Unter den deutschen Priestern in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war Pfarrer Milch eine Ausnahmegestalt: Seine sprachgewaltigen Predigten und Vorträge zogen auf zahlreichen Glaubenskundgebungen mehrere tausende Zuhörer an.
Das kirchliche oder politische Tagesgeschehen streifet Milch meist, während er den philosophischen und theologischen Grundlagen die größere Beachtung schenkte. Sein Spiel mit den Worten erinnert zuweilen an die Sprache Heideggers. Er verfaßte Gebete, Gedichte und Hymnen und nahm Bezug auf Goethe, Nietzsche, Rilke, George, Jünger, Fernau, Solowjow, Dostojewski und andere.Auch dadurch gewann Milch über katholische Kreise hinaus Anklang.
Seine Ansprachen findet man in vielen kurzen Ausschnitten im Netz. Sogar einem Rap-Album wird seine Stimme vorangestellt und in mehreren Liedern der Neofolk-Band „Von Thronstahl“ eingespielt.
Geboren wird Johannes Philipp Milch am 17. März 1924 in Wiesbaden als jüngstes von drei Kindern einer protestantischen Familie. Nach dem Abitur wird er 1942 eingezogen und dient in Italien, bevor er in US-amerikanische Gefangenschaft gerät und diese von März 1945 bis November 1946 in Frankreich zubringt.
Unter den Mitgefangenen befindet sich ein katholischer Priester, mit dem Milch theologische Diskussionen führt, was schließlich in seiner Konversion mündet. 1947 beginnt er ein Studium der Philosophie und Theologie an der Jesuitenhochschule St. Georgen in Frankfurt am Main, wird 1953 im Limburger Dom zum Priester geweiht und 1962 als Pfarrer in Hattersheim am Main eingesetzt.
Nur wenige Monate später öffnet das Zweite Vatikanische Konzil in Rom dem zuvor verurteilten Modernismus die Türen zum Innern der katholischen Kirche. Für Milch beginnt damit die Zeit des Kampfes, den er, wie er in einem späteren seiner Sonntagsbriefe schreibt, nicht liebt:
Aber wehe mir, wenn ich nicht kämpfe!
Zunächst vertritt er nur die These, daß die Konzilsbeschlüsse nicht in sich verwerflich seien, sondern nur im modernistischen Sinne ausgelegt würden. Um dieser Entwicklung entgegenzutreten, übernimmt er 1969 den Vorsitz der „Bewegung für Papst und Kirche“. Die Verschärfung der Kirchenkrise sowie die zunehmend grundsätzliche Kritik Milchs am Konzil und seinen Beschlüssen führen jedoch zu internen Konflikten, die ihn veranlassen, die Bewegung zu verlassen.
Hüten Sie sich vor den Konservativen,
warnt er einige Jahre später. Bereits 1972 hat er die actio spes unica gegründet, um für die modernistischen Exzesse in der Kirche Sühne zu leisten.
Aus dem Kontakt zu Erzbischof Marcel Lefebvre macht der Pfarrer keinen Hehl. Als ihn deswegen der Limburger Bischof Wilhelm Kempf 1979 unter Druck setzt, antwortet Milch in der für ihn typischen absoluten Weise:
Sein, Erzbischof Lefebvres, Werk und Wille ist uns allen das befreiende Dennoch, Kern und Garantie katholischer Kontinuität, Fels in der Brandung. Wir sind ihm verschworen!
Die Konsequenzen sind ihm bewusst: Am 18. Oktober 1979 wird Hans Milch von seinem Amt als Pfarrer suspendiert.
Milchs Widerstand gegen die Anpassung kirchlicher Strukturen an den liberalen Zeitgeist ist ohne Rücksicht auf eigene Verluste und folgerichtig. Schließlich predigt er wiederholt vom Glauben als ein großes Wagnis und eine glühende Leidenschaft. Wer sich einmal von der Gottesliebe überwältigen ließe, der müsse brennen wie Feuer, immer in Bewegung und alles verzehrend:
Und wie die Pest mußt du fürchten das Wort, das der Liebe entgegensteht wie Wasser dem Feuer, das Wort “genug”.
Der Heilige ist für Milch die Figur, die von Gott nicht genug haben kann und die das kindhafte Staunen nie ablegt. Die Heiligen dürfe man sich
nicht als sanfte Gestalten vorstellen, die immer mit einer gewissen Blutarmut behaftet, ohne leidenschaftliche Ausbruchsmöglichkeiten über die Landschaft glitten.
Das Gegenteil sei der Fall. Deshalb ruft er den Gläubigen zu:
Dieser Kribbelkram kleinbürgerlicher Tugenden, immer schön bescheiden sein, ist eine Festnagelung kleinkarierter Vorstellungen und geistigen Kleinrentnertums. Wir sind nicht Christen aus Blutmangel und Mangel an Lebenswillen, sondern wir sind Christen aus äußerstem, flammenden Lebenswillen heraus.
