In den meisten Fällen versammelt man sich – die Kokarde in den Landesfarben am Revers – vor einem Denkmal des Nationalschriftstellers Sándor Petőfi und überall wird sein legendäres „Nationallied“ skandiert werden – „Talpra magyar, hí a haza! Itt az idő, most vagy soha! Auf, die Heimat ruft, Magyaren! Zeit ist’s, euch zum Kampf zu scharen!“. Dann legt man Blumen vor seiner Statue ab, Kränze und Papierfahnen …
Petőfi ist in Ungarn allgegenwärtig, war es die letzten 180 Jahre und ist es noch immer – ohne Grundkenntnis seines Werkes und seiner Verehrung, auch der Legendenbildung, kann man das geistige Ungarn nicht verstehen. Obwohl sein Werk schmal ist, seine Schaffenszeit kurz war, ist er die Identifikationsfigur geworden und hat anderen Dichtern – wie Mór Jokai etwa –, die ebenfalls in der Revolution hervortraten und ein vielfach umfassenderes Werk, eher einem Goethe vergleichbar, hervorbrachten, den Rang abgelaufen.
Daß die Deutschen einen Goethe in den höchsten literarischen Olymp hoben und die Ungarn einen Heißsporn, der Mitte Zwanzig sein Leben im Widerstand gegen die Russen gegeben hatte, sagt vielleicht einiges über den Charakter der Völker aus. Im Grunde war das den Deutschen ebenso wie den Ungarn ein Rätsel geblieben. Dieses ist nun zum Großteil durch einen ungarisch-deutschen Autor gelöst worden: Adorján Kovács mit seinem Buch Sándor Petőfi. Dichter sein oder nichts sein. Dichtung und Deutung
Kovács gelingt es, die unglaubliche Vielfältigkeit und schiere Fülle des schmalen Werkes und kurzen Lebens überzeugend darzulegen und er findet dafür ein passendes Bild, das des Proteus. So auch der Titel des ungarischen Originals – „A próteuszi Petőfi“ –, anläßlich des 200. Geburtstages 2023 erschienen, das nun in erweiterter und vor allem mit zahlreichen illustrativen Gedichten des Dichters versehen, auf Deutsch erschienen ist. Es sollte zur Lektüre aller Freunde Ungarns, der Poesie, überzeugender literaturtheoretischer Arbeit und aller Freiheitsliebenden gehören. Mich hat das Buch regelrecht durch die Mangel gedreht!
Kovács stellt uns einen „multiplen Petőfi“ vor, der freilich nichts mit moderner „Vielfalt“ und „Beliebigkeit“ zu tun hat, auch wenn es natürlich Versuche gegeben hat, ihn dekonstruktivistisch und postmodern zu lesen. Im Gegenteil, Kovács hält den Dichter auch im heutigen Ungarn als „aus der Zeit gefallen“ und die Verehrung, seine Popularität für ein Mißverständnis!
Dies besteht vor allem in der biographischen Reduktion auf den Revolutionär und den Freiheitskämpfer und der literarischen Konzentration auf seine „Volksdichtung“, die Situations- und die Liebeslieder. Die Verehrung ist oft im Ritual versteinert und stark auf ein sehr schmales Repertoire reduziert, die ganze Fülle scheint auch den meisten Ungarn nicht mehr präsent zu sein. Diese zu entfalten – noch immer in Andeutung, denn „die Gedichte von Sándor Petőfi bergen noch viele unentdeckte Schönheiten und Besonderheiten … bei denen wir an kein Ende kommen“ – ist die selbstgestellte Aufgabe Kovács‘. Notwendig sei das auch, „weil seine Sicht auf eine aus den Fugen geratene Welt zeitgemäß ist.“
Dabei wirft Kovács nicht nur den magyarischen, sondern auch den europäischen und internationalen Blick und erweist sich nebenbei als eminenter Kenner seiner beiden Nationalliteraturen, die er immer wieder vergleichend heranziehen kann, sowie überhaupt der europäischen Literatur. Er geht dabei vornehmlich werkimmanent vor, ohne die oft dominierende biographische Herangehensweise gänzlich zu negieren. Das Apriori ist das Anerkennen und Affirmieren der Vielschichtigkeit, Widersprüchlichkeit und Originalität des Werkes. Man könne dieses nicht als Ganzes fassen, denn es besteht aus deutlich getrennten Textgruppen, und diese sind oft so schwer einer Quelle zuzuordnen, daß man sie zuerst analysieren muß, bevor eine Synthese sinnvoll erscheint. Man kann daher schwerlich zu einem Urteil kommen oder muß diese Schwierigkeit selbst zum Urteil erheben.
