So wird vor dem OVG Münster derzeit verhandelt, ob die AfD in ihrer Gänze als »rechtsextremistischer Verdachtsfall« gelten darf oder nicht. Ein Urteil fiel nicht, neue Termine stehen noch aus; das kann und darf als (Verzögerungs-)Erfolg der AfD-Anwälte gelten.
Die Parteispitze hat sich jedenfalls dazu entschieden, mit Carsten Hütter und Roman Reusch zwei Bundesvorstandsmitglieder an die Front zu schicken, deren Verlautbarungen in der Öffentlichkeit der Partei und weit darüber hinaus, im gesamten sympathisierenden Vorfeld der Partei – als dem eigentlichen Kern- und Unterstützungsmilieu der AfD –, auf Irritationen stießen.
AfD-Aktive wurden als Leute dargestellt, die das, was ein Björn Höcke beispielsweise sagen würde, gar nicht verstehen könnten. Dann wurde ernstlich als Verteidigungsposition eingenommen, es gebe schlichtweg keinen »ethnokulturellen« Volksbegriff in der AfD. Diese fatale Strategie mündete hernach im Bonmot einiger AfD-Kollegen, es gebe immer Leute, die Blech redeten, und in Reuschs Tirade, einfache Mitglieder der Partei verstünden aufgrund ihres »einfachen Bildungshintergrunds« eigene Aussagen zum Teil gar nicht.
Man kann ohne jede Häme und in kritischer Solidarität verbunden sagen:
Das, was Roman Reusch in Münster und anderswo vertritt, ist politisch (!) im Jahr 2024, unter einer Innenministerin Nancy Faeser zumal, nicht mehr zu vermitteln. Weder der eigenen Basis noch den Wählern. Doch der ehemalige Leitende Oberstaatsanwalt hält an einem Kurs fest, den seine parteiinternen Kritiker als »Kurs der politischen Selbstverleugnung« beschreiben.
Aus der Partei dringen gar Gerüchte hervor, wonach Reusch erst am 15. März der AfD-Führung des Bundes und der Länder empfohlen habe, auf einen differenzierten Volksbegriff per se zu verzichten, weil seine Verwendung mittlerweile prinzipiell dafür sorge, daß man als »extremistisch« gelte.
Folgt als nächstes die kolossale Idee, die AfD als Parteiprojekt der grundsätzlichen Opposition einzustellen, weil man sonst Faeser, Baerbock und Habeck zu sehr verärgere? Sie legen fest, was »rechtsextrem« ist: Heute ist es das Bekenntnis zum Eigenen, morgen die Klimawandelleugnung, übermorgen das Festhalten am biologischen Geschlecht. Wer das nicht sieht, stolpert umher.
Es fehlt einmal mehr ein bewußtes und selbstbewußtes Gedächtnis der eigenen politischen Hemisphäre: Reusch tappt dadurch in die verhängnisvolle und selbstzerstörerische (weil Kräfte zunächst bindende, dann schon lähmende) Republikanerfalle des teuren Prozessierens um des Prozessierens willen, der devoten Selbstkasteiung vor Millionenpublikum – und er tut es wohl reinsten Gewissens, überzeugt, das Richtige zu tun. Es sei offen gesagt: Das ist legitim, weil er offenbar eine Mehrheit im Bundesvorstand hinter sich weiß. Das ist demnach eine mögliche Variante des Handelns.
Aber es ginge argumentativ und politisch eben auch anders. Das zeigt in diesen Tagen ausgerechnet Mathias Brodkorb, der ehemalige Bildungs- und Finanzminister Mecklenburg-Vorpommerns – ein Sozialdemokrat mit ausgeprägter Neigung zu Fairneß auch dem politischen Gegner gegenüber.
Denn das, ein Gegner bzw. scharfer Kritiker, ist Brodkorb zweifellos: Er hat keine Sympathie für die AfD oder für das neurechte Lager – aber er sieht die Einschränkung der Meinungsäußerungsfreiheit im allgemeinen und die Kriminalisierung des Volksbegriffs im besonderen offenbar als Grund, Widerspruch zu äußern und dem Ampel-Mainstream in die Parade zu fahren.
Er tut dies via Interviews, zum Beispiel in der Neuen Zürcher Zeitung. Er tut dies mittels seines eigenen Buches, Gesinnungspolizei im Rechtsstaat?
Zunächst zum Interview. Brodkorb weist darauf hin, was Reusch meines Wissens nach argumentativ nicht offensiv betont:
Nach Artikel 116 ist Deutscher, wer deutscher Staatsbürger oder [!] deutscher Volkszugehöriger ist.
Daraus folgt: Offenbar ist es nicht dasselbe, was aber heute, forciert durch die Ampel-Agitation, in Vergessenheit gerät, bedauerlicherweise auch in den eigenen (Spitzen-)Reihen.
