Raymond Geuss: Nicht wie ein Liberaler denken

Vor mehr als sechzig Jahren schrieb Wilhelm ­Weischedel seinen Bestseller Die philosophische Hintertreppe. Er versuchte darin, über den Zugang des unmittelbar Menschlichen, also Leben und Alltag, das Denken der großen Philosophen zugänglich zu machen.

Erik Lehnert

Erik Lehnert ist promovierter Philosoph.

Dabei setz­te er vor­aus, daß es einen Zusam­men­hang zwi­schen Leben und Werk gibt, was ange­sichts des Anspruchs zumin­dest eines Teils der Phi­lo­so­phie, gene­ra­li­sier­ba­re Aus­sa­gen zu tref­fen, nicht ganz unum­strit­ten ist. Der Lebens­weg und das All­tags­le­ben sind indi­vi­du­el­le Vor­gän­ge, die völ­lig vom Leben der Mehr­heit abwei­chen kön­nen. Was bei einem Künst­ler Vor­aus­set­zung für sein Schaf­fen ist, kann beim Phi­lo­so­phen schnell auf Abwe­ge führen.

Daß die­ser Schluß ein Vor­ur­teil einer bestimm­ten Auf­fas­sung von Phi­lo­so­phie ist, will der Phi­lo­soph ­Ray­mond Geuss (geb. 1946) mit sei­ner phi­lo­so­phi­schen Auto­bio­gra­phie bele­gen. Er sieht gera­de in den indi­vi­du­el­len Vor­aus­set­zun­gen, den damit ver­bun­de­nen Ein­sei­tig­kei­ten, den Split­ter im Auge, der zum Ver­grö­ße­rungs­glas wird (­Ador­no). Geuss ist der Sohn eines katho­li­schen Stahl­arbeiters, der in einem katho­li­schen Inter­nat, das von aus Ungarn geflo­he­nen Pia­ris­ten­brü­dern betrie­ben wur­de, in der Nähe von Phil­adel­phia (Penn­syl­va­nia) zur Schu­le ging. Im Grun­de liegt schon hier das Beson­de­re: ein katho­li­scher Jun­ge in pro­tes­tan­ti­scher Umge­bung, der in einem Schutz­raum erzo­gen wird, von Män­nern, für die der Libe­ra­lis­mus lebens­ge­schicht­lich etwas völ­lig Frem­des war.

Durch die detail­rei­che Schil­de­rung, mit der Geuss den Grund­stein sei­nes Den­kens in der Erzie­hung durch die­se Anstalt aus­macht, bekommt das Gan­ze die Qua­li­tät einer zwei­ten Geburt. Daher ist Geuss der Mei­nung, daß »das Auf­wach­sen als Mit­glied einer gesell­schaft­li­chen Unter­grup­pe mit ihrer eige­nen sehr ver­dich­te­ten und in hohem Maße theo­re­tisch durch­dach­ten Geschich­te und mit einer Erklä­rung dafür, wie sich die­se Geschich­te in die übri­ge Welt als Gan­zes ein­fügt, einen kogni­ti­ven Vor­teil ver­schaf­fen kann«.

Die­ser Vor­teil besteht in der grund­sätz­li­chen Skep­sis gegen­über den welt­an­schau­li­chen Grund­la­gen sei­ner Zeit, im Fall von Geuss: dem Libe­ra­lis­mus, dem er beschei­nigt, eine sich als Anti­ideo­lo­gie tar­nen­de tota­le Welt­an­schau­ung zu sein. (Dabei ist zu beach­ten, daß die Ordens­brü­der in ihrem eigent­li­chen Anlie­gen, aus ihrem Schü­ler einen guten Katho­li­ken zu machen, ver­sagt haben, denn Geuss ist Atheist.)

Da Geuss her­vor­ra­gend Deutsch kann, besteht bei ihm kei­ne Ver­wechs­lungs­ge­fahr im Hin­blick auf den Begriff des Libe­ra­lis­mus. Er meint damit die Auf­fas­sung vom sou­ve­rä­nen Indi­vi­du­um, wie sie sich in den klas­si­schen Schrif­ten des Libe­ra­lis­mus fin­det, aus der schließ­lich die spe­zi­el­le Mischung von Demo­kra­tie, Libe­ra­lis­mus und Kapi­ta­lis­mus her­vor­ge­gan­gen ist, die wir heu­te unter den Begriff »west­li­che Wer­te« fas­sen. Daß Geuss’ Kri­tik am Libe­ra­lis­mus von links kommt, wird durch sei­nen wei­te­ren Bil­dungs­weg deut­lich. (Im Buch ver­mei­det Geuss das Rechts-links-Sche­ma aller­dings kon­se­quent und hält sich an die kon­kre­ten Inhalte.)

