Als folgerichtige Niederlage zwar, das schon, aber auch kausal zwingende Verläufe können einem tragisch erscheinen. Den Demonstrationen sah ich vom Mendebrunnen am Gewandhaus aus skeptisch zu, durch den bitter-scharfen Rauch meiner Karo hindurch. Ich hatte kein anderes Land als dieses mir zugeborene.
Volker Braun fand für dieses Gefühl den Ausdruck:
Das Eigentum
Da bin ich noch: mein Land geht in den Westen.
KRIEG DEN HÜTTEN FRIEDE DEN PALÄSTEN.
Ich selber habe ihm den Tritt versetzt.
Es wirft sich weg und seine magre Zierde.
Dem Winter folgt der Sommer der Begierde.
Und ich kann bleiben wo der Pfeffer wächst.
Und unverständlich wird mein ganzer Text
Was ich niemals besaß wird mir entrissen.
Was ich nicht lebte, werd ich ewig missen.
Die Hoffnung lag im Weg wie eine Falle.
Mein Eigentum, jetzt habt ihrs auf der Kralle.
Wann sag ich wieder mein und meine alle.
Wir aus der untergehenden DDR, die sich immer als „Siegerin der Geschichte“ sehen wollte, hatten den Kalten Krieg, die große Systemauseinandersetzung, gegen einen stärkeren Gegner verloren. Seine Kraft bezog der, so damals unsere Einsicht, aus dem Kapitalismus, der sich wohl oder übel trotz aller Kollateralschäden als effizienter erwiesen hatte.
Wir in den Sechzigern Geborenen wurden nicht die „sozialistische Elite des neuen Jahrtausends“, sondern die erste Generation ABM. Die in das Beitrittsgebiet einreisenden Lokatoren und Neu-Bestimmer ließen uns Ex-DDRler die Niederlage spüren – meist auf freundliche, ganz wohlmeinende Weise. Wir müßten doch einsehen, daß …
Ja, wir sahen es ein: Untergang eines repressiven Staates. Aber auch die Südstaatler hatten nach dem verlorenen Sezessionskrieg tragisch erkennen müssen, daß der starke industrialisierte Norden überlegen war – damals ja bereits dank Kapitalismus und Liberalismus. Immerhin pflegte der unterlegene Süden trotzig seine Legende vom „Grand Old South“, und so ähnlich verharrten wir etwas verstockt und regionalromantisch bei manch entscheidender Prägung. Reaktionär, ja. Politologen werfen uns das bis heute vor, insbesondere unsere „Demokratiedefizite“. – je sächsischer, desto defizitärer.
Freiheit? Hielt ich immer für einen allzu trügerischen Begriff, schwierig zu fassen, ähnlich wie die Liebe – beide zu schnell, zu häufig und zu schwärmerisch gebraucht und daher nach kurzer Euphorie abgegriffen.
Ich brauchte mehr als ein Jahrzehnt, um – anfangs nur verblüfft, dann konsterniert – zu erkennen, daß wir von einem erschöpften Land übernommen worden waren. Seinem Kraftquell, dem zur „sozialen Marktwirtschaft“ verfeinerten Kapitalismus, stand es bereits ambivalent gegenüber. Ja, man wollte satt sein und ausgiebig genießen, aber das Grundempfinden hielt guten Lohn für so wichtig wie anstrengende Arbeit für unzumutbar. Der Kapitalismus der Bosse war längst jenem der feisten Gewerkschafter und Verbandsfunktionäre gewichen.
Und eine Nation wollte man so national erst recht nicht mehr sein. Während die frühe Bundesrepublik die ihr vorausgehenden Jahre der Diktatur und Alt-Republik zunächst mindestens personell, in manch entscheidender Hinsicht aber sogar mental kontinuierlich fortgesetzt hatte, wurde 1968 ff. schon einmal eine Wende vollzogen, die wir im Osten so nicht erlebt hatten und die uns daher fremdgeblieben war.
Die Nachkriegsgeneration drüben hatte offenbar gegen den Adenauer-Konservatismus aufbegehrt – in einer risikofreien Revolution der Bürgersöhnchen und höheren Töchter, denen die beargwöhnten Eltern das Studium finanzierten und die WG-Mieten bezahlten. Diese Möchtegern-Rebellen brachen kraft Gnade der späten Geburt mit dem nationalen Erbe und revidierten ein Menschenbild, das auf Leistung, selbstkritische Demut und Pflicht gesetzt hatte.
Sie rebellierten gegen den alten Staat und begehrten einen neuen, der quasisozialistisch, also im Wortsinne sozial-demokratisch die Verantwortung zuerst für die Schwächeren und später für die ausufernde Zahl von Migranten übernahm, ohne daß sich die selbsterklärt linken Aktivisten hedonistisch einschränken wollten. Die Entbehrungen und der Dreck, die für die Erarbeitung dieses Wohlstandes nach wie vor nötig waren, sollten für das neue Establishment nicht mehr spürbar sein.