Petőfi strebte kein kohärentes Werk an und war sich seiner Widersprüchlichkeit bewußt, er strebte nach formaler, sprachlicher, inhaltlicher Vielfalt, blieb aber im je einzelnen Werk oder auch in gesamten Schaffensphasen durchaus streng. Er ist damit weder „dialektisch“ noch „postmodern“ zu lesen; er war widersprüchlich im Ganzen und konsequent im Einzelnen, ihm gelang – in der Lesart seines Kritikers – die lebendige Vereinigung des Unvereinbaren im nichtdialektischen Sinne.
Vor allem aber war er immer originell, in allem, was er anfaßte, exzellierte er. Das ist das Goethesche Element an ihm, wenn man so sagen darf, doch lief alles viel schneller und komprimierter ab.
Wie aber will man dann überhaupt über ihn sprechen? Der vielleicht am meisten funktionalisierte Dichter soll entfunktionalisiert und aus den Klammern seiner Interpreten befreit werden. Konstant sind nur zwei Entitäten: Freiheit und Liebe; aber geraten diese in Konflikt, so gewinnt immer die Freiheit, auch bei sich ändernden poetischen Mitteln. Petőfi entwarf in seiner Dichtung und in seinem Dasein als Lebenskunstwerk – so wird man folgern können – einen neuen Typus Mensch, einen neuen Menschentyp: das Dividuum.
Dieses Teilbare manifestiert sich in der Vielfalt der Gedichte, und Kovács buchstabiert eine ganze Reihe davon durch. So wird uns der Dichter in seiner ganzen Fülle faßbar, die vom klassischen und am griechischen Vorbild geschulten Sänger über den erotisch inspirierten, selbst ins „Perverse“ und „Ungesunde“ abgleitenden, den Naturdichter und religiösen Beter bis hin zum Surrealisten, dem Meister der „Kunst der Kunstlosigkeit“, der auch das „lyrische Parlando“ beherrscht, oder dem Zauberer eine „Poésie pure“ usw. reicht – ich breche hier ab, strebe keine vollständige Wiedergabe an.
Die proteischen Widersprüche gestatten auch, in der atheistischen Ablehnung des Christentums noch das Affirmative, das tief Gläubige zu sehen, einerseits eine Religiosität „im biblischen Sinn“, dem Willen zum Glauben, andererseits in einer Freiheitsreligion. Aber allein die Wiedergabe der Lyrik, von Kovács aus den besten Übersetzungen zusammengestellt und bei Bedarf auch verbessert, ist ein Genuß.
Es dürfte ersichtlich sein, daß sowohl Petőfi als auch sein Interpret selbst die philosophischen Höhen nicht scheuten. Gesonderte Kapitel werden etwa Nietzsches Auseinandersetzung mit dem Ungarn gewidmet oder Sartres Blickes-Ontologie. Das „fragmentarische Individuum“ oder das Dividuum, wie man es auch nennen könnte, fällt auseinander und wird vom Autor auch aktiv auseinandergenommen, aber das „bedroht nicht seine Identität, sondern stellt eine höhere poetische Seinsweise dar.“ Indem uns Petőfis Geheimnisse offenbart werden, gelingt Kovács zugleich eine Wiederverzauberung des Poeten: Man will ihn erneut lesen, mit neuen Verständnisschlüsseln versehen, mit neuen Augen sehen, vom sachkundigen Kritiker geöffnet – um plötzlich mehr zu schauen!
So schafft und löst Adorján Kovács auch das obige Paradox: Indem er das Mißverständnis der Popularität bei den Ungarn und auch bei den Deutschen an diesem Dichter erläutert und beseitigt, bekommt Petőfi die Macht verliehen, noch populärer zu werden, als er eigentlich ist. Kovács hat ihnen und uns erklärt, weshalb Petőfi trotz seiner Widersprüche, trotz seiner Eigenarten und trotz der Überschaubarkeit des Werkes vollkommen zu Recht der Nationaldichter der Magyaren werden konnte, ist und auch bleiben kann.
Wenn sie heute zu hunderttausenden vor seiner Büste oder seiner Skulptur stehen und gemeinsam sechsmal deklamieren:
A magyarok istenére,
Esküszünk,
Esküszünk, hogy rabok tovább
Nem leszünk!(Beim Gott der Ungarn/Schwören wir/Schwören wir, Gefangene/wir nicht bleiben werden!)
dann wissen sie vielleicht nicht mehr, warum dieser große Dichter und Kraftmensch so tief in ihnen sitzt, aber sie können es jetzt wissen, wenn sie den „Proteus Petőfi“ lesen.
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Adorján Kovács: Sándor Petöfi – Dichter sein oder nicht sein. Dichtung und Deutung, Neustadt an der Orla: Arnshaugk 2023 – hier bestellen.
Phil
Nietzsche hat Gedichte vertont (Nachspiel, Ständchen, Unendlich, Verwelkt).