Antony Beevor: Rußland

-- von Stefan Scheil

Der Historiker hat zwei Pflichten: Einmal, um der Wahrheit willen nach bestem Wissen und Gewissen zu ermitteln, was früher einmal geschehen sein könnte.

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Und dann zum zwei­ten, um des Lesers wil­len fest­zu­le­gen, was gesche­hen ist. Die­se Fest­stel­lung geht auf Goe­the zurück, aber sie hat natür­lich nichts an Aktua­li­tät ver­lo­ren. Aus der Fül­le an bekann­ten Ereig­nis­sen muß jeder His­to­ri­ker eine nach sei­nen Prä­mis­sen kom­pri­mier­te Geschich­te erkenn­bar wer­den las­sen. Oder er bleibt nur der Samm­ler von Daten, die dann her­um­lie­gen, bis ein voll­stän­dig arbei­ten­der His­to­ri­ker sie aufgreift.

Der bekann­te und viel­ge­le­se­ne His­to­ri­ker­kol­le­ge Ant­o­ny Bee­vor inter­pre­tiert die rus­si­sche Geschich­te der Jah­re 1917 bis 1921 als unkon­trol­lier­te Gewalt­ex­plo­si­on, wäh­rend der sich kei­ne beson­de­re und für den His­to­ri­ker beschreib­ba­re Struk­tur erge­ben hat. So herrscht in sei­ner Dar­stel­lung denn vor allem bru­ta­les Cha­os. Es wird auf fast jeder Sei­te erschos­sen, hin­ge­rich­tet, ertränkt, erhängt, ver­lust­reich gekämpft, ermor­det, erfro­ren, ver­hun­gert, an Ver­nach­läs­si­gung gestor­ben und was sonst noch an Todes­ur­sa­chen vor­kom­men kann. Dies alles jeweils in gro­ßem Umfang. Unzäh­li­ge Per­so­nen tau­chen auf, wer­den kurz nach Aus­se­hen und Cha­rak­ter beschrie­ben und dann abge­hakt. Ein paar Sei­ten spä­ter sind sie meis­tens tot. Auf­tre­ten­de Pro­mi­nen­te mit län­ge­rer Über­le­bens­dau­er bekom­men manch­mal durch­aus ori­gi­nel­le Attri­bu­te ver­paßt. Aus Leo Trotz­ki wird zum Bei­spiel eine »gebo­re­ne Rampensau«.

Auch die poli­ti­schen und mili­tä­ri­schen Kon­stel­la­tio­nen wäh­rend des Bür­ger­krie­ges wech­seln häu­fig. Es kämpft nicht nur Rot gegen Weiß, unter Betei­li­gung bri­ti­scher und japa­ni­scher Kon­tin­gen­te. Betei­ligt sind auch die tsche­chi­schen und pol­ni­schen Legio­nen in Sibi­ri­en, die Natio­na­li­tä­ten im Ost­see­raum und im Kau­ka­sus. Kosa­ken­ein­hei­ten fin­den sich auf allen Sei­ten und als ein­zel­ne Trup­pen­tei­le von meh­re­ren tau­send Mann in rasch wech­seln­der Zusam­men­set­zung und unter mehr oder weni­ger cha­ris­ma­ti­schen Offi­zie­ren. Bei denen ist dann oft nicht klar, ob und auf wel­cher Sei­te sie an wel­chem Tag kämp­fen, oder ob der Zweck der Sache für sie vor allem die per­sön­li­che Berei­che­rung gewe­sen ist. Alle Sei­ten geben im übri­gen ihrer Juden­feind­lich­keit immer wie­der frei­en Lauf. Bee­vor schil­dert zahl­rei­che Pogro­me und Hinrichtungen.

Als wei­te­rer Umstand herrscht bei Bee­vor auch auf allen Sei­ten die Unge­wiß­heit vor. Nach­rich­ten schei­nen sich im revo­lu­tio­nä­ren Ruß­land nur äußerst lang­sam her­um­ge­spro­chen zu haben. Es ist den Akteu­ren oft nicht bekannt, wo der Geg­ner gera­de steht, weder von sei­ner Gesin­nung noch von sei­nem Auf­ent­halts­ort her. Poli­ti­sche Hin­ter­grund­ge­schich­te streift Bee­vor dabei nur. Den finan­zi­el­len Bei­trag des Deut­schen Kai­ser­reichs zur Okto­ber­re­vo­lu­ti­on von 1917 erwähnt er kurz, den Bei­trag ame­ri­ka­ni­scher Finanz­quel­len zur Kar­rie­re von Leo Trotz­ki nicht.

Den Aus­bruch des Ers­ten Welt­kriegs han­delt er auf kaum einer Sei­te ab. Sinn­ge­mäß ist für ihn der rus­si­sche Außen­mi­nis­ter Saso­now wesent­lich ver­ant­wort­lich. Der sei über die schlech­te Behand­lung Ruß­lands durch Öster­reich und Deutsch­land im Ers­ten Bal­kan­krieg empört gewe­sen. Daher habe er nach dem Atten­tat von Sara­je­wo 1914 die rus­si­sche Armee in den Kriegs­zu­stand ver­set­zen las­sen und den Zaren zur Mobil­ma­chung über­re­det. Den Rest­bei­trag hät­ten die Deut­schen geleis­tet, als sie dann die gegen­über Ser­bi­en kriegs­lus­ti­gen Öster­rei­cher nicht genü­gend auf­ge­hal­ten hätten.

Der Ver­lag preist das Buch als »beklem­mend aktu­ell« und zitiert im Klap­pen­text Rezen­sio­nen, die von »einer schmerz­li­chen Lek­ti­on für die Gegen­wart« spre­chen. Ant­o­ny ­Bee­vor erhebt die­sen Anspruch im Buch nicht. Es ist auch nicht zu sehen, wor­in eine Lek­ti­on aus die­sen dama­li­gen rus­si­schen Zustän­den zu sehen wäre. Dazu bleibt die Dar­stel­lung zu anek­do­tisch. Viel­leicht könn­te man aus dem zwei­ma­li­gen Zusam­men­bruch der rus­sisch-sowjet­rus­si­schen Macht in den Jah­ren 1917/18 und 1989/91 nebst jeweils fol­gen­dem Cha­os und eben­falls schnell fol­gen­dem macht­po­li­ti­schen Wie­der­auf­stieg auf deren Zähig­keit schlie­ßen. Aber dies ist nichts, was Bee­vor tat­säch­lich anbie­tet, und sei es nur »um des Lesers willen«.

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Ant­o­ny Bee­vor: Ruß­land. Revo­lu­ti­on und ­Bür­ger­krieg 1917 – 1921, Mün­chen: C. Ber­tels­mann 2023. 672 S., 40 €

 

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