Mit dem gefälligen Brandt-Slogan „Wir wollen mehr Demokratie wagen“ begann die Herausbildung eines „Deep State“, in dem der Begriff „Zivilgesellschaft“ für eine staatliche Günstlingswirtschaft erfunden wurde, die jene satt alimentierte, die den neuen Staat propagandistisch trugen.
Es hatte mich irritiert, daß nahezu alle der uns so sanft wie nachdrücklich belehrenden West-Kollegen sich als „eher links“ identifizierten. Ich nahm ihnen das zunächst nicht ab – ein Fehler, denn sie hatten recht. Sie waren absolut west-links, während die untergegangene DDR in sich selbst eher preußisch-konservativ verfaßt geblieben war – ein seltsamer Stagnationsraum letztlich tragischen Engagements, plötzlich der Zugluft des „Wind of change“ preisgeben.
Die West-Achtundsechziger und erst recht deren Nachfolgegeneration machten aus allem eine Weltanschauung, nicht nur aus ihrer Ablehnung der Atomkraft, sondern sogar aus dem Radfahren und Gemüseessen. Die Supermarkt-Regale hatten zu Lasten der Biosphäre gefälligst weiterhin überbordend gefüllt zu sein, nur brauchten die Waren allerlei Aufkleber, die versprachen, daß ihre Erzeugung ökologisch und moralisch korrekt erfolgt wäre.
Mit dem Wendejahr gerade noch so mit meinem für wertlos erklärten Ost-Diplom an einer Schule untergekommen, registrierte ich als Lehrer: Ohne Not gab die uns oktroyierte Pädagogik-West kulturelle Grundbestände preis. Richtiges Schreiben war nicht mehr so wichtig, das Wort Diktat wurde semantisch mit Diktatur in Verbindung gebracht, in Mathe etwas drauf zu haben galt als sehr uncool.
Inklusion schlug Bestenauslese, anwendungsbereites Wissen sollte von „Methodenkompetenz“ abgelöst werden. Ein literaturgeschichtlicher Kanon wurde sofort abgeschafft, wir lasen mit unseren Klassen und Kursen immer weniger Werke durch, das „exemplarische Prinzip“ regierte; und um den Könnensverlust zu kaschieren, wurden die Anforderungen gesenkt und die Bewertungen inflationiert.
Wer noch über Inhalte, gar über Niveau reden wollte, galt beinahe als reaktionär. Rein Fachliches verschwand aus den Weiterbildungsangeboten.
Aber die Noten wurden immer besser, die Schulen immer schicker. Sie hießen jetzt selbst für untere Abschlüsse gern pseudoakademisch „Campus“. Versprach man sich Bildungserfolge früher primär vom Buch, so jetzt von höheren Übertragungsgeschwindigkeiten des Glasfasernetzes: Schnelles Internet und stabiles WLAN wurden wichtiger als eine Bibliothek; ohne teures Smartboard galt Unterricht als antiquiert. Zwar konnten immer weniger Schüler leserlich von Hand schreiben und verstehend lesen, dafür aber um so nervöser klicken und wischen.
Erst verlor das Vaterland an Bedeutung, dann die Muttersprache.
In der Sporthalle wurden die Klettertaue hochgebunden. Viel zu gefährlich, hieß es. Auch Gerätturnen eher reduzieren! Und überhaupt: Runter mit den Zeiten, Werten und Normen. Eher der Freude an der Bewegung den Vorzug geben, dem Spiel; alles andere wäre doch faschistischer Drill. So wie früher in der DDR: Handgranatenweitwurf und militärischer Mehrkampf.
An die Stelle dessen, was Bildung im Sinne von Persönlichkeitsreifung einst ausmachte, trat „Demokratie an der Schule“. Zunächst wurde der Unterricht zu einer eher sozialpädagogischen, dann zu einer direkt politischen Veranstaltung. Nicht mehr Schule des Fachunterrichts, sondern „Schule gegen Rassismus – Schule mit Courage“, „Schule der Vielfalt“, „Schule gegen Sexismus“, „Schule gegen Rechtspopulismus“ und viele andere Für- und Gegen-Formeln darüber hinaus.
Wenn dann und wann die maßgeblichen Tests der Bildungspolitik das von ihr verursachte Desaster offenbarten, verstärkte sie irrsinnigerweise weiter genau jene Kampagnen, die in den Mißstand geführt hatten und vertiefte die Legende, Defizite wären primär von Sozialproblemen verursacht. Daß Bildung früher genau der Weg von Benachteiligten war, aus der Unterprivilegiertheit aufzusteigen, ist längst vergessen. Vergessen ebenso die Bedingung, daß es dafür zuerst des starken Willens und ausdauernden Fleißes bedurfte.
