Weltende
Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,
In allen Lüften hallt es wie Geschrei.
Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei
Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut.Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen
An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken.
Die meisten Menschen haben einen Schnupfen.
Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.
Es ist von Jakob van Hoddis (1887–1942), er schrieb es 1911. Es beeindruckte mich als Abiturient, obwohl es in der DDR freilich nicht Schulstoff war. Die 1919 von Kurt Pinthus (1886–1975) besorgte Anthologie expressionistischer Autoren, „Menschheitsdämmerung“, gab es allerdings, verlegt bei Reclam Leipzig. Ihr war das Hoddis-Gedicht programmatisch vorangestellt.
Wir literarisch Interessierten der letzten Generation unseres Landes lasen das und lasen überhaupt die Expressionisten intuitiv höchst aufmerksam – wie gesagt: am ansonsten gründlichen Deutschunterricht vorbei, denn mit drei literaturgeschichtlichen Bereichen konnte und wollte die DDR aus Gründen ihres ideologischen Selbstverständnisses nichts anfangen – Romantik, Expressionismus und Kafka. Autoren und Stoffe zu individualistisch, zu sehr in Moll, ohne optimistische Perspektive.
Der Expressionismus, vermittelt auch durch Franz Fühmanns Essays „Vor Feuerschlünden. Erfahrungen mit Georg Trakls Gedicht“, schlug etwas in uns an, obwohl wir damals von unserem „Weltende“ nichts wissen konnten. Aber spätestens mit Breschnews Tod im November 1982 war gewissermaßen aus der kontinentalen Landmasse im Osten, deren politisches Anhängsel die DDR noch war, ein seismographisch spürbares Grollen zu vernehmen, das sich schließlich in einem Beben entlud und bis heute, müssen wir erkennen, nicht aufgehört hat, obwohl der Zusammenbruch der Sowjetunion zunächst in Hoffnungsbesoffenheit und die Illusion vom Ende der Geschichte mündete.
Zurück in die Gegenwart und zum Gedicht des Jakob van Hoddis, der eigentlich Hans Davidson hieß und sich seinen Künstlernamen als Anagramm bastelte. Man belese sich, denn dieser Dichter – wie anderseits Georg Heym oder Georg Trakl – personifizierte geradezu den Expressionismus, bis in seine Umnachtung und sein grausiges Ende hinein.
Man beziehe den Text unmittelbar auf die Gegenwart: Es liegt etwas in der Luft, es mehren sich die Menetekel – von Katastrophenzeichen bis zu deutlicher werdenden Defekten, die zunächst als feine Risse, dann als Brüche das Ganze durchziehen, das doch so vernünftig, gerecht und fest gefügt schien.
Was da auf uns zurollt und sich als Geschrei in der Luft wie als Flut ankündigt, scheint so dramatisch wie kraftvoll-destruktiv zu sein. Aus dem zunächst nur sirrenden Ton in der Höhe wird Getöse, der Sturm bricht los, Dämme, auf deren Schutzfunktion man sich verlassen wollte, bersten absehbar; die Menschen scheinen anfällig: Was zunächst nur ein harmloser Schnupfen zu sein schien, wächst sich wohl doch zu einer Pandemie aus.
„Dachdecker stürzen ab und gehen entzwei.“ Das ist tragisch, klingt aber so technisch. Menschen verletzen sich, sie sterben in Unfällen, sie gehen nicht „entzwei“. Und die Technik, auf die man so stolz war, versagt: „Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.“ – Damals ist die Lokomotive noch das Fetischobjekt des Fortschritts; heute, da es an natürlicher immer mehr mangelt, mag es die sogenannte künstliche Intelligenz, die KI wie überhaupt die Big-Data-Maschinerie sein, mit der vermutlich gleichfalls Abstürze vorprogrammiert sind.
Mich wundert, welche Hoffnungen man immer noch auf die prognostische Rechnerei mit Umfragewerten und Wählerstimmen legt und wie man aus der Interpretation von Balken- und Tortendiagrammen die Geschicke der Zukunft bewerten will. Was für ein irrer Demokratieglaube doch. Einerseits.
Andererseits wird deswegen mit quasireligiöser Inbrunst Erlösung kraft des Wirkens politischer Parteien und ihrer zu Lichtgestalten verklärten Funktionäre erwartet. Man orakelt, ob es wohl mit der Ampel-Regierung zu Ende sein könnte, wo es doch – wie bei Hoddis – vielmehr schon um das Ganze gehen mag. Kommt die Gesellschaft ins Rutschen oder gar dynamisch in Bewegung, dürfte Parteiengeplärr sekundär erscheinen. Mit Bismarck: Es kann gut sein, daß die Fragen der Zeit eben nicht allein durch Reden oder Majoritätsbeschlüsse entschieden werden …
Schon standen wütende Bauern am Deich von Schlüttsiel und blockten Robert Habeck, das Gesicht der grünen Neu-Bourgeoisie. Der Sturm, bricht er los?
