Mit diesen neuen Quellen kann er die These, daß Heß vom britischen MI5 bewußt nach Großbritannien gelockt worden sei, endgültig widerlegen. Die beiden großen Fragen, die der Autor in der Einleitung stellt, werden negativ beantwortet. So war erstens Hitler über den Versuch, durch einen Flug zu Douglas Douglas-Hamilton, dem 14. Duke of Hamilton, einen Frieden mit Großbritannien zu erreichen, nicht eingeweiht. Dies zeigte sich vor allem durch die – in zahlreichen Erinnerungen belegte – Reaktion des »Führers«, als er Heß’ Abschiedsbrief las.
Zweitens sprechen die Akten und Obduktionsberichte für einen Suizid des 93jährigen Heß im Jahr 1987. Auf die körperlichen Gebrechen geht Görtemaker nicht weiter ein, sondern betont, daß es bereits vier Selbstmordversuche von Heß gegeben hatte und der Pfleger Abdallah Melaouhi, der neben dem Sohn Wolf Rüdiger Heß die Mordthese aufstellte, erst später vor Ort war.
Eine Stärke der Biographie liegt vor allem in der Darstellung bis 1933. Rudolf Heß (im Buch ohne Begründung immer »Hess« geschrieben) wurde in Alexandria geboren und sollte als Kaufmann in die Fußstapfen seines Vaters treten, des Leiters der in Ägypten aktiven »Importfirma Heß & Co.« Es kam aber wegen des Ersten Weltkriegs, für den sich Heß freiwillig meldete, anders.
Im Krieg wurde er mehrfach verwundet und am Ende zum Flieger ausgebildet. Gerade in den zahlreichen überlieferten Briefen – vor allem an seine Mutter Klara – kann man schön erkennen, wie Heß durch die unbegreifliche Niederlage erst zur Thule-Gesellschaft und den Freikorps fand und später zur jungen NS-Bewegung. Früh lernte er Hitler kennen und sah in ihm den künftigen »Führer« Deutschlands. Obwohl er auch Kritikpunkte an Hitler ausmachte und diese vorbrachte, blieb er ihm stets treu ergeben. Nach dem gescheiterten Putsch vom 9. November 1923 saß er mit Hitler in Haft. Entgegen häufigen Behauptungen hat Heß Hitler weder beim ersten noch beim zweiten Band von Mein Kampf nennenswert unterstützt. An dessen Kanzlerschaft 1933 hatte er jedoch einen wichtigen Anteil, indem er den Kontakt zu Franz von Papen herstellte und so die Machtübernahme ermöglichte.
In den Kapiteln über das Dritte Reich zeigt Görtemaker zwar auf, wie Heß einen großen Apparat in Partei und Staat aufbaute und welche Macht dieser theoretisch besaß, kann aber wenige Schlüsselereignisse, wie etwa die Nürnberger Gesetze, benennen, bei denen Heß eine gewichtige Rolle spielte. So war er weder beim Röhm-Putsch noch bei Hitlers offensiver Außenpolitik ein Akteur. Obwohl der Verfasser darlegen will, daß der Einfluß von Heß »bis heute oft unterschätzt wird«, gelingt es ihm nicht wirklich, Heß’ Wirken in den Mittelpunkt zu stellen.
Statt dessen schildert der Autor ausführlich die politischen Ereignisse zwischen 1933 und 1939, in denen der »Stellvertreter des Führers« fast nicht erwähnt wird. Görtemaker charakterisiert Heß als »integer, bescheiden und penibel korrekt« und als jemanden, der im Gegensatz zu anderen NS-Größen nicht korrupt und gierig war. Gegenüber Hitler war er vollkommen loyal, obwohl er dessen Außenpolitik als zu riskant ansah. Heß, der häufig im Kontakt zu Karl Haushofer und dessen Sohn Albrecht stand, erkannte, daß ein neuer Zwei-Fronten-Krieg wieder nicht gewonnen werden könne. Als der Angriff auf die Sowjetunion geplant wurde, mußte in seinen Augen unbedingt mit dem britischen Empire Frieden geschlossen werden.
Bereits im September 1940 plante Heß daher seinen waghalsigen Flug nach Schottland. Dreimal ab November 1940 mußte er Flüge wegen Problemen abbrechen. Erst im Mai 1941 gelang das Unternehmen, das er sehr detailliert geplant, dabei aber seinen Einfluß und den des 14. Duke of Hamilton maßlos überschätzt hatte. Eine Verbindung zu Hamilton über ein Treffen im neutralen Lissabon mit Albrecht Haushofer hatte sich im Vorfeld des Fluges in den Augen von Heß zu lange verzögert. Hamilton wurde vom MI5 zwar aufgefordert, nach Portugal zu reisen, wartete aber die Autorisierung der britischen Regierung ab.
Die NS-Führung erklärte Heß, der fortan in britischer Haft saß, anschließend für verrückt, und sein Nachfolger Martin Bormann versuchte jede Erinnerung an ihn zu tilgen. Der Verfasser attestiert Heß eine »schizoide Störung«, betont aber an anderer Stelle plausibel, daß seine Gedächtnisverluste und weiteren gesundheitlichen Klagen vermutlich »bewußt inszeniert« waren, um eine Repatriierung nach Deutschland zu erzwingen. Dieses Unterfangen war natürlich aussichtslos, und er wurde bekanntermaßen in Nürnberg zu lebenslanger Haft verurteilt. Ob Heß – wäre er im Deutschen Reich geblieben – gehängt worden wäre, ist eine streitbare Schlußthese des Autors.
Insgesamt legt Görtemaker eine gut geschriebene, fundierte Biographie über Heß vor, die aber an vielen Stellen zu ausführlich ist und oft mehr die Geschichte des Nationalsozialismus sowie zahlreicher anderer Protagonisten in den Vordergrund stellt.
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Manfred Görtemaker: Rudolf Heß. Der Stellvertreter. Eine Biographie, München: C. H. Beck 2023. 758 S., 38 €
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