Die direkte Ansprache des Gläubigen in Milchs Predigten ist Ausdruck der großen Bedeutung, die er der Persönlichkeit beimisst und die aus dem damaligen zeitlichen Hintergrund zu verstehen ist: Milch reagiert damit auf den Novus Ordo Missae, den er selbst nie zelebriert hat und durch den die heilige Messe als „Gemeinschaftserlebnis“ umgedeutet wurde. Im Messopfer teile sich Gott jedoch der einzelnen Seele mit und stelle diese vor die Entscheidung, erklärt der Pfarrer:
Ungeschützt, auf freier Pläne, wie ich zu sagen pflege, auf freier Ebene, unbedeckten Hauptes, bist Du diesem Angebot ausgeliefert und kannst nichts anderes als Ja oder Nein sagen. Und Dein Ja-Sagen, Deine Hingabe, ist Dein Glück, und Dein Nein-Sagen, Deine Verweigerung, ist Deine Hölle und Dein Unglück.
In Milchs Betonung der Persönlichkeit steckt desweiteren die Erfahrung der totalitären Systeme des 20. Jahrhunderts, deren Inanspruchnahme der Masse als politisches Subjekt er zurückweist. Für Milch ist Masse
eine wesentliche Folge der Erbsünde. Es ist die Einstellung, die den Menschen zur fanatischen Leugnung seines wesenhaften Geist-Anspruches treibt. Der von Masse beherrschte, der Vermassung anheimgefallene Mensch will ein Es sein, will sich dem Man beugen, will immer sich im Miteinander und Nebeneinander befinden.
Gemeinschaft kann laut Milch jedoch nur im Sich-Ausrichten auf Gott entstehen. Auch das Volk betrachtet er aus dieser übernatürlichen und überzeitlichen Perspektive:
Verbundenheit mit dem eigenen Volk, Liebe zum Vaterland heißt: Als mittelndes, priesterliches Glied Vergangenheit und Zukunft zu vereinen, Vergangenheit und Zukunft hinüberretten. Vergangenheit und Zukunft vereinen kann freilich nur derjenige, welcher im Ewigen gründet.
Der Verlust der Fähigkeit, die Dinge von der Ewigkeit her zu betrachten, führte nach der mittelalterlichen „Zeit der Geisteshelle“ zur rationalistischen „Entgeistung der Vernunft“, die ihren bisherigen Höhepunkt in der Französischen Revolution feierte und woraus „der Einbruch der modernen Technik“ und der damit verbundene Fortschrittsoptimismus folgten.
Seine Technikkritik verbindet Milch mit seinen Gedanken von der Persönlichkeit und der Aufgabe des Hinüberrettens zur Forderung,
Eliten der Einweihung zu schaffen, welche nicht nur die Bannkraft des Geistes wirken, daß sie die wuchernde Technik in den Dienst des Menschenwesens zwinge, sondern die technische Entwicklung selbst unter den Vorbehalt dessen stelle, was der Menschengeist erträgt.
Möglich werde dies durch den Glauben, aus dem er seine Hoffnung schöpft, auch für eine umfassende Wende in der von der „Besatzungsmacht“ Modernismus gefangenen Kirche. Er vernimmt eine „Witterung für das Notwendige“ und
die Stimmen derer, die Ausschau hielten nach den Gegenkräften, die einen neuen katholischen Adel, wegweisende Kader der Weisheit bilden könnten.
Milch kümmert sich auch um Menschen aus dem Frankfurter Bahnhofsviertel. Eines dieser Werke der Nächstenliebe wird ihm schließlich zum Verhängnis: Am 8. August 1987 wird Pfarrer Hans Milch in Wiesbaden von dem psychisch Kranken Luigi Zito, den er zuvor betreut hat, ermordet.
Wolfgang Schüler, der spätere Herausgeber von Milchs Schriften, und seine Ehefrau finden den Priester mit ausgebreiteten Armen auf dem Fußboden, mehreren Einstichen eines Messers im Kopf und einem Holzpfahl in die Brust gerammt. „Was ist Opfer?“, fragt Milch in einem Vortrag wenige Jahre zuvor, „Totalhingabe, Selbstentäußerung, Hingabe zum Vater in Tod, Auferstehung und Himmelfahrt, Feuer!“
Milch hat diese Maßgabe auch in seinem eigenen Tod umgesetzt – im Glauben an die Ewigkeit. Am 17. August wurde Pfarrer Milch in Wiesbaden beigesetzt. In seiner Traueransprache lobt Walter Hoeres die Theologie Milchs als „Morgendämmern des ewigen Lebens“.
Franz Bettinger
"Ungeschützt, auf freier Pläne" --> plaine (frz. für Ebene).