das gern ver­schwie­ge­ne Ver­sa­gen der Oppo­si­ti­on seit 1990 ent­ge­gen. So war es die sozi­al­de­mo­kra­ti­sche MSZP, die auch im Gedächt­nis der Ungarn in den 1990ern und 2000ern für radi­ka­le Markt­li­be­ra­li­sie­run­gen und einen Abbau des Sozi­al­staats ver­ant­wort­lich zeichnete.

Lei­der wächst Pat­z­elts Blick kaum über die Per­spek­ti­ven des Regie­rungs­la­gers und der links­li­be­ra­len Fidesz-Geg­ner hin­aus. So bleibt das Buch eine Erklä­rung schul­dig, wie trotz der natio­nal-kon­ser­va­ti­ven Poli­tik Orbáns zeit­wei­se die deut­lich wei­ter rechts ste­hen­de und inzwi­schen mit lin­ken Orbán-Geg­nern zusam­men­ar­bei­ten­de Job­bik-Par­tei 2014 bis zu 20 Pro­zent bei den Par­la­ments­wah­len erzie­len konnte.

Auch die Par­tei »Mi Hazank« (»Unse­re Hei­mat«), der ein posi­ti­ver Ein­fluß auf eine Geset­zes­än­de­rung zum Lebens­schutz nach­ge­sagt wird, spart Pat­z­elt wei­test­ge­hend aus. Die unstrit­tig vor­han­de­nen, jedoch für Ungarn nicht neu­en Kor­rup­ti­ons­vor­wür­fe gegen­über der Regie­rung benennt der Poli­tik­wis­sen­schaft­ler Pat­z­elt der Form hal­ber, bleibt aber im unklaren.

Bemer­kens­wert ist außer­dem, daß es Pat­z­elt gelingt, die umstrit­te­ne Coro­na-Gesetz­ge­bung in Ungarn und den anhal­ten­den Ein­wan­de­rungs­über­schuß fast völ­lig aus­zu­spa­ren, wäh­rend die unga­ri­sche Rol­le im rus­sisch-ukrai­ni­sche Krieg Erwäh­nung fin­det. Die Auf­lö­sung zum schein­ba­ren Rät­sel des »Orbán-Lan­des« mag somit detail­liert sein, bleibt aber unvoll­stän­dig. Wer Ungarn ver­ste­hen will, ist mit die­sem Buch trotz­dem gut beraten.

Wer­ner J. Pat­z­elt: Ungarn ver­ste­hen. ­Geschich­te – Staat – Poli­tik, Mün­chen: Lan­gen Mül­ler 2023. 480 S., 35 €

 

 

Die­ses Buch kön­nen Sie auf antaios.de bestellen.

 

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