Brodkorb geht daher ins Detail:
Volkszugehörige sind gemäss Grundgesetz Menschen, die von Deutschen abstammen und sich zur deutschen Kulturnation bekennen, aber keine deutschen Staatsbürger sind. Nur deshalb konnte Bundeskanzler Helmut Kohl nach der Wende Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion einladen, in die Bundesrepublik zu kommen, um dort deutsche Staatsbürger zu werden. (…)
Und deutsche Volkszugehörige gibt es bis heute. Konkret ist das im Bundesvertriebenengesetz geregelt. Weil das Grundgesetz von einer doppelten Definition des Deutschseins ausgeht – Staatsbürger einerseits, Volkszugehörige andererseits –, haben Letztere bis heute das Recht, deutsche Staatsbürger zu werden,
wobei man etwa an die oberschlesischen Deutschen in Polen denken sollte, die vom Bundesinnenministerium im Erhalt ihrer »ethnokulturellen« (!) Identität bestärkt werden – also in einer Identität, die es laut Reusch in der AfD gar nicht als Thema gebe.
Recht hat Reusch aber insofern, als daß er sagt: Der Volksbegriff steht im Zentrum der Angriffe auf die AfD. Nur ist er also differenziert zu entfalten, zu erklären, zu verteidigen (das verstehen die eigenen Wähler sogar besser als mancher Funktionär!) – nicht zu schleifen oder gar zu leugnen (siehe oben), um vielleicht einige Monate mehr Repressionsaufschub zu erkaufen.
Brodkorb kommt über diese Volksbegriffsfrage zur Extremismusfrage, die einst, in der bürgerlichen Extremismustheorie nach Eckhard Jesse, Uwe Backes et al. die Gewaltfrage umschloß:
Die meisten nehmen wahrscheinlich an, dass es um Gewalt und die Planung politisch motivierter Straftaten geht, wenn der Verfassungsschutz eine politische Partei ins Visier nimmt. Aber das ist hier tatsächlich nicht der Fall. Hier geht es wirklich um den Volksbegriff,
den die Bundesregierung, wie gezeigt, in bezug auf das Auslandsdeutschtum durchaus affirmiert.
Brodkorb erläutert es seinen Lesern nachdrücklich:
Tatsächlich unterstützt die Bundesrepublik jährlich mit Millionen Euro und wortwörtlich die «ethno-kulturelle Identität» auslandsdeutscher Volkszugehöriger. Das wiederum ergibt ja nur Sinn, wenn es so etwas wie ein deutsches Volk gibt, das nicht identisch ist mit der Summe der Staatsbürger. Wer aber dasselbe Ziel in der Bundesrepublik selbst verfolgt, wird wiederum per se als Verfassungsfeind klassifiziert. Damit erzeugt der Staat in seinem Handeln selbst diesen Widerspruch.
Eben das müßte im Fokus jedweder AfD-Argumentation stehen: Der Widerspruch des politischen Gegners, also der Bundesregierung, ihres Innenministeriums und des diesem unterstellten Geheimdienst. Allein, man vernimmt wenig.
Brodkorb tendiert jedenfalls im Gespräch mit der NZZ dazu, seine Hoffnung auf das Bundesverfassungsgericht zu setzen. Dieses müßte klären, ob Staats- und Volkszugehörigkeit zwingend ident sein muß – oder ob es so ist, wie die AfD abseits von Reuschs neuen Positionierungen eigentlich programmatisch vertritt, daß nämlich die
Zugehörigkeit zum Staatsvolk von der ethnisch-kulturellen Identität der betreffenden Person rechtlich unabhängig ist,
daß man also durchaus deutscher Staatsbürger sein kann, ohne deutscher Volkszugehöriger zu sein (und umgekehrt, siehe Fallbeispiel Oberschlesien).
Brodkorb meint:
Ohne Karlsruhe kommen wir da nicht wieder hinaus. Dafür ist dieser Fall weltanschaulich und politisch zu vermint.
Hier darf man getrost einwenden: Josef Schüßlburner und Thor v. Waldstein haben da ihre – begründeten – Zweifel.
Aber, und damit wären wir beim Buch Gesinnungspolizei im Rechtsstaat? und seiner – meines Erachtens – einzigen Schwachstelle: Beide Autoren tauchen (aus erwartbaren Gründen?) nicht auf, ebenso wenig die naheliegende Frage, wer eigentlich machtpolitisch in der Bundesrepublik Deutschland überhaupt faktisch in der Lage wäre, die Verfassung oder einzelne ihrer Bestandteile auszuhebeln. Ist das nicht eher die Regierung als die marginalisierte Opposition? Positiv gewendet: Brodkorb hat sich Fragen aufgehoben, die in einem Band 2 bzw. einer Fortsetzung seines Bestsellers beim Zu Klampen Verlag als »Desiderat« bearbeitet werden können.
