Klaus Heinrich: ursprung in actu

-- von Jörg Seidel

Was, wenn man mit Hilfe einer ausgefeilten Technik jene Schallwellen zurückholen könnte, die einst Sokrates in den Äther gesprochen hatte?

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Dies ist nun beim »Sokra­tes von Ber­lin« – so nann­te man den Phi­lo­so­phen und Reli­gi­ons­wis­sen­schaft­ler Klaus Hein­rich (gest. 2020) – gelun­gen, indem gehei­me Ton­band­auf­nah­men tran­skri­biert und in einer vor­bild­li­chen Edi­ti­on des ça-ira-Ver­la­ges les­bar gemacht wur­den. Soeben erschien der ers­te Band einer »Neu­en Fol­ge« der Dah­le­mer Vor­le­sun­gen, in dem sich der ori­gi­nel­le Den­ker Heid­eg­gers soge­nann­tes zwei­tes Haupt­werk Vom Ereig­nis – das erst post­hum 1989 erschien – zur Brust nimmt.

Hein­rich war Peri­pa­teti­ker und Advo­kat des münd­lich wei­ter­ge­ge­be­nen Den­kens, sein bis­lang vor­lie­gen­des Werk ist über­schau­bar. Er hielt sei­ne »Vor­le­sun­gen« frei und unun­ter­bro­chen hin- und her­lau­fend; damit schuf er sich einen klei­nen Schü­ler­kreis und eine gro­ße Fama. Die Dah­le­mer Vor­le­sun­gen sind – wie man hört – auf 40 Bän­de ver­an­schlagt: hier gibt es wirk­lich was zu entdecken.

Der Heid­eg­ger-Band ist dop­pelt fas­zi­nie­rend. Zum einen wird uns Heid­eg­ger als adven­tis­ti­scher Den­ker, als Pro­phet einer Onto­lo­gie neu­en Typs vor­ge­stellt, der ein über die eigen­ar­ti­ge Spra­che ver­mit­tel­tes Über­bie­tungs­den­ken gesell­schafts­fä­hig machen woll­te, das just – so Hein­rich – den natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Zeit­geist reprä­sen­tie­re und zugleich über­bie­te. So ähnelt Hein­richs Befund zwar äußer­lich jenen Invek­ti­ven, an die man sich nach Farí­as und Faye gewöhnt hat, doch ist er voll­kom­men unab­hän­gig und der eige­nen Lek­tü­re entsprungen.

Die Über­bie­tung kon­tras­tie­re mit einer bis dato nie gese­he­nen Regres­si­on, dem »Rück­wach­sen in die Wur­zel«, also ins Sein hin­ein, und zwar durch das »Opfer des Sei­en­den«. Heid­eg­ger den­ke nicht über das Ereig­nis, son­dern vom Ereig­nis her, als sein Spre­cher, sein »Andenken« sei ein Hin­an­denken und damit kön­ne er den Anspruch erhe­ben, den »Ursprung in actu« denk­bar gemacht zu haben. Sei­ne Spra­che sei dabei eine Mys­te­ri­en­spra­che, aber auch eine aus der Phä­no­me­no­lo­gie ent­nom­me­ne und jene ein­mal mehr über­bie­ten­de Büro­kra­tie­spra­che. Damit habe er die Fun­da­men­te des NS »tie­fer legen« wol­len, aber man habe ihn nicht erkannt, und er floh in die inne­re Emi­gra­ti­on, arbei­te­te aber wei­ter an sei­nem Pro­jekt – Vom Ereig­nis, 1936 ent­stan­den, sei der schla­gen­de Beweis.

Man gelangt tief in die text­ba­sier­te Hei­de­g­­ger-Exege­se hin­ein, und auch wenn Hein­rich nicht heid­eg­gert, ist sei­nen asso­zia­ti­ven, laby­rin­thi­schen Denk­gän­gen ohne Kon­zen­tra­ti­on nicht immer leicht zu fol­gen, ande­rer­seits hilft die akku­ra­te Wie­der­ga­be des münd­li­chen Vor­trags, die auf spä­te­re Glät­tun­gen ver­zich­tet, der Ver­ständ­lich­keit. Man kann den Text auch 35 Jah­re spä­ter als aktu­el­len lesen, wenn man bereit ist, von den nament­li­chen Akzi­denzi­en – Hein­rich stellt Heid­eg­ger in eine lan­ge Rei­he von Kon­tra­hen­ten – abzu­se­hen und das Struk­tu­rel­le zu erkennen.

So taugt die Vor­le­sung auch zu einer Ein­füh­rung in Hein­richs Den­ken, denn es tau­chen die Zen­tral­be­grif­fe sei­ner Phi­lo­so­phie auf, und die­se lesen sich mit­un­ter hoch aktu­ell, wenn man sie denn gegen den Strich liest. Begrif­fe wie »Sog« und »Sucht«, die Hein­richs Den­ken seit sei­ner Dis­ser­ta­ti­on Ver­such über die Schwie­rig­keit nein zu sagen (1964) beglei­ten, oder »Balan­ce«, »Bünd­nis«, »Ver­kör­pe­rung« usw. fin­den auch bei der Heid­eg­ger-Lek­tü­re ihre Anwen­dung und in his­to­risch selt­sam ver­dreh­ten Zei­ten eine aktu­el­le Bedeu­tung, die dem links­dre­hen­den Anfangs­impuls widerspricht.

Es kann sich also für den phi­lo­so­phisch Inter­es­sier­ten loh­nen, einen nähe­ren Blick in Hein­richs Gesamt­werk zu wer­fen, sich in die­ses Den­ken in actu ein­zu­den­ken. Hein­rich schrieb schon Mit­te der 1960er Jah­re: »Nur wem es gelingt, in der zer­stö­re­ri­schen Bewe­gung selbst den Wider­stand zu fin­den, den er der Zer­stö­rung ent­ge­gen­setzt, wird sich in dem Sog behaup­ten kön­nen, der auch die ohn­mäch­ti­gen Pro­tes­te gegen ein­zel­ne Aktio­nen der Zer­stö­rung erfaßt. Sei­ne Schwie­rig­keit ist nicht, die rich­ti­gen Bun­des­ge­nos­sen zu fin­den an Stel­le der fal­schen, son­dern jetzt: die rich­ti­gen zu fin­den in den falschen.

Nein­sa­gen ist schwie­rig, denn es ist ein Pro­test gegen Selbst­zer­stö­rung, der den Pro­tes­tie­ren­den selbst mit Zer­stö­rung bedroht, und Angst der Selbst­zer­stö­rung – auch dann, wenn der sich Ängs­ti­gen­de sich durch die eige­ne Zer­stö­rung von der Angst zu befrei­en ver­sucht – ist die gro­ße Angst unse­rer Zeit.«

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Klaus Hein­rich: ursprung in actu. Zur Rekul­ti­fi­zie­rung des Den­kens in Mar­tin Heid­eg­gers »Bei­trä­ge zur Phi­lo­so­phie (Vom Ereig­nis)« (= Dah­le­mer Vor­le­sun­gen; Neue Fol­ge 1), Frei­burg i. Br.: ça ira 2023. 304 S., 34 €

 

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