Kritik der Woche (55): Jörg Seidel bespricht Sloterdijks Tagebücher

Man sollte jeder Rezension eines solchen Buches mißtrauen, die sich weniger als zwei Monate Lesezeit genommen hat. Denn diese fast 600 Seiten voller Zeile und Tage (Teil III) aus der Feder Peter Sloterdijks sind eine schwindelerregende Achterbahn, mit Höhen und Tiefen und vor allem mit permanenten Wendungen, sie verlangen das aufmerksame und langsame Lesen.

Auf andert­halb Sei­ten etwa wird man durch­ge­schüt­telt durch Gedan­ken zum Bur­ka­ver­bot, über Schim­mel­pil­ze in Dudel­sä­cken, zur Ent­mao­i­sie­rung in Chi­na, Über­le­gun­gen zur Ety­mo­lo­gie des Wor­tes „cime­tié­re“ bis hin zu einer Komö­die von Raci­ne … und so geht es unun­ter­bro­chen wei­ter. Dar­in einen roten Faden zu suchen, ist ver­ge­bens – doch gibt es Wie­der­ho­lun­gen, immer wie­der auf­tau­chen­de Neu­be­ar­bei­tun­gen eines The­mas, ent­we­der, weil sich ein ablau­fen­der his­to­ri­scher Pro­zeß zur Kom­men­tie­rung anbie­tet oder weil die eige­nen Bücher The­men vor­ge­ben – es sind die Jah­re, in denen Slo­ter­di­jk Die schreck­li­chen Kin­der, Was geschah im 20. Jahr­hun­dert und das Schel­ling-Pro­jekt ver­faß­te –, oder weil es eben Lebens­the­men in die­sem Werk gibt – das Mys­te­ri­um der Geburt­lich­keit, das Anfangs­den­ken, das Wun­der des sozia­len Zusam­men­seins, der Ter­ror etc.  –, die tat­säch­lich immer wie­der neu gewälzt wer­den. Dem geüb­ten Slo­ter­di­jk-Leser ist dies wesent­lich Wie­der­ho­lung und Akzen­tu­ie­rung, auch den unge­üb­ten Lesern soll­te es Unter­hal­tung und Denk­stoff bieten.

Von sei­nen bei­den Vor­gän­gern unter­schei­det sich die­ser Band an Noti­zen durch das Wis­sen der künf­ti­gen Ver­öf­fent­li­chung. Waren Band 1 und 2 noch Pri­va­tis­si­ma, muß man sich hier den Phi­lo­so­phen in der Selbst­be­spie­ge­lung vor­stel­len. Dies erklärt viel­leicht sei­ne Vor­lie­be für pas­si­vi­sche und kon­junk­ti­vi­sche Kon­struk­tio­nen, die Distanz schaf­fen sol­len; ande­rer­seits wer­den bewußt pri­va­te, ja inti­me, mit­un­ter deli­ka­te bis pein­li­che Kon­kre­ta auf­ge­nom­men, die dem Leser einen Mann prä­sen­tie­ren, dem nichts Mensch­lich-All­zu­mensch­li­ches fremd ist. Gera­de die­se Pas­sa­gen kön­nen den­noch zu Be- oder Ent­frem­dun­gen füh­ren. Man muß das nicht alles tod­ernst neh­men, man spürt auch immer wie­der Slo­ter­di­jks Witz und Selbstironie.

Der Schrei­ber sieht sich selbst beim Poin­tie­ren zu und ver­ar­bei­tet den Ein­druck, den er auf sich macht. Auch und gera­de im Ange­sicht des Alters und des Todes. Der Tod ist über­haupt ein immer wie­der­keh­ren­des The­ma – es ster­ben gelieb­te Men­schen, es ster­ben Pro­mi­nen­te sei­ner Alters­ko­hor­te, und ganz zwangs­läu­fig setzt man sich mit den schwin­den­den Jah­ren auch mit dem eige­nen Ende aus­ein­an­der, zumal man selbst mehr und mehr ein „phar­ma­zeu­ti­sches Kon­strukt“ wird, den Schmerz kennt, die Depres­si­on, die Schlaflosigkeit.

Ein wei­te­res Kon­ti­nu­um sind die Lek­tü­re­er­fah­run­gen. Wir beglei­ten den Leser Slo­ter­di­jk und erken­nen auch sein Lese­ver­hal­ten, also nicht nur was er liest, son­dern auch wie. Das ist um so erstaun­li­cher als er noch im Alter – die Zeit der Pen­sio­nie­rung, Eme­ri­tie­rung – unun­ter­bro­chen und welt­weit unter­wegs ist, kaum ein paar zusam­men­hän­gen­de Wochen in hei­mi­scher Umge­bung zu haben scheint.

