Manfred Görtemaker: Rudolf Heß. Der Stellvertreter

-- von Karl Sternau

Manfred Görtemaker, emeritierter Professor für Geschichte des 19. / 20. Jahrhunderts der Universität Potsdam, kann die bestehende Forschungslücke zu Hitlers Stellvertreter vor allem dadurch schließen, daß er erstmals die komplette persönliche Korrespondenz von Heß sowie die bis 2017 gesperrten britischen Akten ausgewertet hat.

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Mit die­sen neu­en Quel­len kann er die The­se, daß Heß vom bri­ti­schen MI5 bewußt nach Groß­bri­tan­ni­en gelockt wor­den sei, end­gül­tig wider­le­gen. Die bei­den gro­ßen Fra­gen, die der Autor in der Ein­lei­tung stellt, wer­den nega­tiv beant­wor­tet. So war ers­tens ­Hit­ler über den Ver­such, durch einen Flug zu Dou­glas Dou­glas-­Ha­mil­ton, dem 14. Duke of Hamil­ton, einen Frie­den mit Groß­bri­tan­ni­en zu errei­chen, nicht ein­ge­weiht. Dies zeig­te sich vor allem durch die – in zahl­rei­chen Erin­ne­run­gen beleg­te – Reak­ti­on des »Füh­rers«, als er Heß’ Abschieds­brief las.

Zwei­tens spre­chen die Akten und Obduk­ti­ons­be­rich­te für einen Sui­zid des 93jährigen Heß im Jahr 1987. Auf die kör­per­li­chen Gebre­chen geht Gör­tema­ker nicht wei­ter ein, son­dern betont, daß es bereits vier Selbst­mord­ver­su­che von Heß gege­ben hat­te und der Pfle­ger Abdal­lah Melaouhi, der neben dem Sohn Wolf Rüdi­ger Heß die Mord­the­se auf­stell­te, erst spä­ter vor Ort war.

Eine Stär­ke der Bio­gra­phie liegt vor allem in der Dar­stel­lung bis 1933. Rudolf Heß (im Buch ohne Begrün­dung immer »Hess« geschrie­ben) wur­de in Alex­an­dria gebo­ren und soll­te als Kauf­mann in die Fuß­stap­fen sei­nes Vaters tre­ten, des Lei­ters der in Ägyp­ten akti­ven »Import­fir­ma Heß & Co.« Es kam aber wegen des Ers­ten Welt­kriegs, für den sich Heß frei­wil­lig mel­de­te, anders.

Im Krieg wur­de er mehr­fach ver­wun­det und am Ende zum Flie­ger aus­ge­bil­det. Gera­de in den zahl­rei­chen über­lie­fer­ten Brie­fen – vor allem an sei­ne Mut­ter Kla­ra – kann man schön erken­nen, wie Heß durch die unbe­greif­li­che Nie­der­la­ge erst zur Thu­le-Gesell­schaft und den Frei­korps fand und spä­ter zur jun­gen NS-Bewe­gung. Früh lern­te er Hit­ler ken­nen und sah in ihm den künf­ti­gen »Füh­rer« Deutsch­lands. Obwohl er auch Kri­tik­punk­te an Hit­ler aus­mach­te und die­se vor­brach­te, blieb er ihm stets treu erge­ben. Nach dem geschei­ter­ten Putsch vom 9. Novem­ber 1923 saß er mit Hit­ler in Haft. Ent­ge­gen häu­fi­gen Behaup­tun­gen hat Heß Hit­ler weder beim ers­ten noch beim zwei­ten Band von Mein Kampf nen­nens­wert unter­stützt. An des­sen Kanz­ler­schaft 1933 hat­te er jedoch einen wich­ti­gen Anteil, indem er den Kon­takt zu Franz von Papen her­stell­te und so die Macht­über­nah­me ermöglichte.

