In Walter Ulbricht. Der deutsche Kommunist entschlüsselt der 1967 geborene Ostberliner Wesen und Gestalt des KPD-Kaders und anschließenden DDR-Mitbegründers und widerlegt damit ironischerweise seine eigenen Ausführungen aus der Einleitung, wonach eine Biographie auch nach der Biographie weiterhin ein »Rätsel« bleibe. Denn Ulbricht wird so erschöpfend in seiner Zeit dargestellt, daß man sich förmlich »dabei« wähnt; das Rätsel der Personalie Ulbricht wird gelöst, unter Zuhilfenahme demonstrativer Detailverliebtheit. Dabei umfaßt vorliegender Band nur die erste Halbzeit des Ulbrichtschen Lebensweges. Der Folgeband wird 2024 erscheinen.
Verdient der »Spitzbart« derlei Aufmerksamkeit? Der »Markt« würde ein opulentes Doppelwerk für je knapp 60 Euro wohl kaum tragen. Aber erstens wurde die jahrelange Arbeit am Stoff von der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur gefördert. Und zweitens blieb eine Detailbiographie Ulbrichts tatsächlich ein Desiderat der Forschung; andere Porträts waren entweder zu ideologisch eingefärbt (man denke an Johannes R. Bechers Arbeiten) oder zu journalistisch (man denke an Mario Franks populären Band).
Nun also Kowalczuk, der das Leben des Leipzigers Walter Ernst Paul Ulbricht ab der frühen Kindheit minutiös darlegt. Bereits bei der familiären Einbettung wird Kowalczuks Stärke deutlich: Er schreibt nicht nur Ulbrichts Lebensgeschichte auf, sondern verwebt soziale, kulturelle, politische, ideologische, geschichtliche und selbst konfessionelle Fäden zu einem kohärenten Ganzen.
Es klingt paradox: Aber selbst Leser, die sich nicht explizit für Ulbrichts Wirken interessieren, dürften aufgrund der komplexen Darlegungen für die Anstrengungen der Lektüre belohnt werden. Nur selten wird der überaus Ulbricht-kritische Kowalczuk dabei merkwürdig pathetisch-affirmativ, etwa wenn es resümierend zur Adoleszenz Ulbrichts heißt:
In seiner Kindheit und Jugend erfuhr er früh, Minderheitenpositionen zu behaupten, gegen den Mainstream zu leben. Walter Ulbricht hatte sich zu einem jungen Sozialdemokraten entwickelt, politisch und ideologisch mit einem klaren Standpunkt, nicht zu Opportunismus neigend, sondern seinen eigenen Weg suchend und findend.
Dieser eigene Weg führte Ulbricht von der sächsischen Sozialdemokratie über Zwischenschritte des Ersten Weltkriegs und der Nachkriegszeit in die KPD. Die knapp fünfzehn Jahre der Weimarer Republik waren für Ulbricht dann geprägt von Verhaftungen und anderen Repressalien, offenem Massenkampf gegen Polizei und Nationalsozialisten, dem Streben nach einem Deutschland nach Moskauer Bauart und der Bewältigung innerlinker Fehden. Letztere überlebte er als Delegierter der Kommunistischen Internationale (Komintern) auch dann, als ihm andere Kader ein Ende bereiten wollten.
Kowalczuk wälzt interne Dokumente, Briefwechsel und Kaderakten, wertet die Presse ebenso aus wie die Ergebnisse der Nachstellungen diverser Überwachungsapparate. Aus heutiger Sicht interessant ist dabei die geographische Schwerpunktlegung der Ulbrichtschen Agitation: Er legte den Fokus auf Thüringen, Sachsen und das heutige südliche Sachsen-Anhalt; er sah Mitteldeutschland als das wesentliche Experimentierfeld revolutionärer Kärrnerarbeit an.
Doch Kowalczuk vermittelt dem Leser das nötige Wissen, um besser zu verstehen, weshalb andere Kräfte erfolgreicher blieben als die moskauhörige KPD; den vielgestaltigen Niedergang der Kommunisten ab Januar 1933 zwischen Flucht, Widerstand und Opportunismus beschreibt er entlang persönlicher Einzelschicksale und kollektiver Demütigungen. Auch das Moskauer Exil wird von Kowalczuk plastisch dargestellt. Im Großen Terror des Stalin-NKWD-Blocks starben mehr Kommunisten denn je; nur der Einfluß Ulbrichts und seiner Genossen dürfe, so Kowalczuk, nicht überschätzt werden – sie blieben Verfügungsmasse des Tyrannen, »bestenfalls Handlanger, meist nicht einmal das«.
Neuen Streitstoff birgt das Kapitel über den Hitler-Stalin-Pakt und den 22. Juni 1941. Kowalczuk verweist auf eine Bismarck-Edition der Bolschewiken, deren Hinführung von Stalin selbst redigiert wurde. Der Diktator hob darin Bismarcks Bedeutung für preußisch-russische Verständigungspolitik hervor und versuchte ein Bündnis Moskau-Berlin rational herzuleiten. Tut man dies, wenn man kurz danach einen Krieg gegen Deutschland anvisiert hätte?
Maximilian Krah und Stefan Scheil werden die Passagen unterschiedlich deuten, ebenso wie die Tätigkeiten Ulbrichts und seiner Gruppe im letzten Kriegsjahr, die aus propagandistischen Gründen unter der schwarzweißroten Reichsfahne (und eben nicht, wie Kowalczuk wiedergibt, der Reichskriegsflagge) statt der schwarzrotgoldenen erfolgten. Mit dem 8. Mai 1945 wurde auch diese Episode beendet; die Zeit der Zerstückelung Deutschlands begann, in der Ulbricht eine Schlüsselrolle spielen sollte – doch dazu mehr in Band 2.
»Biographien«, so hofft Ilko-Sascha Kowalczuk, »werden geschrieben, um gelesen zu werden.« Nun, das gilt wohl für alle Bücher. Aber das vorliegende verdient die Lektüre ganz besonders.
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Ilko-Sascha Kowalczuk: Walter Ulbricht. Der deutsche Kommunist (1893 – 1945), München: C. H. Beck 2023. 1006 S., 58 € – hier bestellen