1987 veröffentlichte Iain M. Banks mit Bedenke Phlebas den ersten Band seiner „Culture/Kultur“-Reihe, einer woken, in den Weiten des Weltalls lebenden panhumanen Idealgesellschaft:
Ohne jegliche Knappheit an Gütern oder Energie leben die Mitglieder dieser atheistisch-hedonistischen Gesellschaft vollkommen frei (so zumindest die Selbstbeschreibung) und in anarchistischer Selbstverwaltung, sprich ohne rigide Regierungsstrukturen und Ämter.
Die Gentechnologie ist innerhalb der Kultur so weit fortgeschritten, daß die Kulturbürger ihre Gestalt und ihr Geschlecht nicht nur jederzeit beliebig wechseln können, sie sind sogar hierzu angehalten, um etwa Geschlechterverwirrung bei ihren Kindern anzustiften:
Normalerweise vermeidet eine Mutter in den ersten Lebensjahren ihres Kindes einen Geschlechtswechsel. (Außer natürlich, wenn sie ihr Kind verwirren möchte …)
Somit besteht die Kultur aus genetisch optimierten Menschen, mit überlegener Intelligenz und Gesundheit und sogar einem Drüsensystem, das entsprechend der hedonistischen Ausrichtung der Kultur verschiedenartige Drogen ausschütten kann, so daß es dem durchschnittlichen Kulturbürger freisteht, ein Leben im dauereuphorisierten kostenlosen Drogen-Nirwana zu verbringen. Einen legendären Ruf im Rest des von Menschen besiedelten Universums genießen die genetisch optimierten Sexualorgane der Kulturbürger, inklusive unbegrenzter Orgasmusfähigkeit.
Das äußerst erfolgreiche Wirtschaftssystem der Kultur basiert auf einer spielerisch, durch künstliche Intelligenzen gesteuerten sozialistischen Planwirtschaft, die weit effektiver arbeitet, als das eine auf dem Konkurrenzprinzip beruhende Marktwirtschaft je könnte, da ein „kapitalistisches System“ niemals das Gemeinwohl im Auge hätte. Dahinter steht
… eine Art galaktisches ökologisches Bewußtsein, verbunden mit dem Wunsch, das Schöne und das Gute überhaupt zu schaffen.
In diesem Wirtschaftssystem werden nicht einmal die Maschinen “ausgebeutet”. Entsprechend empört sich eine KI-Wartungsdrohne über den Helden des Romans Horza, als dieser sich weigert, die Maschine, man würde auf der Erde sagen, mit dem politisch korrekten Pronomen als „empfindsames Individuum“ anzusprechen. Iain Banks erläutert die Hintergründe in seinen „Anmerkungen zur Kultur“:
In ihren Herstellungsprozessen ist die Kultur im Wesentlichen eine automatisierte Zivilisation, in der die menschliche Tätigkeit darauf beschränkt wurde, nicht mehr als ein Spiel oder Hobby zu sein. Genau so wenig werden Maschinen ausgebeutet. Laut dahinterstehender Idee wird jede Aufgabe dahingehend automatisiert, daß sie von einer Maschine ausgeführt werden kann, die sich deutlich unter der Stufe potentieller Selbstbewusstwerdung befindet …
So entstehen komplexeste Strukturen, mit dem Ziel, daß keines der automatisierten Glieder im Konsumgüterherstellungsprozeß über ein Bewußtsein verfügt, um die von Karl Marx beklagte „Entfremdung des Arbeiters“, ja selbst die „Entfremdung“ der fühlenden und intelligenten Maschinen zu verhindern.
Ein wesentlicher Aspekt der Kultur ist die Symbiose der Menschen mit den künstlichen Intelligenzen, die sich zwar aufgrund grundlegender Programmierungen loyal ihren Menschen gegenüber verhalten, die jedoch in ihrer selbst gesteuerten Evolution so weit fortgeschritten sind, daß sie den Menschen allenfalls noch als ein Wesen zwischen „Haustier und Parasiten“ ansehen.
Kern der Kultur ist ihr „woker“ Missionsdrang. Spezialeinheiten der Kultur spüren in den Weiten des Weltalls Zivilisationen auf, deren Gesellschaft aus Sicht der „Kultur“ auf Gewalt, Diskriminierung und Ausbeutung beruht und fangen an, diese mittels heimlicher, aber auch offener Eingriffe im Sinne der hypermoralischen Vorstellungen der Kultur „umzugestalten“.