Während permanent die Demokratie gepriesen wurde, konnten die zur ihrer Gestaltung erforderten Befähigungen, vorzugsweise jene des geschriebenen und gesprochenen Wortes und das Vermögen zur Urteilskraft, kaum mehr ausgebildet werden.
Als dann jene als Lehrer antraten, die ich bis zum Abitur selbst ausgebildet hatte, wußten diese substantielles Wissen und Können kaum mehr vermitteln, weil wir es ihnen schon nicht mehr beigebracht hatten oder eher aus systemischen und strukturellen Gründen kaum mehr vermitteln konnten, so wie wir immer weniger zur Selbstüberwindung und Bescheidenheit erzogen. Vielmehr bildeten wir Egoisten und Narzißten aus, denen häufig genau das fehlte, was sie beständig einforderten oder allzu schnell für sich selbst als Charaktereigenschaft in Anspruch nahmen: Empathie.
So ähnlich wie in der untergehenden DDR dominieren mittlerweile die Ritualisierungen und Beschwörungen. Wenn immerfort von „nationalsozialistischer Diktatur“ und „Holocaust“ die Rede war, begann man wegzuhören, nicht weil Nationalsozialismus und Holocaust keine Verbrechen gewesen wären, sondern weil der Umgang damit völlig neurotisiert erfolgte. Es ging nicht mehr um die dramatischen Tatsachen und deren differenziert kritische Beurteilung und Herleitung, sondern nurmehr um eine Art kollektiver Übung, die unfreiwillig skurril und quasireligiös wirkte.
Gleichfalls wie in der DDR wird lautstark genau das propagiert, was es an sich fehlt und vermißt wird – „Vielfalt“ etwa, „Toleranz“ und „Diskurs“. Man spürte, von Staats wegen gemeint waren vielmehr neue Uniformierung, scheinbar „bunt“, neue Vormundschaftlichkeit und arrogante Diskursverweigerung gegenüber jenen, die nicht vorhaltlos „Grundvereinbarungen“ zu teilen bereit waren, die nie jemand grundvereinbart hatte. Oppositionelle Meinungen und Anregungen rundweg abzulehnen, das gilt mittlerweile nicht etwa als ignorant, sondern völlig widersinnig als „couragiert“.
Nur sind Fiktionen und selbsterfüllende Prophezeiungen noch immer durch die Lebenswirklichkeit korrigiert worden. Weil dies bereits erspürbar ist, wendet sich der Haß der vermeintlich Anständigen, also der Angepaßten, gegen das Korrektiv selbst.
Daß es ein Vorteil meiner Generation sein mag, Zeugen eines Untergangs gewesen zu sein, will ich nicht hoffen. Zumal nicht sicher ist, ob etwas Neues auch ein Besseres sein mag.
RMH
Der Ost-Boomer jammert mal wieder - Entschuldigung, aber so werden es einige, die nicht in der kritischen Blase sind, vermutlich leider wahrnehmen. Der West-Boomer hatte schon immer die Erfahrung gemacht, dass er im Grunde überflüssig ist, da gab es nie eine Einstimmung, von wegen, Du wirst für den Sozialismus gebraucht und so wurde der Westboomer zu dem, was ihm immer vorgeworfen wird, zu jemanden, der weiß, dass niemand auf ihn wartet und das draußen 10 andere sind, die ihn sofort ersetzen und legt dabei einen gewissen Egoismus, Geiz in Abwechslung mit Hedonismus an den Tag, wenn er als "analfixiert" seine Sachen krampfhaft beisammen hält als ob das letzte Hemd doch noch Taschen hätte (evtl. wird er ja im Jenseits einmal ernsthaft gebraucht und nicht von 10 anderen ersetzt). Sein Vorteil ist aber, dass er im kalten Weltuntergang (drohender Atomkrieg), dutzenden angekündigten weiteren Weltuntergängen (Peak Oil, Waldsterben, AIDS, Tschernobyl etc.) fast schon eher Doomer als Boomer genannt werden könnte und daher hysterischen Anfällen, wie sie aktuell politisch am laufenden Band orchestriert werden, nicht so leicht mehr anheimfallen kann bzw. eine - Achtung, Modewort- Resilienz gegen Katastrophen-Panik entwickelt hat. Das teilt er mit dem Ost-Boomer, daher Boomer aller Länder, vereinigt Euch. Die Jugend ist zu wenig, die Rentner, die der morgendlich ans Haus gebrachten Tageszeitung noch glauben, sind zu viele.