Sylvain Tesson: Notre-Dame de Paris

Am 15. April 2019 brach in der Kathedrale Notre-Dame de Paris ein Großbrand aus.

Martin Lichtmesz

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

Der scho­ckie­ren­de, an ein sata­ni­sches Mene­te­kel gemah­nen­de Anblick die­ses in Flam­men ste­hen­den Monu­ments der fran­zö­si­schen, »abend­län­di­schen«, euro­päi­schen, ja mensch­heit­li­chen Geschich­te erschüt­ter­te auch vie­le hart­ge­sot­ten säku­la­re Her­zen, die wenigs­tens einen »kul­tu­rel­len« Ver­lust zu bekla­gen hat­ten. Noch tie­fer in der See­le getrof­fen wur­den all jene, die in Not­re-Dame ein sakra­les Zen­trum erbli­cken, das auch heu­te noch die Kraft hat, jene Men­schen, die dafür offen sind, mit höhe­ren, hei­li­gen Din­gen zu verbinden.

Zu die­sen gehört der Schrift­stel­ler Syl­vain Tes­son, ein Welt­rei­sen­der, Roman­ti­ker, Aben­teu­rer und »reak­tio­nä­rer« Freund und Geis­tes­ver­wand­ter Jean Ras­pails, der seit Jahr­zehn­ten eine inni­ge und unge­wöhn­li­che Bezie­hung zu der Kathe­dra­le pflegt: In sei­ner Jugend ver­schlang er nicht nur gie­rig eso­te­ri­sche Tex­te über die ver­bor­ge­nen Mys­te­ri­en der goti­schen Meis­ter­wer­ke Frank­reichs, son­dern er erklet­ter­te buch­stäb­lich ihre Fas­sa­den und »Gip­fel­wäl­der« in wag­hal­si­gen, ver­bo­te­nen Expe­di­tio­nen. Auf den Turm­spit­zen ange­langt, rezi­tier­ten ­Tes­son und sei­ne Spieß­ge­sel­len Gedich­te, etwa von Charles Péguy, dem gro­ßen Lob­sän­ger Char­tres’ und des mit­tel­al­ter­li­chen Katho­li­zis­mus. An die­sen akro­ba­ti­schen Erkun­dun­gen der Jah­re 1990 bis 2000 war jedoch nichts Despek­tier­li­ches oder »Situa­tio­nis­ti­sches«: »Rund hun­dert­fünf­zig­mal« sei er, so Tes­son, »auf Not­re-Dame geklet­tert, ohne das kleins­te Orna­ment zu beschä­di­gen, ohne Bögen oder Gesim­se zu lädie­ren, stets bemüht, kei­ne Spu­ren zu hinterlassen.«

Sei­ne Klet­ter­er­leb­nis­se führ­ten den Autor all­mäh­lich an das »Mys­te­ri­um« her­an, als des­sen »Wäch­ter« er schließ­lich die »Dach­rei­ter, Tür­me, Maß­werk­net­ze und Kreuz­blu­men« der erha­be­nen »Stein­schif­fe« erkann­te. Sie sind Gegen­stand des ers­ten von drei Essays, die in die­sem schma­len Bänd­chen ver­sam­melt sind, das sich als Lie­bes­er­klä­rung und Hom­mage an Not­re-Dame versteht.