Span­nend erwar­tet wur­de der Band frei­lich aus einem ande­ren Grun­de: die Jah­re 2013–2016 sind Schick­sals­jah­re: Wah­len, Krim, Grie­chen­land­kri­se, Mas­sen­mi­gra­ti­on, mas­si­ver Ter­ror, Popu­lis­mus, Brexit … Slo­ter­di­jk hat­te mit Voka­beln wie „wohl­tem­pe­rier­te Grau­sam­keit“, „kei­ne mora­li­sche Pflicht auf Selbst­zer­stö­rung“, „Lüge­n­äther“, „Lethar­go­kra­tie“ u.ä. das Feuil­le­ton immer wie­der gereizt und wur­de dafür medi­al abgestraft.

Soll­te man in sei­nen per­sön­li­chen Auf­zeich­nun­gen nicht Klar­text erwar­ten? Das War­ten auf einen auch poli­tisch ori­gi­nel­len Slo­ter­di­jk ist umsonst, gera­de auf die­sem Gebiet bewegt er sich oft im Kon­ven­tio­nel­len, umsich­tig dar­auf bedacht, zu star­ke Aus­schlä­ge auf der Links-Rechts-Ska­la in die Mit­te hin zu kor­ri­gie­ren. Es gibt eine gewis­se Aver­si­on dem Islam gegen­über, aber auch das Phä­no­men Trump wird eher emo­tio­nal und ritu­ell abge­han­delt, und so alle bren­nen­den Fra­gen. Nur ein­mal, bei der Bur­ka­ver­bots­fra­ge wird er deut­lich. Alles ande­re bleibt im sub­ti­len Bereich.

An einer Stel­le schlägt Slo­ter­di­jk ein neu­es Ver­fah­ren der Lite­ra­tur­kri­tik vor: der Kri­ti­ker sol­le sich einen ent­schei­den­den Satz her­aus­zie­hen und die­sen in allen sei­nen Zusam­men­hän­gen erläu­tern. Unter den tau­send mög­li­chen wähl­te ich die­sen: „Es heißt, es gebe 670 Arten von Regen­wür­mern, davon sei­en 120 Migran­ten. Als sol­che durch­wüh­len sie frem­de Böden.“

 – – –

Peter Slo­ter­di­jk: Zei­len und Tage III. Noti­zen 2013–2016, Ber­lin 2023. 598 S. 34 € – hier bestellen

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Kommentare (11)

Laurenz

8. Februar 2024 13:19

@JS ... umso mehr ich auf diesem Medium, der SiN, oder sonstwo über Sloterdijk lese, umso weniger gerate ich in Gefahr jemals auch nur eine Veröffentlichung dieses Tagediebs & historischen Dilettanten in die Hand zu nehmen. Das ist nur was für Leute, denen sonst langweilig ist oder für unseren geschätzten Teilnehmer, @Anatol Broder, um die Grenzwertigkeit des menschlichen Denkens zu erforschen. Jongen hatte vollkommen Recht, in mehr Realität einzutauchen. 

Eo

8. Februar 2024 13:27

Danke, Herr Seidel, für diese anregende, appetitmachende Besprechung. So weiß ich nun endlich, was mir meine Frau zum baldigen Geburtstag schenken kann. Wollte ja schon immer mal dem guten, alten Slo hinter die Kulissen gucken, von dem Frau Beatrice mal sagte, der sitzt den ganzen Tag im Sessel und liest gute Böcher ...
.

A P Weber

8. Februar 2024 16:45

„Es heißt, es gebe 670 Arten von Regenwürmern, davon seien 120 Migranten. Als solche durchwühlen sie fremde Böden.“
Es gibt einen ganz aktuellen Vorschlag zum Umgang mit fremden Böden: "Eine Möglichkeit...wäre die Einrichtung einer globalen Migrationsorganisation der Vereinten Nationen mit der realen Befugnis, Länder zur Aufnahme von Flüchtlingen zu zwingen" ( Vince, Gaia, Das nomadische Jahrhundert - Wie die Klima - Migration unsere Welt verhindern wird, Piper 3. Aufl. 2023, S. 137 )
Und wenn sie auf den fremden Böden sind: "Im Jahr 2020 traf der Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen die bahnbrechende Entscheidung, dass auch Klimaflüchtlinge nicht mehr in ihre Heimat zurückgeschickt werden dürfen.." ( ebenda, S. 115 ) 
 

