Beides entbehrt er sogar: Die Sprache ist schlicht und ohne Raffinesse, und eine Handlung ist zunächst nicht vorhanden. Das Buch ist auf den ersten fünfzig Seiten die Beschreibung des Lebens in der südserbischen Kleinstadt Vranje, und zwar in einer Zeit, als sich die türkischen Besatzer noch nicht lange zurückgezogen hatten, also etwa um 1865.
Warum also sollte man lesen, wie Borisav Stankovic die Tage und Nächte beschreibt, in denen Effendi Mita, den die Musikanten Hadschi Gajka nennen, sein Mädchen verheiratet? Drei Gründe: Zum einen ist die Sicherheit beneidenswert, mit der sich alle Personen – Vater und Mutter, die Tochter Sofka, die Tanten, die alte Magd, die jungen Frauen und die Musikanten, die Schwagersippe und die Priester – durch diese ausgelassenen und zugleich an Sitte und Brauch ausgerichteten Tage bewegen. Jeder kennt seine Aufgabe und weiß, was auf ihn zukommen wird. Das sind die stärksten Stellen: die überschäumende Vorfreude auf ein Fest, an dem endlich die Arbeit ruhen darf und das man auskosten wird bis zum letzten Tropfen.
Zweitens: Stankovic erzählt stimmig aus der eingeschränkten Sichtweise der Tochter, die verheiratet werden soll und die zunächst ahnungslos ist, dann jäh erkennt, was geschehen wird, und ihre Rolle ganz ausspielt. Sie hat romantische Vorstellungen, aber schon das Elternhaus, dieser Ausweis einer reichen Sippe, ist fast nur noch eine Kulisse, denn der Vater wirtschaftet schlecht. Der Moment, in dem das Mädchen erfaßt, daß man sie an den noch kindlichen, also deutlich jüngeren Sohn reicher Bauern verkaufen wird, damit ihre Eltern eine üppige Morgengabe einstreichen können, ist das Scharnier des Romans: Sofka begreift ihre Lebens‑, ihre Sippenrolle und schlüpft hinein.
Ein dritter Grund: Wir kennen solche Hochzeiten und Feste, solche Bräuche und Lebensrahmen, das harte Leben also, und die durch dieses Leben genährte Ausgelassenheit nicht. Ich spähte in Rumänien Anfang der Neunziger, also kurz nach der Wende, durch eine Tür in einen Saal, in dem von den schmaleren, dunkleren, stolzeren Zigeunern ein Paar getraut worden war und wo man nun das Fest ausrichtete. Ich kannte die Hütten, in denen sie hausten. Aber dieses Fest: Wirbel, Lärm, unfaßbares Gedränge, Stolz und überschäumende Freude – und vor allem Verschwendung, als gäbe es kein Morgen.
Man kann solche Tage selbst als Zaungast nicht mehr erleben, das ist in Europa vorbei, und sollte es noch Winkel geben, werden wir keinen Zugang mehr finden. Also sind Bücher wie das über den Hadschi Gajka immer auch Archive, Bauernmuseen, Heimatstuben.
Die große Geschichte blitzt auf, wird aber kaum erzählt: 1867 mußten die letzten Türken das neugegründete serbische Fürstentum verlassen. Man hatte allerlei Bräuche und Lebensgewohnheiten aus der jahrhundertelangen Besatzung übernommen, aber den orthodoxen Glauben nicht verloren. Man erfährt nicht genau, warum der Vater, der Serbe, den Türken hinterherzieht und jahrelang von zu Hause fortbleibt. Hat er kollaboriert? Macht er noch immer Geschäfte? Grenzland jedenfalls, die Bauern stehen im Bann der Blutrache mit Albanern – man erschlug einander Söhne, die Albaner sind an der Reihe.
Aber diese Geschichten und Gerüchte sind nur ein Flackern hinterm Lebenshorizont der Tochter, die nun heiraten soll und heiraten wird. Die Kapitel, die Vorbereitung, trunkene Vorfreude, Fest, Gastfreundschaft, rasendes Glück, Aufstieg durch Verschwägerung und Unmäßigkeit in jeder Hinsicht schildern, sind der Kern des Buches. Danach ist die Asche kalt, und die ganze Sache wirkt wie ein großer Irrtum: Der Bauer, der Hadschi Gajkas Mädchen für seinen Sohn kaufte, war rasend vor Glück, weil es ihm schien, als liebte diese junge Frau aus bestem Hause die zu Geld gekommene Bauernsippe wirklich. Aber am Ende ist klar: Man wollte zu viel. Der Sprung hinauf in eine unangemessene gesellschaftliche Höhe bedeutet, daß von dort herab die Fortpflanzung der Sippe nicht mehr so erfolgen kann, wie es bisher galt.
Borisav Stankovic (1876 – 1927) zählt zu Recht zu den großen Heimatschriftstellern Serbiens. Die Erzählhaltung ist konsequent, nichts ist kitschig, die Erkenntnis wird geschickt in Portionen verabreicht. Das Buch paßt gut in Die vergessene Bibliothek, die der literarisch an k. u. k. Dimensionen ausgerichtete Verleger Stocker aus Graz seit Jahren füllt. Es ist sehr verdienstvoll, Schätze wie den vom Hadschi Gajka zu heben und sie zudem mit einem Glossar zu versehen, das diese versunkene, pralle Welt aufzuschließen hilft.
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Borisav Stankovic: Hadschi Gajka verheiratet sein Mädchen. Roman, Graz: V. F. Sammler 2022. 215 S., 24 €
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