Der zwei­te Text aus dem Jahr 2017 beschreibt, wie die Kathe­dra­le Tes­son »geret­tet« hat: Nach einem schwe­ren Sturz im Jahr 2015 rap­pel­te er sich wie­der auf, indem er »zum Auf­takt« sei­ner Reha »die Trep­pen der Tür­me erklomm«. Die erneu­te sinn­li­che Erfah­rung des Bau­werks, nun unter völ­lig ande­ren Umstän­den, wird für ihn zu einem Wald­gang, der See­le und Kör­per wie­der mit Ener­gie füllt. Ange­sichts der Tau­sen­den, Mil­lio­nen Fotos erzeu­gen­den Besu­cher der Kathe­dra­le, die stän­dig »ein Dis­play zwi­schen sich und die Welt hiel­ten«, packt ihn ein pro­fun­der Ekel vor den »vir­tu­el­len Illu­sio­nen«: »Bald wür­den wir uns in den Wald flüch­ten. Wir wären den Tie­ren, den Wäl­dern, der Freund­schaft, unse­ren Toten und unse­ren Büchern ver­bun­den. Von den Maschi­nen wären wir ent­bun­den. Wir wür­den Holz schla­gen, eimer­wei­se Wein trin­ken, mit­ein­an­der schla­fen, Gedich­te lesen. Wir wären leben­dig, end­lich offline.«

Auf dem Mys­te­ri­um aber las­te eine »schwe­re Decke«, ver­fes­tigt durch den »lai­zis­ti­schen Fluch« drei­er Jahr­hun­der­te, durch »kom­mer­zi­el­len Mate­ria­lis­mus und tech­no­iden Feti­schis­mus«. Den­noch »spru­delt die Quel­le noch immer«, und wer sich bemüht, wird sie fin­den und aus ihr trin­ken kön­nen. Tes­sons täg­li­che Geh­übun­gen auf den Wen­del­trep­pen ent­fal­ten schließ­lich eine »alchi­mis­ti­sche« Wir­kung: »Als pul­sier­ten das Mys­te­ri­um und die Macht Not­re-Dames in mei­nem Körper.«

Der letz­te Essay han­delt von der schmerz­haf­ten, ent­setz­li­chen Nacht, in der die Kathe­dra­le Feu­er fing. Für den rei­fen Tes­son ist sie nicht nur ein »Bau­werk«, son­dern »eine Kir­che, die kalk­stei­ner­ne Ver­kör­pe­rung des Wort Got­tes.« Doch wie hält er es mit dem Glau­ben? »Ich bin ein schlech­ter Christ«, bekennt er, »aber ich bin Christ. Ich bin in der Lie­be zu Chris­tus erzo­gen wor­den, ich habe mir mei­ne Ver­eh­rung der Chris­ten­heit bewahrt, bin aber skep­tisch geblie­ben in bezug auf das Chris­ten­tum, jene Kana­li­sie­rung der evan­ge­li­schen Quel­le. Den­noch waren mei­ne Erklet­te­run­gen ein Gebet. Auf den in Lee­re gehüll­ten und von der Nacht gesäum­ten Steil­hän­gen von Not­re-Dame war ich nie alleine.«

Als das Feu­er gelöscht war, war die Kathe­dra­le doch ste­hen­ge­blie­ben, trotz zahl­rei­cher schwe­rer Schä­den. Der uralte Dach­stuhl aus Eichen­holz, der Turm über der Vie­rung und Tei­le des Kreuz­rip­pen­ge­wöl­bes waren ein­ge­stürzt, aber die berühm­te Fens­ter­ro­se aus dem 13. Jahr­hun­dert war wie durch ein Wun­der voll­stän­dig erhal­ten geblie­ben. Ich hat­te nicht nur, aber ins­be­son­de­re an die Kathe­dra­len gedacht, als ich mei­nem eige­nen Buch Kann nur ein Gott uns ret­ten? einen Vers aus der Apos­tel­ge­schich­te vor­an­stell­te: »Tu dir kein Leid an, denn wir sind alle noch hier.« Ähn­li­chen Trost emp­fin­de ich, wenn ich mich ent­sin­ne, daß es noch Men­schen gibt, die wie Syl­vain Tes­son den­ken und fühlen.

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Syl­vain Tes­son:  Not­re-Dame de Paris. O Köni­gin der Schmer­zen, Ber­lin: Frie­de­nau­er Pres­se 2023. 64 S., 15 €

 

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Martin Lichtmesz

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

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