Dabei ist die durch die Kultur im Weltall Schritt für Schritt durchgesetzte politische Korrektheit nicht in Gesetzestexte gefaßt: Die Kultur kennt keine Gesetze und keine Rechtsprechung. Die politische Korrektheit und die mit ihr verbundene „Cancel culture“ sind ein sich selbstregulierender Mechanismus:
Die Kultur hat eigentlich keine Gesetze; es gibt bestimmte als korrekt empfundene Verhaltensweisen; Manieren, wie oben erwähnt, aber nichts, was wir als rechtlichen Rahmen verstehen würden. Nicht mehr angesprochen werden, nicht mehr zu Partys eingeladen werden, sarkastische und anonyme Artikel und Geschichten in den sozialen Netzwerken; dies sind die normalen Formen der Verhaltensregulierung in der Kultur.
Dennoch scheint es eine Gruppe innerhalb der „Kultur“ besonders schwer zu haben. Man fühlt sich an den irdischen Incel erinnert, junge Männer, die ihr Leben, eingeschlossen in eine Wohnung, mit Computerspielen und Online-Pornos verbringen, da es für sie „keine Verwendung“ mehr gibt. So wird einer dieser Außenseiter im zweiten Band der Reihe „The Player of Games“ in ein Gespräch verwickelt:
„Du hast doch nie das Geschlecht gewechselt, oder?”
Er schüttelte den Kopf.
“Oder mit einem Mann geschlafen?”
Noch ein Kopfschütteln.
“Das dachte ich mir”, sagte Yay.
Gleichzeitig unterliegt jedes Mitglied der Kultur der totalen Überwachung und niemand, der in die Kultur hineingeboren wurde, kann diese verlassen, um sich beispielsweise in einer anderen Zivilisation niederzulassen, ohne auch hier einer beständigen Beobachtung ausgesetzt zu sein.
Diese vollkommene Gesellschaft löst neben Bewunderung allerdings auch entschiedenen Widerstand in den Weiten des Universums aus. So führt die nichtmenschliche Spezies der Idiraner in ihrem „religiösen Fanatismus“ einen, so Banks wörtlich „Dschihad“ gegen die Kultur, um entsprechend ihres „göttlichen Auftrags“, nach den Geboten ihres Glaubens, die Dekadenz der Kultur zurückzudrängen und zu vernichten.
Auf die Frage hin, warum der menschliche „Wandler“ Horza denn auf Seiten dieser nichtmenschlichen Spezies gegen die menschliche „Kultur“ kämpfe, antwortet dieser:
Zumindest haben sie einen Gott. Die Kultur hat keinen.
Diese Aussage Horzas, der als Atheist beschrieben wird, mag erstaunen. Aus Sicht der „Kultur“ ist sein Handeln gar „durch unverständlichen Haß“ geprägt und er mag, diese Interpretation sei erlaubt, an den postmodernen „Widerständler“ erinnern, der mehr oder weniger ahnt, daß er dem Vordringen der Kultur einzig mit einer transzendent begründeten Antwort entgegentreten könnte, der jedoch seinen Glauben an Gott längst verloren hat und der damit letztlich dem hypermoralischen Universalismus der Kultur ohne Antwort gegenübersteht.
Überraschenderweise sind die kriegerischen Idiraner der Kultur militärisch hoffnungslos unterlegen. Dies nicht zuletzt, da sich die Idiraner als homogene Ethnie an feste Planetensysteme klammern, mit denen sie sich verbunden und verwurzelt fühlen und deren Besitz sie unter allen Umständen zu verteidigen suchen, während die panhumane Kultur wesentlich aus in (gigantischen) Raumschiffen und anderen mobilen Strukturen lebenden „Anywheres“ besteht, die bei kriegerischen Angriffen jederzeit in die Weiten des Weltraums ausweichen können, sprich, beweglich sind und daher überhaupt nicht so leicht angegriffen werden können.
In cineastischer Schönheit und Opulenz schildert Banks gegen Ende seines Science-Fiction-Klassikers die Zerstörung eines sogenannten bewohnten Rings, einer der größten künstlichen Strukturen des Universums, durch Militäreinheiten der Kultur.
Interessant das Urteil, das der „Wandler“ Horza in Anbetracht dieses Zerstörungswerks über die Kultur fällt:
Sie versuchten, die Ungerechtigkeit zu überwinden, die Fehler in der übermittelten Botschaft des Lebens zu beseitigen, die ihr erst irgendeinen Sinn gaben … Das war es, was die Kultur bot … Chaos durch Ordnung, Zerstörung durch Aufbau, Tod durch Leben.
