Zwar: der Nietzsche-Kenner weiß um (fast) alle, dem Nietzsche-Anfänger wären als Propädeutikum womöglich zunächst andere Schriften zu empfehlen, ad fontes! Insofern ist dies ein Liebhaberbuch und eines zum Schmökern. Autor Elmar Schenkel ist (jüngst emeritierter) Professor für britische Literatur und lesbar Nietzsche-Aficionado, er arbeitet gelegentlich als Museumswärter und Grabwächter an Nietzsches Geburts- und Begräbnisstätte in Röcken. (Daß Nietzsche Sachse war, Röcken heute aber sachsen-anhaltisches Gefilde ist, unser Nachbarkreis!, findet hier keine Erwähnung.)
Elmar Schenkel hat tolle Dinge aufgetan – wohl am bedeutsamsten sind die vielen, wenig bekannten Fotografien und ihre Einordnung. Das Paraguay-Abenteuer von Nietzsches antisemitischer Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche dürfte geläufig sein, Schenkel bringt hierzu interessante Details zutage: Relikte der gescheiterten, nur angeblich alkoholabstinenten und vegetarischen Kolonie »Nueva Germania« gibt es bis heute – nur seien diese Möchtegern-Arier heute längst von Inzucht gezeichnet. Tatsächlich gibt es im ehemaligen Siedlungsbiet der Nietzscheschwester noch heute eine Straße, die nach »Elizabeth Nigtz-Chen« benannt ist!
Hübsch ist der Hinweis, daß Nietzsche, früh schwer sehbehindert, einer der ersten Nutzer der frischerfundenen »Schreibkugel«, einer Schreibmaschine in Igelform, war. Und wie sehr er sich, avant la lettre, nach Podcasts sehnte! »Vorlesemenschen«, quasi »live«, waren ihm hingegen ein Graus.
Nietzsche war »Portenser«, also Schüler des Eliteinternats Schulpforta bei Naumburg. Schenkel überliefert niedliche Korrespondenzen aus dieser Zeit: Der künftige Philosoph bittet »um Erlaubniß sich einen Krug anschaffen zu dürfen«, »sich ein Religionsheft [ausgerechnet!] anschaffen zu dürfen«, eine Badehose, zwei Portionen Zucker usw. Als einmal ein Zirkus in Naumburg tagte, befahl der Zirkusdirektor dem Pferdchen, sich »vor dem fleißigsten und klügsten Schüler« zu verneigen. Natürlich war dies Friedrich (und wir alle wissen um seine spätere Beziehung zu Pferden) sehr peinlich.
Interessant sind auch die Geschichten, die Schenkel als zeitweiliger Gedenkstättenwärter vorbringen kann: Er fand dort »Steinchen von jüdischen Besuchern«, zudem »ein Kondom«. Einmal, Neujahrsmorgen, lag »ein Japaner auf dem Grab«. »Rechte« Besucher gebe es auch. Die Rede geht von klandestin angebrachten Runen (glaubhaft) und davon, wie die Frau an der Kasse einmal eine freche Gruppe »Identitärer« abgefertigt habe (wenig glaubhaft oder schlecht erzählt).
Wir haben es hier mit einer wirklich liebenswerten Schrift zu tun, die weder verdammt noch verherrlicht, sondern einordnet. Die dichte Hecke vor Nietzsches Grab wurde 1944 zu seinem 150. Geburtstag gepflanzt. Die SS trommelte. Elmar Schenkel kann dies alles souverän verkraften. Er ist ja nur der Erzähler, und er macht das sehr gut.
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Elmar Schenkel: Wahre Geschichten um Friedrich Nietzsche, Leipzig: Tauchaer Verlag 2023. 157 S., 15 €
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