Tageszeile

8. Februar 2024 16:56

Beurteilung
Erst einmal raunt ein eigener Klang aus jedem Satz. Und ohne diese Grunderfahrung seiner weitverbreiteten Stimme im InterNetz ist sein Humor zur Nachricht schlechterdings nicht zu finden. Ebenso ist ein wohldosiertes, lautes Vortragen eine Bedingung zum besseren Verständnis seiner Wendungen - hier bleiben durchaus einige der Leser auf seiner Strecke. Die Großmeister der Philosophie und Ethnologie und hauptsächlich des et cetera …der Dichtkunst oder Menschen wie A. Kluge, J.Assmann oder B. Brock bereden aus diesen »Meister der Worte« wie auch die hiesigen europäischen und vergangenen Kulturen, deren manche Sprache er fließend anspricht. Hier »schreibt« Sloterdijk "spiegelgleich“ ab und verortet noch Bedecktes, was bald zum Vorschein will.Und manchmal ist er der Matador und sonnt sich gern darin – das sei ihm gegönnt, wie er auch angewidert manch Plauderndes entlarvt und zornig flieht. Erst jetzt erscheint das Knicklicht seiner Zeilen und Tage III, die bereits ein gewisses Alter tragen – hier trifft es viel, um zu sagen – zumindest für eine längere Zeit sehen wir die europäischen Kulturen in ihre dunkleren Ecken verkriechen. Zuletzt antworte ich Ihnen auf die nicht gestellte Frage; jeder ist nicht geeignet - als Adressat.

mons

8. Februar 2024 20:06

Ja, so ist das bei Sloterdijk leider fast immer:Frappierende Analysen, Sichtweisen, Einsichten, aber er wagt nie den konsequenten Schluss, den Absprung über die Schlucht, die Entscheidung, die Weichenstellung. Man wird den Eindruck nicht los, dass er trotz aller Kritik und Distanz auf keinen Fall riskieren will, keine Einladungen mehr "bei Hofe" zu erhalten. Damit bringt er sich selbst um das Ansehen eines "großen" Philosophen.

Umlautkombinat

8. Februar 2024 20:51

@mons
So ist es nicht, in einem gescheiten totalitaeren System - auch wenn noch jugendlich, aber es waechst schnell - muss man Entscheidungen treffen: 
 
So oder so.
 

RMH

8. Februar 2024 22:39

@mons
Ja, da beschreiben Sie etwas richtiges. Hic Rhodus ....
Aber immerhin bleibt ihm damit die Konsequenz eines Sieferles erspart. 
Ich habe mit "Regeln für den Menschenpark" aufgehört, mir Werke von S. zu kaufen. Das war ein wegweisendes Schlusswort für mich. Die Zeit, auch noch Memoiren zu lesen, nehme ich mir nicht mehr, da bin ich bei @Laurenz.

Franz Bettinger

9. Februar 2024 09:17

Man muss kein Philosoph sein, um unsere Epoche zu durchschauen. Es ist leicht. Wer heute aber glaubt, ein Philosoph zu sein, und immer noch keine klare Aussage zustande bringt, der sei mir gestohlen. 

kikl

9. Februar 2024 09:52

Sloterdijk hat zumindest den Mumm besessen, gegen die Merkelsche Flüchtlingspolitik aufzubegehren. Wegen dieses Vergehens wurde er exkommuniziert. Sloterdijk hat zwar versucht sich zu verteidigen, aber wer einmal von der Medienmeute durch den braunen Schlamm gezogen wurde, für den gibt es keine Gnade.
Anstatt sein Schicksal anzunehmen, versucht Sloterdijk durch Anbiederung, wieder Aufnahme in die gehobenen Kreise zu finden. Das ist menschlich aber ein tragischer Fehler. 
Ich habe Sympathie für Sloterdijk, weil er pointiert und humorvoll denken und reden kann. Aus Furcht vor der eigenen Courage verbirgt Sloterdijk seine wahren Gedanken aber häufig hinter einer Nebelwand schwülstiger Wortungetüme und Phrasen.  So empfinde ich seinen Stil zuweilen.
Man hofft natürlich, dass Sloterdijk in seinen Tagebüchern mehr Klartext redet. Womöglich lernen wir den wahren Sloterdijk aber erst nach seinem Ableben kennen. So sind die Zeiten.
Das gehört zwar nicht zum Thema, aber das Interview Putins durch Tucker Carlson sollte genau analysiert werden. Mein Fazit ist, dass wir uns keine Illusionen über die Motive Russlands im Ukrainekrieg machen dürfen.

Hartwig aus LG8

9. Februar 2024 11:25

Ein Satz von Sloterdijk, den ich bei Gelegenheit gern zitiere:
"In multikulturellen Einwanderungsgesellschaften gibt es nichts, über das man sagen könnte, 'das versteht sich von selbst' ".
Für mich also die Definition des Gegenteils von Heimat.
(Aber ich glaube, den Satz hat Sloterdijk selbst zitert; Ursprung mir unbekannt.)

Hesperiolus

9. Februar 2024 12:31

Sloterdijks hypernervösem Austritt – post Potsdam - „ mit sofortiger Wirkung“ aus dem VDS wurde hier Erwähnung getan? Hat er weniger „cojones“ (s.comm.o) als ein Hallervorden? Sein paradoxales Gehabe als staatsalimentierter Fiskophob, gnötterndes („gnöttern“ nach Steding zu Mann) „differentiales Anthropologem“ ging mir eh auf den Nerv. Wiewohl in dem Tetralogon weniger. Nicht zu vergessen, der Mann ist malinitiiert vom „alten Hern“ (Peter Lustig). 
 

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