In den Kapi­teln über das Drit­te Reich zeigt Gör­tema­ker zwar auf, wie Heß einen gro­ßen Appa­rat in Par­tei und Staat auf­bau­te und wel­che Macht die­ser theo­re­tisch besaß, kann aber weni­ge Schlüs­sel­er­eig­nis­se, wie etwa die Nürn­ber­ger Geset­ze, benen­nen, bei denen Heß eine gewich­ti­ge Rol­le spiel­te. So war er weder beim Röhm-Putsch noch bei Hit­lers offen­si­ver Außen­po­li­tik ein Akteur. Obwohl der Ver­fas­ser dar­le­gen will, daß der Ein­fluß von Heß »bis heu­te oft unter­schätzt wird«, gelingt es ihm nicht wirk­lich, Heß’ Wir­ken in den Mit­tel­punkt zu stellen.

Statt des­sen schil­dert der Autor aus­führ­lich die poli­ti­schen Ereig­nis­se zwi­schen 1933 und 1939, in denen der »Stell­ver­tre­ter des Füh­rers« fast nicht erwähnt wird. Gör­tema­ker cha­rak­te­ri­siert Heß als »inte­ger, beschei­den und peni­bel kor­rekt« und als jeman­den, der im Gegen­satz zu ande­ren NS-Grö­ßen nicht kor­rupt und gie­rig war. Gegen­über Hit­ler war er voll­kom­men loy­al, obwohl er des­sen Außen­po­li­tik als zu ris­kant ansah. Heß, der häu­fig im Kon­takt zu Karl Haus­ho­fer und des­sen Sohn Albrecht stand, erkann­te, daß ein neu­er Zwei-Fron­ten-Krieg wie­der nicht gewon­nen wer­den kön­ne. Als der Angriff auf die Sowjet­uni­on geplant wur­de, muß­te in sei­nen Augen unbe­dingt mit dem bri­ti­schen Empire Frie­den geschlos­sen werden.

Bereits im Sep­tem­ber 1940 plan­te Heß daher sei­nen wag­hal­si­gen Flug nach Schott­land. Drei­mal ab Novem­ber 1940 muß­te er Flü­ge wegen Pro­ble­men abbre­chen. Erst im Mai 1941 gelang das Unter­neh­men, das er sehr detail­liert geplant, dabei aber sei­nen Ein­fluß und den des 14. Duke of Hamil­ton maß­los über­schätzt hat­te. Eine Ver­bin­dung zu Hamil­ton über ein Tref­fen im neu­tra­len Lis­sa­bon mit Albrecht Haus­ho­fer hat­te sich im Vor­feld des Flu­ges in den Augen von Heß zu lan­ge ver­zö­gert. Hamil­ton wur­de vom MI5 zwar auf­ge­for­dert, nach Por­tu­gal zu rei­sen, war­te­te aber die Auto­ri­sie­rung der bri­ti­schen Regie­rung ab.

Die NS-Füh­rung erklär­te Heß, der fort­an in bri­ti­scher Haft saß, anschlie­ßend für ver­rückt, und sein Nach­fol­ger Mar­tin Bor­mann ver­such­te jede Erin­ne­rung an ihn zu til­gen. Der Ver­fas­ser attes­tiert Heß eine »schi­zo­ide Stö­rung«, betont aber an ande­rer Stel­le plau­si­bel, daß sei­ne Gedächt­nis­ver­lus­te und wei­te­ren gesund­heit­li­chen Kla­gen ver­mut­lich »bewußt insze­niert« waren, um eine Repa­tri­ie­rung nach Deutsch­land zu erzwin­gen. Die­ses Unter­fan­gen war natür­lich aus­sichts­los, und er wur­de bekann­ter­ma­ßen in Nürn­berg zu lebens­lan­ger Haft ver­ur­teilt. Ob Heß – wäre er im Deut­schen Reich geblie­ben – gehängt wor­den wäre, ist eine streit­ba­re Schluß­the­se des Autors.

Ins­ge­samt legt Gör­tema­ker eine gut geschrie­be­ne, fun­dier­te Bio­gra­phie über Heß vor, die aber an vie­len Stel­len zu aus­führ­lich ist und oft mehr die Geschich­te des Natio­nal­so­zia­lis­mus sowie zahl­rei­cher ande­rer Prot­ago­nis­ten in den Vor­der­grund stellt.

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Man­fred Gör­tema­ker: Rudolf Heß. Der Stell­ver­tre­ter. Eine Bio­gra­phie, Mün­chen: C. H. Beck 2023. 758 S., 38 €

 

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