Nein, der Stil wird endlich etwas konfrontativer, aber sofort bekam die Regierung das Fracksausen. Sprecher Hebestreit beklagte die „Verrohung der politischen Sitten“ und fand das Dramolett „beschämend“, es verstoße „gegen die Regeln des demokratischen Miteinanders“.
Mag aber sein, die anstehende Revision betrifft nicht allein die zu Karikaturen geschrumpften Führungsfiguren, sondern die Berliner Republik und „Europa“ als Ganzes. Offenbar hat’s der linkswoke Hegemon mit seiner sich längst eigendynamisch forcierenden Ideologisierung und der Herrschaft der dauertönenden Phrase übertrieben. Allein schon, daß es endlich mal Winter wurde, mutet vorm Hintergrund der Klima-Beschwörungen geradezu staatsfeindlich an.
In der Weise ist tatsächlich eine Beziehung zur Krisis der DDR herstellbar: Das staatstragende Wiederholen der immer gleichen, längst hohlen Losungen und Begriffe ergreift nicht die Massen, sondern führt zum Ignorieren der Transparente und zu Absetzbewegungen gegenüber Vereinnahmung. Das dümmlich-infantile „#Wirsindmehr“ war schon das Pfeifen im Walde; und immer weniger in der Steinmeier-Scholz-Habeck-Republik würden eine Einladung zum Bürgerfest des Bundespräsidenten – „Im WIR verbunden!“ – als eine Auszeichnung empfinden.
Wir gehen interessanten, dramatischen, aber gleichsam hochriskanten Zeiten entgegen. Einerseits wurde es höchste Zeit für eine Korrektur, denn die selbstgefällige grünlinke Meinungsführerschaft dieser Republik hat es längst zu weit getrieben und bedroht genau das, was sie in neurotischer Permanenz beschwört, „Vielfalt“ nämlich, die sie allerdings als Gleichschaltung und neue Uniformierung verstand – gerade nicht tolerant, gerade nicht weltoffen, sondern eng und vormundschaftlich.
Das Pendel schlägt also endlich zurück, und weil sie aus anderer Richtung gar nicht kommen wollte kann, erfolgt die Korrektur ganz zwangsläufig von rechts. Deswegen kann die AfD mittlerweile vor Kraft kaum laufen, deshalb würde ihr von Saskia Esken und Gefährten hektisch gefordertes Verbot die Wende nur forcieren, aber andererseits läßt sich deswegen immer weniger auf Nachdenklichkeit und schon gar nicht auf Demut hoffen. Reichen in der AfD die Köpfe und Kräfte für Verantwortungsbewußtsein und eine neue Stabilität aus?
Wir wissen nicht, was national und international demnächst so losgetreten wird und welche Flut an die Dämme drückt. Die eitle Freude und etwas Häme seien jenen gegönnt, die allzu lange diskriminiert, verunglimpft und lächerlich gemacht wurden. Aber werden sie das Zeug dazu haben, das, was es an Institutionen und Strukturen immer brauchen wird, zu bewahren – oder geht zu viel „entzwei“, wenn mit der Borniertheit des bisherigen Establishments aufgeräumt wird?
Was immerfort beschworen wurde, das war eben nicht lebendig, sondern bloße Propaganda und schräge selbsterfüllende Prophezeiung: Es gibt keine offene Gesellschaft, keine Diskursgemeinschaft, ja nicht mal eine „Diskursethik“ mehr, weil mittlerweile der größte Teil selbst vernünftiger und rationaler Kritik reflexartig als „rechtsextremistisch“ pathologisiert, isoliert und verfolgt wurde.
Nur: Kann von rechts eine Diskursgemeinschaft hergestellt werden? Oder wird es eher darum gehen, alte Rechnungen zu begleichen, was emotional nachvollziehbar wäre, nur sind wir in Leidenschaften eben stets in Gefahr, was, wenn die Luft von Geschrei hallt und wenn die Flut der Wut steigt, keiner wissen möchte.
frdnkndr
"Die eitle Freude und etwas Häme seien jenen gegönnt, die allzu lange diskriminiert, verunglimpft und lächerlich gemacht wurden."
Hallo Herr Bosselmann,
jetzt hab ich tatsächlich 'verunimpft' gelesen - ist das nicht ein witziger Verleser?
Danke für Ihren aktuellen Text und natürlich alles Gute Ihnen!