Dabei setzte er voraus, daß es einen Zusammenhang zwischen Leben und Werk gibt, was angesichts des Anspruchs zumindest eines Teils der Philosophie, generalisierbare Aussagen zu treffen, nicht ganz unumstritten ist. Der Lebensweg und das Alltagsleben sind individuelle Vorgänge, die völlig vom Leben der Mehrheit abweichen können. Was bei einem Künstler Voraussetzung für sein Schaffen ist, kann beim Philosophen schnell auf Abwege führen.
Daß dieser Schluß ein Vorurteil einer bestimmten Auffassung von Philosophie ist, will der Philosoph Raymond Geuss (geb. 1946) mit seiner philosophischen Autobiographie belegen. Er sieht gerade in den individuellen Voraussetzungen, den damit verbundenen Einseitigkeiten, den Splitter im Auge, der zum Vergrößerungsglas wird (Adorno). Geuss ist der Sohn eines katholischen Stahlarbeiters, der in einem katholischen Internat, das von aus Ungarn geflohenen Piaristenbrüdern betrieben wurde, in der Nähe von Philadelphia (Pennsylvania) zur Schule ging. Im Grunde liegt schon hier das Besondere: ein katholischer Junge in protestantischer Umgebung, der in einem Schutzraum erzogen wird, von Männern, für die der Liberalismus lebensgeschichtlich etwas völlig Fremdes war.
Durch die detailreiche Schilderung, mit der Geuss den Grundstein seines Denkens in der Erziehung durch diese Anstalt ausmacht, bekommt das Ganze die Qualität einer zweiten Geburt. Daher ist Geuss der Meinung, daß »das Aufwachsen als Mitglied einer gesellschaftlichen Untergruppe mit ihrer eigenen sehr verdichteten und in hohem Maße theoretisch durchdachten Geschichte und mit einer Erklärung dafür, wie sich diese Geschichte in die übrige Welt als Ganzes einfügt, einen kognitiven Vorteil verschaffen kann«.
Dieser Vorteil besteht in der grundsätzlichen Skepsis gegenüber den weltanschaulichen Grundlagen seiner Zeit, im Fall von Geuss: dem Liberalismus, dem er bescheinigt, eine sich als Antiideologie tarnende totale Weltanschauung zu sein. (Dabei ist zu beachten, daß die Ordensbrüder in ihrem eigentlichen Anliegen, aus ihrem Schüler einen guten Katholiken zu machen, versagt haben, denn Geuss ist Atheist.)
Da Geuss hervorragend Deutsch kann, besteht bei ihm keine Verwechslungsgefahr im Hinblick auf den Begriff des Liberalismus. Er meint damit die Auffassung vom souveränen Individuum, wie sie sich in den klassischen Schriften des Liberalismus findet, aus der schließlich die spezielle Mischung von Demokratie, Liberalismus und Kapitalismus hervorgegangen ist, die wir heute unter den Begriff »westliche Werte« fassen. Daß Geuss’ Kritik am Liberalismus von links kommt, wird durch seinen weiteren Bildungsweg deutlich. (Im Buch vermeidet Geuss das Rechts-links-Schema allerdings konsequent und hält sich an die konkreten Inhalte.)
Während seines Studiums wurde er von drei Professoren geprägt, die in Europa kaum jemand kennen dürfte. Daher tun die Namen hier nichts zur Sache, jedoch das, weshalb sie für Geuss zum Ereignis wurden. Gemeinsam war ihnen die linke Kritik am Liberalismus, die sich allerdings bei allen unterschiedlich äußerte: aktivistisch als libertaristischer Sozialismus, sophistisch als radikales Hinterfragen aller Gewißheiten und wissenschaftlich als detailverliebte Strukturgeschichte des Liberalismus. Als dritten Schritt der Persönlichkeitsbildung beschreibt Geuss schließlich einen Forschungsaufenthalt in Deutschland, den er eigentlich dem Studium Heideggers widmen wollte.
Daß er daran scheiterte, weil Heideggers Philosophie sich als ein »vollständig selbstgenügsames Universum« herausstellte, war für Geuss insofern ein Glücksfall, weil ihn dieses »Scheitern von Verständnis« nicht nur die Unmöglichkeit, jede Dunkelheit aufzuhellen, zeigte, sondern auch zu Adorno greifen ließ. Da Adorno Marxist war, mag das bei jemandem wie Geuss, der skeptisch gegenüber allen Weltanschauungen ist, überraschen. Aber Geuss geht es bei Adorno um die Liberalismuskritik, wie sie in den Minima Moralia entfaltet wird. Seither war es Geuss unmöglich, »selbst leicht abweichende Formen des Liberalismus« zu akzeptieren, zum Beispiel Habermas’ Version, die sich »auf einige besonders naive Ideen zur idealisierten freien Diskussion und auf eine barocke ›Konsens‹-Theorie stützt«.
Am Ende dieses Lebenswegs steht keine Alternative zum Liberalismus. Grundsätzlich warnt Geuss vor falschen Dichotomien, weil sie zu falschen Konsequenzen führen würden. Daß der Liberalismus falsch ist, zeigt er allerdings ziemlich genau anhand seines eigenen Lebensweges, der vielfach äußeren Anstößen folgte, die seiner ursprünglichen Absicht entgegenstanden. »In dem Maße, wie Menschen nicht immer die besten Kenner dessen sind, was sie wirklich wollen […], sind sie auch nicht die besten Kenner dessen, was in ihrem eigenen Interesse ist.«
Das ist eine bedenkenswerte Feststellung, die viele unangenehme Folgefragen aufwirft. Daß Geuss sie nicht stellt, liegt an seiner skeptischen Haltung gegenüber »Lösungen«. Und hier verbirgt sich vielleicht die wichtigste Erkenntnis dieses wichtigen Buches: In aussichtslosen Situationen gibt es keine Lösungen. Das mag für den liberalen Menschen ein Problem sein, der nichtliberale Mensch handelt auch, wenn es keine Hoffnung mehr gibt.
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Raymond Geuss: Nicht wie ein Liberaler denken, Berlin: Suhrkamp 2023. 268 S., 28 €
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