Auf anderthalb Seiten etwa wird man durchgeschüttelt durch Gedanken zum Burkaverbot, über Schimmelpilze in Dudelsäcken, zur Entmaoisierung in China, Überlegungen zur Etymologie des Wortes „cimetiére“ bis hin zu einer Komödie von Racine … und so geht es ununterbrochen weiter. Darin einen roten Faden zu suchen, ist vergebens – doch gibt es Wiederholungen, immer wieder auftauchende Neubearbeitungen eines Themas, entweder, weil sich ein ablaufender historischer Prozeß zur Kommentierung anbietet oder weil die eigenen Bücher Themen vorgeben – es sind die Jahre, in denen Sloterdijk Die schrecklichen Kinder, Was geschah im 20. Jahrhundert und das Schelling-Projekt verfaßte –, oder weil es eben Lebensthemen in diesem Werk gibt – das Mysterium der Geburtlichkeit, das Anfangsdenken, das Wunder des sozialen Zusammenseins, der Terror etc. –, die tatsächlich immer wieder neu gewälzt werden. Dem geübten Sloterdijk-Leser ist dies wesentlich Wiederholung und Akzentuierung, auch den ungeübten Lesern sollte es Unterhaltung und Denkstoff bieten.
Von seinen beiden Vorgängern unterscheidet sich dieser Band an Notizen durch das Wissen der künftigen Veröffentlichung. Waren Band 1 und 2 noch Privatissima, muß man sich hier den Philosophen in der Selbstbespiegelung vorstellen. Dies erklärt vielleicht seine Vorliebe für passivische und konjunktivische Konstruktionen, die Distanz schaffen sollen; andererseits werden bewußt private, ja intime, mitunter delikate bis peinliche Konkreta aufgenommen, die dem Leser einen Mann präsentieren, dem nichts Menschlich-Allzumenschliches fremd ist. Gerade diese Passagen können dennoch zu Be- oder Entfremdungen führen. Man muß das nicht alles todernst nehmen, man spürt auch immer wieder Sloterdijks Witz und Selbstironie.
Der Schreiber sieht sich selbst beim Pointieren zu und verarbeitet den Eindruck, den er auf sich macht. Auch und gerade im Angesicht des Alters und des Todes. Der Tod ist überhaupt ein immer wiederkehrendes Thema – es sterben geliebte Menschen, es sterben Prominente seiner Alterskohorte, und ganz zwangsläufig setzt man sich mit den schwindenden Jahren auch mit dem eigenen Ende auseinander, zumal man selbst mehr und mehr ein „pharmazeutisches Konstrukt“ wird, den Schmerz kennt, die Depression, die Schlaflosigkeit.
Ein weiteres Kontinuum sind die Lektüreerfahrungen. Wir begleiten den Leser Sloterdijk und erkennen auch sein Leseverhalten, also nicht nur was er liest, sondern auch wie. Das ist um so erstaunlicher als er noch im Alter – die Zeit der Pensionierung, Emeritierung – ununterbrochen und weltweit unterwegs ist, kaum ein paar zusammenhängende Wochen in heimischer Umgebung zu haben scheint.
Spannend erwartet wurde der Band freilich aus einem anderen Grunde: die Jahre 2013–2016 sind Schicksalsjahre: Wahlen, Krim, Griechenlandkrise, Massenmigration, massiver Terror, Populismus, Brexit … Sloterdijk hatte mit Vokabeln wie „wohltemperierte Grausamkeit“, „keine moralische Pflicht auf Selbstzerstörung“, „Lügenäther“, „Lethargokratie“ u.ä. das Feuilleton immer wieder gereizt und wurde dafür medial abgestraft.
Sollte man in seinen persönlichen Aufzeichnungen nicht Klartext erwarten? Das Warten auf einen auch politisch originellen Sloterdijk ist umsonst, gerade auf diesem Gebiet bewegt er sich oft im Konventionellen, umsichtig darauf bedacht, zu starke Ausschläge auf der Links-Rechts-Skala in die Mitte hin zu korrigieren. Es gibt eine gewisse Aversion dem Islam gegenüber, aber auch das Phänomen Trump wird eher emotional und rituell abgehandelt, und so alle brennenden Fragen. Nur einmal, bei der Burkaverbotsfrage wird er deutlich. Alles andere bleibt im subtilen Bereich.
An einer Stelle schlägt Sloterdijk ein neues Verfahren der Literaturkritik vor: der Kritiker solle sich einen entscheidenden Satz herausziehen und diesen in allen seinen Zusammenhängen erläutern. Unter den tausend möglichen wählte ich diesen: „Es heißt, es gebe 670 Arten von Regenwürmern, davon seien 120 Migranten. Als solche durchwühlen sie fremde Böden.“
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Peter Sloterdijk: Zeilen und Tage III. Notizen 2013–2016, Berlin 2023. 598 S. 34 € – hier bestellen
Laurenz
@JS ... umso mehr ich auf diesem Medium, der SiN, oder sonstwo über Sloterdijk lese, umso weniger gerate ich in Gefahr jemals auch nur eine Veröffentlichung dieses Tagediebs & historischen Dilettanten in die Hand zu nehmen. Das ist nur was für Leute, denen sonst langweilig ist oder für unseren geschätzten Teilnehmer, @Anatol Broder, um die Grenzwertigkeit des menschlichen Denkens zu erforschen. Jongen hatte vollkommen Recht, in mehr Realität einzutauchen.