Ich bin in dieser Frage überhaupt nicht radikal. Mit 20 Jahren hätte ich noch jegliche Abtreibung und ihre Begründung verdammt. In der Jugend ist man, wenn man brennt, total kategorisch.
Über die Zeit lernt man Leute und Umstände kennen. Die Umstände sind oft kompliziert und lassen sich nicht anhand eines Rasters bestimmen. Ich stehe jedenfalls nicht an, einen Stab über sämtliche Abtreiberinnen zu brechen. Es gibt ganz schlimme Gemengelagen.
Und doch ein großes Aber! Oft genug sollten sich die Geschlechtsverkehrtreibenden einfach mal am Riemen reißen. Flotte Sprüche von forschen (sicher oft unbeweibten) Social-Media-Nutzern wie „hättste mal die Beine zusammengehalten“ sind gewiß ätzend und ungerechtfertigt, aber treffen gelegentlich das Körnchen Wahrheit.
Nämlich: Die allerwenigstens Frauen werden ohne eigenes Zutun schwanger. (Aber es gibt sie. Nicht nur die grob Vergewaltigten.)
Der Spruch, nein, die Parole: „Keine Frau treibt leichtfertig ab“ ist längst zum Hohn geworden. Natürlich wird dauernd und „leichtfertig“abgetrieben! Kostet ja (fast immer) nichts! Meistens, weil es „grad so überhaupt nicht paßt.“ Frauen haben Pläne, in die ein (weiteres) Kind sich ganz schwer eingliedern würde.
Woher aber kommt der neuerliche und bedenkliche Anstieg der Abtreibungszahlen? Eine Rolle könnte der neuerdings (unter Bedingungen, die leicht zu erfüllen sind) von den Kassen bezahlte NIPT (nicht-invasiver Pränataltest) spielen. Mit diesem harmlosen Test können gewisse Trisomien des Ungeborenen ausgeschlossen (oder bestätigt) werden.
Dieser Test ist nur ein Anfang. Bald wird man leicht vorgeburtlich das gesamte Genom des Neulings ermitteln und darstellen können. Natürlich kann man das bereits jetzt. Es ist nur noch nicht “Kassenleistung”.
Mein letztes, siebtes Kind bekam ich im Alter von 37. Damals ruhte eine große Erziehungslast auf mir. Ich wäre sehr verstört gewesen, eine Anomalie der Chromosomen des Ungeborenen attestiert zu bekommen. Ich hätte mich gefragt, ob ich das bewältigen könnte – und dabei den älteren, aber immer noch Kindern gerecht zu werden. Ich hatte jedoch (Augen zu und vertrau!) damals auf jede Frühdiagnostik verzichtet, dies auch vor meinem christlichen Hintergrund.
Dabei hatte ich bereits selbst eine Tochter mit „Chromosomenanomalie“. Ein neuer Test hätte sie womöglich vorgeburtlich herausgefiltert!
Ich hätte dann, als junge Schwangere, mit 24, herausgefunden, daß ich ein Kind mit abnormalen Chromosomen erwarte. Mit Behinderung also! Ich hätte das Kind damals fraglos auch mit Test zur Welt gebracht. Ich war ja in der sogenannten Blüte meines Lebens: bereit, alles zu schultern. Ob man das auch mit, sagen wir, vierzig Jahren ist?
Ja, diese Tochter kam anno 1998 mit einem sehr seltenen „Genschaden“ zur Welt. Sie ist als von Albinismus betroffene schwer sehbehindert. Mit entsprechenden Sehhilfen sieht sie maximal 10%. Sie hat eine (in Deutschland) ausgesprochen seltene Form des Albinismus. Das weiß ich, weil ich damals einer Gen-Sequenzierung zustimmte – das täte ich heute ganz sicher nicht mehr. Diese Chromosomenanomalie (nämlich kein weißes, sondern “goldenes” Haar) ist normalerweise in Japan vorzufinden.
Diese Tochter war ein liebes, aber auch stures Kind. Sie hat stets irgendwelche Erleichterungen (die ihr als “Schwerbehinderte” zugestanden hätten) abgelehnt. Auch gegen unser elterliches Zureden. Sie übersprang eine Schulklasse, legte ein „Landesbesten-Abitur“ ab und studierte mit großem Erfolg. Sie ist heute eine glückliche junge Frau „mit Karriere“.
Ich überlege, was heute, wo solche Untersuchungen Kassenleistung sind, jene Eltern tun, denen beim ungeborenen Kind eine Chromosomenanomalie attestiert wird?
Ich hoffe, sie entscheiden sich richtig. Niemand, um ehrlich zu sein, will ein schwerbehindertes Kind. Blöder, neumodischer Spruch: Karma is a bitch. Nehmen wir einfach an, was uns zukommt. Demut schadet nie, und wir alle wachsen doch an unseren Aufgaben.
Dürfen wir abtreiben? Hoffentlich machen es sich alle von dieser Entscheidung betroffenen so schwer wie möglich. Es könnte auch ein Glückskind sein!
Dr Stoermer
Ein Thema, das wohl jeden an die Grenze seiner Sicherheiten führt. Wanken und Zweifeln sollte dort Gebot sein. Wobei Ihr persönliches Vorbild zeigt, dass Mut zum Leben immer wieder unerwartetes Glück spendet. Mein Respekt ist ein weiteres mal gestiegen!
Frauen, die sich dieser Frage zu stellen haben, sind nicht zu beneiden, und jeder ist zu wünschen, dass sie diese mit einem liebendem Mann an ihrer Seite gemeinsam beantworten kann.
Das Töten derjenigen, deren nicht gewordenen Mütter ihre Entscheidung doch (scheinbar?) "leichtfertig" trafen, fand im Grunde immer schon weit vorher statt - als den GV-treibendInnen der seelische Zugang zu sich selbst verpfuscht wurde.