Und um an dieser Stelle die Frage zu beantworten, die eine befreundete Autorin an mich stellte, nämlich, was denn an dem Buch so ‚crazy‘ wäre?
Nun, nicht nur, daß Consider Phlebas in den 1980ern geschrieben wurde, sondern vor allem, daß man die von ihrem Selbstbild her oft linken 68er-Science-Fiction-Autoren wie Banks oder den vielleicht in Deutschland bekannteren Philip K. Dick, der heutigen Gesellschaft gegenüber als kritisch eingestellt lesen muß, möchte man ihnen literarisch wieder gerecht werden. (Philip K. Dick schrieb mit Do Androids Dream of Electric Sheep die Romanvorlage für Ridley Scotts Blade Runner.)
Zu dieser Generation zählt übrigens auch Ray Bradbury, der 1953 in seinem Science-Fiction-Roman Fahrenheit 451 schilderte, wie Bücher durch Sondereinheiten der Feuerwehr verbrannt und ihre Besitzer in geschlossene Anstalten gesperrt werden, um die Gefühle von Minderheiten zu schützen:
Versteh doch, unsere Zivilisation ist so vielfältig, daß wir unter keinen Umständen unsere Minderheiten verstören oder beunruhigen können. Frag dich: Was ist das höchste Ziel in unserem Land? Die Menschen wollen glücklich sein, nicht wahr? … Farbige Menschen mögen ‚Kleiner Schwarzer Sambo‘ nicht. Verbrenn es.
Der 2013 verstorbene Iain M. Banks, dem sich die Kultur in einer Art Traum offenbarte, gilt laut Times als einer der bedeutendsten britischen Schriftsteller seit 1945. Banks war Sohn einer professionellen Eiskunstläuferin und eines Offiziers der britischen Admiralität. Auch er verortete sich politisch links, verstand sich als Sozialist und trat als scharfer Kritiker Israels auf, das er als „Schurkenstaat“ bezeichnete. Er unterstützte den BDS und wies kurz vor seinem Tod seinen Verleger an, die weitere Veröffentlichung seiner Bücher in Israel zu unterbinden. Während des Irakkriegs 2003 schickte er aus Protest gegen die britische Beteiligung seinen zerschnittenen Paß an Tony Blair in die Downing Street und plante laut eigenem Bekunden, in einer Art Kamikazeaktion mit seinem Land Rover die schottische Militärwerft in Fife zu stürmen.
Doch wie auch immer man das politische Wirken Iain M. Banks bewerten mag, es ist an der Zeit, sein Werk neu, auf die heutige Welt hin zu lesen.
P.S. Die zweite Szene des hier hochgepriesenen Science-Fiction-Romans beginnt damit, dass der Wandler Horza in den Fäkalien einer geriatrischen Oligarchie zu ertrinken droht. Man sei also gewarnt: Dieses Science-Fiction-Epos ist keine zartfühlende Höhenkammliteratur, sondern ein Lesespaß der besonderen Art.
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Bedenke Phlebas – hier einsteigen.
Adler und Drache
Uff! Potzblitz!
"Bedenke Phlebas" war geradezu eine Offenbarung für mich, ich hab's in den 90ern gelesen, als ich die davor veröffentlichte Science fiction längst altbacken und infantil fand - und dann DAS! Unauslöschbar der Eindruck von der Szene auf der Insel der Fresser! Banks war eben auch Surrealist, "Die Brücke" (keine SF) hat mich auch umgehauen. "Das Spiel Azad" fand ich sogar noch besser, dann flachte die Reihe etwas ab, und mit "Blicke windwärts" konnte ich gar nichts mehr anfangen.
Das nun hier! Uff!
Der utopische Blick auf die "Kultur" wird allerdings durch die Machenschaften der Sektion für "Besondere Umstände" auch immer wieder gebrochen, hier findet die Drecksarbeit statt, über die die Öffentlichkeit nicht informiert wird.
Dass der Gesellschaftsentwurf sterbenslangweilig ist, keine Kunst je Bedeutung haben könnte, nichts Wahrhaftes mehr entstehen könnte, ja das Menschsein sogar auf eine Art Notbetrieb heruntergefahren wird, wird schon immer wieder mal deutlich. All das gibt es nur noch in der Grauzone, d.h. bei BU.