Das Buch selbst ist das politische Sach- und Fachbuch des Jahres 2024, egal was da noch kommen mag. Denn Volksbegriff, »Extremismus«-Fragen und Repressionsmechanismen werden in der weiteren Ampel-Regierungszeit zentrale Themen für die gesamte patriotische Szenerie bleiben. Man muß sich also entsprechendes Wissen aneignen und anwendbar machen.
Ausgangspunkt des Brodkorb-Buchs ist die Bedrohung für Meinungsfreiheit und praktische Demokratie durch einen wuchernden Apparat des Verfassungsschutzes (VS). Dieser eigne sich Befugnisse an, weite die Überwachung oppositioneller Parteien (wie der AfD) und Strömungen (wie der »Neuen Rechten«) immer weiter aus. Der VS schreckt ja nicht einmal mehr davor zurück, unverhohlen Denken und Sprache reglementieren zu wollen – wohl Anmaßung und Grenzüberschreitung durch VS-Chef Thomas Haldenwang zugleich.
Das Leitmotiv des vorliegenden Buches kann man daher in den Worten des Vorwortautors Volker Boehme-Neßler, einem renommierten Verfassungsrechtler, der seinerseits im Cicero in die Debatte sprang, so ausdrücken:
Wie kann so etwas im Rechtsstaat möglich sein?
Brodkorb macht klar: In einem funktionierenden Rechtsstaat und in einer intakten Demokratie dürfte es gar nicht möglich sein. Der VS sei
eine für die Demokratie unwürdige Institution.
Deshalb habe auch kein anderes freiheitliches Land dieser Welt diese bundesdeutsche Besonderheit als Vorbild genommen. Wer wünscht sich schon einen Geheimdienst, der über Stellungnahmen und Interventionen eine »Prüfung der politischen Gesinnung« vornimmt,
um Andersdenkende öffentlich an den Pranger stellen zu können?
Anhand von sechs prägnanten Fallstudien aus der Praxis – von links (Bodo Ramelow: 27 Jahre VS-beobachtet, dann Ministerpräsident!) bis rechts (Schnellroda-Komplex: Jeder Schnellroda-Kenner wird Brodkorbs Ausführungen mit großer Neugierde oder gar Euphorie lesen!) – zeigt der Autor im Anschluß auf, wie sich der dritte deutsche Geheimdienst (neben dem Militärischen Abschirmdienst, MAD, und dem Bundesnachrichtendienst, BND) seine Gegner zurechtlegt.
Es gehe darum, die Betroffenen in Verruf zu bringen, ihre Strukturen zu zersetzen und sie aus der freien Willensbildung auszuschließen. Brodkorb ohne viel Gewese: Das erinnere nicht subkutan, sondern unverhohlen an bewährte Stasi-Methoden.
Brodkorbs bahnbrechende Arbeit, die die Kriminalisierung des Volksbegriffs als Baustein einer neuen Zivilreligion kenntlich macht (Problem: Wie soll man rational gegen eine Glaubenslehre argumentieren?) mündet schließlich in einem Plädoyer dafür, den Verfassungsschutz schlechterdings abzuschaffen. Nicht etwa aus Zuneigung zur AfD und zur verfemten Opposition – sondern zur Rettung des von ihm so kenntnisreich wie leidenschaftlich und eloquent verteidigten Grundgesetzes.
Apropos: Die AfD-Spitze labelt ihre Partei immer wieder als »Grundgesetzpartei«. Schon allein deshalb wäre es geboten, daß sich jeder handelnde Funktionär dieses Buch als »Pflichtlektüre« vornimmt. Auftritte wie in Münster würden dann, ehrliches Erkenntnisinteresse und Befähigung zur Selbstkritik vorausgesetzt, der Vergangenheit angehören. Davon profitiert dann das gesamte nonkonforme Lager.
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Mathis Brodkorb: Gesinnungspolizei im Rechtsstaat? – hier bestellen.
Adler und Drache
Die Hoffnung, man könnte durch den Nachweis logischer Widersprüche irgendeine Art von Nachdenken anregen, habe ich längst beerdigt. (Es war sogar eine meiner ersten beerdigten Hoffnungen.) Die Gegenseite kann das sehr gut aushalten und aussitzen - Doppeldenk. Wenn man überhaupt eine Antwort bekommt, dann nur irgendwelchen ins Moralistische gedrehten Unsinn.
Es lohnt aus meiner Sicht tatsächlich nicht, Kräfte zu verschleudern, indem man um Sprachregelungen kämpft. Die AfD ist nicht deshalb Opposition, weil sie auf einen ethnischen Volksbegriff besteht, das ist bestenfalls Würze - sie ist es aus systemischen Gründen. Wenn man dem Gegner Wind aus den Segeln nehmen kann, indem man generös auf ein Symbol verzichtet, bitteschön! Warum nicht?
Maß halten, nicht in die Hysterisierungsfalle tappen, nah an der Wirklichkeit bleiben!