Wäh­rend sei­nes Stu­di­ums wur­de er von drei Pro­fes­so­ren geprägt, die in Euro­pa kaum jemand ken­nen dürf­te. Daher tun die Namen hier nichts zur Sache, jedoch das, wes­halb sie für Geuss zum Ereig­nis wur­den. Gemein­sam war ihnen die lin­ke Kri­tik am Libe­ra­lis­mus, die sich aller­dings bei allen unter­schied­lich äußer­te: akti­vis­tisch als liber­ta­ris­ti­scher Sozia­lis­mus, sophis­tisch als radi­ka­les Hin­ter­fra­gen aller Gewiß­hei­ten und wis­sen­schaft­lich als detail­ver­lieb­te Struk­tur­ge­schich­te des Libe­ra­lis­mus. Als drit­ten Schritt der Per­sön­lich­keits­bil­dung beschreibt Geuss schließ­lich einen For­schungs­auf­ent­halt in Deutsch­land, den er eigent­lich dem Stu­di­um Heid­eg­gers wid­men wollte.

Daß er dar­an schei­ter­te, weil Heid­eg­gers Phi­lo­so­phie sich als ein »voll­stän­dig selbst­ge­nüg­sa­mes Uni­ver­sum« her­aus­stell­te, war für Geuss inso­fern ein Glücks­fall, weil ihn die­ses »Schei­tern von Ver­ständ­nis« nicht nur die Unmög­lich­keit, jede Dun­kel­heit auf­zu­hel­len, zeig­te, son­dern auch zu Ador­no grei­fen ließ. Da Ador­no Mar­xist war, mag das bei jeman­dem wie Geuss, der skep­tisch gegen­über allen Welt­an­schau­un­gen ist, über­ra­schen. Aber Geuss geht es bei Ador­no um die Libe­ra­lis­mus­kri­tik, wie sie in den Mini­ma Mora­lia ent­fal­tet wird. Seit­her war es Geuss unmög­lich, »selbst leicht abwei­chen­de For­men des Libe­ra­lis­mus« zu akzep­tie­ren, zum Bei­spiel ­Haber­mas’ Ver­si­on, die sich »auf eini­ge beson­ders nai­ve Ideen zur idea­li­sier­ten frei­en Dis­kus­si­on und auf eine baro­cke ›Konsens‹-Theorie stützt«.

Am Ende die­ses Lebens­wegs steht kei­ne Alter­na­ti­ve zum Libe­ra­lis­mus. Grund­sätz­lich warnt Geuss vor fal­schen Dicho­to­mien, weil sie zu fal­schen Kon­se­quen­zen füh­ren wür­den. Daß der Libe­ra­lis­mus falsch ist, zeigt er aller­dings ziem­lich genau anhand sei­nes eige­nen Lebens­we­ges, der viel­fach äuße­ren Anstö­ßen folg­te, die sei­ner ursprüng­li­chen Absicht ent­ge­gen­stan­den. »In dem Maße, wie Men­schen nicht immer die bes­ten Ken­ner des­sen sind, was sie wirk­lich wol­len […], sind sie auch nicht die bes­ten Ken­ner des­sen, was in ihrem eige­nen Inter­es­se ist.«

Das ist eine beden­kens­wer­te Fest­stel­lung, die vie­le unan­ge­neh­me Fol­ge­fra­gen auf­wirft. Daß Geuss sie nicht stellt, liegt an sei­ner skep­ti­schen Hal­tung gegen­über »Lösun­gen«. Und hier ver­birgt sich viel­leicht die wich­tigs­te Erkennt­nis die­ses wich­ti­gen Buches: In aus­sichts­lo­sen Situa­tio­nen gibt es kei­ne Lösun­gen. Das mag für den libe­ra­len Men­schen ein Pro­blem sein, der nicht­li­be­ra­le Mensch han­delt auch, wenn es kei­ne Hoff­nung mehr gibt.

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Ray­mond Geuss: Nicht wie ein Libe­ra­ler den­ken, Ber­lin: Suhr­kamp 2023. 268 S., 28 €

 

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Erik Lehnert

Erik Lehnert ist promovierter Philosoph.

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