Der schockierende, an ein satanisches Menetekel gemahnende Anblick dieses in Flammen stehenden Monuments der französischen, »abendländischen«, europäischen, ja menschheitlichen Geschichte erschütterte auch viele hartgesotten säkulare Herzen, die wenigstens einen »kulturellen« Verlust zu beklagen hatten. Noch tiefer in der Seele getroffen wurden all jene, die in Notre-Dame ein sakrales Zentrum erblicken, das auch heute noch die Kraft hat, jene Menschen, die dafür offen sind, mit höheren, heiligen Dingen zu verbinden.
Zu diesen gehört der Schriftsteller Sylvain Tesson, ein Weltreisender, Romantiker, Abenteurer und »reaktionärer« Freund und Geistesverwandter Jean Raspails, der seit Jahrzehnten eine innige und ungewöhnliche Beziehung zu der Kathedrale pflegt: In seiner Jugend verschlang er nicht nur gierig esoterische Texte über die verborgenen Mysterien der gotischen Meisterwerke Frankreichs, sondern er erkletterte buchstäblich ihre Fassaden und »Gipfelwälder« in waghalsigen, verbotenen Expeditionen. Auf den Turmspitzen angelangt, rezitierten Tesson und seine Spießgesellen Gedichte, etwa von Charles Péguy, dem großen Lobsänger Chartres’ und des mittelalterlichen Katholizismus. An diesen akrobatischen Erkundungen der Jahre 1990 bis 2000 war jedoch nichts Despektierliches oder »Situationistisches«: »Rund hundertfünfzigmal« sei er, so Tesson, »auf Notre-Dame geklettert, ohne das kleinste Ornament zu beschädigen, ohne Bögen oder Gesimse zu lädieren, stets bemüht, keine Spuren zu hinterlassen.«
Seine Klettererlebnisse führten den Autor allmählich an das »Mysterium« heran, als dessen »Wächter« er schließlich die »Dachreiter, Türme, Maßwerknetze und Kreuzblumen« der erhabenen »Steinschiffe« erkannte. Sie sind Gegenstand des ersten von drei Essays, die in diesem schmalen Bändchen versammelt sind, das sich als Liebeserklärung und Hommage an Notre-Dame versteht.
Der zweite Text aus dem Jahr 2017 beschreibt, wie die Kathedrale Tesson »gerettet« hat: Nach einem schweren Sturz im Jahr 2015 rappelte er sich wieder auf, indem er »zum Auftakt« seiner Reha »die Treppen der Türme erklomm«. Die erneute sinnliche Erfahrung des Bauwerks, nun unter völlig anderen Umständen, wird für ihn zu einem Waldgang, der Seele und Körper wieder mit Energie füllt. Angesichts der Tausenden, Millionen Fotos erzeugenden Besucher der Kathedrale, die ständig »ein Display zwischen sich und die Welt hielten«, packt ihn ein profunder Ekel vor den »virtuellen Illusionen«: »Bald würden wir uns in den Wald flüchten. Wir wären den Tieren, den Wäldern, der Freundschaft, unseren Toten und unseren Büchern verbunden. Von den Maschinen wären wir entbunden. Wir würden Holz schlagen, eimerweise Wein trinken, miteinander schlafen, Gedichte lesen. Wir wären lebendig, endlich offline.«
Auf dem Mysterium aber laste eine »schwere Decke«, verfestigt durch den »laizistischen Fluch« dreier Jahrhunderte, durch »kommerziellen Materialismus und technoiden Fetischismus«. Dennoch »sprudelt die Quelle noch immer«, und wer sich bemüht, wird sie finden und aus ihr trinken können. Tessons tägliche Gehübungen auf den Wendeltreppen entfalten schließlich eine »alchimistische« Wirkung: »Als pulsierten das Mysterium und die Macht Notre-Dames in meinem Körper.«
Der letzte Essay handelt von der schmerzhaften, entsetzlichen Nacht, in der die Kathedrale Feuer fing. Für den reifen Tesson ist sie nicht nur ein »Bauwerk«, sondern »eine Kirche, die kalksteinerne Verkörperung des Wort Gottes.« Doch wie hält er es mit dem Glauben? »Ich bin ein schlechter Christ«, bekennt er, »aber ich bin Christ. Ich bin in der Liebe zu Christus erzogen worden, ich habe mir meine Verehrung der Christenheit bewahrt, bin aber skeptisch geblieben in bezug auf das Christentum, jene Kanalisierung der evangelischen Quelle. Dennoch waren meine Erkletterungen ein Gebet. Auf den in Leere gehüllten und von der Nacht gesäumten Steilhängen von Notre-Dame war ich nie alleine.«
Als das Feuer gelöscht war, war die Kathedrale doch stehengeblieben, trotz zahlreicher schwerer Schäden. Der uralte Dachstuhl aus Eichenholz, der Turm über der Vierung und Teile des Kreuzrippengewölbes waren eingestürzt, aber die berühmte Fensterrose aus dem 13. Jahrhundert war wie durch ein Wunder vollständig erhalten geblieben. Ich hatte nicht nur, aber insbesondere an die Kathedralen gedacht, als ich meinem eigenen Buch Kann nur ein Gott uns retten? einen Vers aus der Apostelgeschichte voranstellte: »Tu dir kein Leid an, denn wir sind alle noch hier.« Ähnlichen Trost empfinde ich, wenn ich mich entsinne, daß es noch Menschen gibt, die wie Sylvain Tesson denken und fühlen.
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Sylvain Tesson: Notre-Dame de Paris. O Königin der Schmerzen, Berlin: Friedenauer Presse 2023. 64 S., 15 €
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