Geschichtsbilder und Generationenfolge

pdf der Druckfassung aus Sezession 9 / April 2005

sez_nr_9von Fritz Süllwold

Veränderungen von Geschichtsbildern kommen in der Generationenfolge nicht selten vor. Solche Veränderungen bleiben manchmal ohne durchschlagende Wirkungen im politischen und gesellschaftlichen Bewußtsein einer Generation, zuweilen haben sie aber auch dramatische Konsequenzen von existentieller Bedeutung. Von besonderem Interesse sind in diesem Zusammenhang Veränderungen von Vorstellungen über das Verhalten und Erleben der Normalbevölkerung der Nation in einer herausragenden historischen Epoche. Für die deutsche Nation kommt hier vor allem die Epoche des Nationalsozialismus (kurz: NS-Epoche) in Betracht.

Wir haben uns in viel­fäl­ti­gen und lang­wie­ri­gen empi­ri­schen Unter­su­chun­gen ein­ge­hend mit den ver­gan­gen­heits­be­zo­ge­nen Vor­stel­lun­gen beschäf­tigt, die in der soge­nann­ten Auf­bau­ge­nera­ti­on anzu­tref­fen sind, also bei der Gene­ra­ti­on von Deut­schen, die nach dem Zwei­ten Welt­krieg den mate­ri­el­len, wirt­schaft­li­chen, poli­ti­schen und gesell­schaft­li­chen Auf­bau wesent­lich bewirk­te. Unse­re Per­so­nen­stich­pro­be der Auf­bau­ge­nera­ti­on reich­te vom Geburts­jahr­gang 1907 bis zum Jahr­gang 1927. Alle Per­so­nen die­ser Stich­pro­be hat­ten also die NS-Epo­che bewußt erlebt.
Die Daten­er­he­bung bei unse­rer in den neun­zi­ger Jah­ren durch­ge­führ­ten Unter­su­chung erfolg­te nach der von mir so genann­ten Metho­de der „Sys­te­ma­ti­schen Erhe­bung von Fremd­be­ob­ach­tun­gen“ (SEF). Damit ist gemeint, daß die Män­ner und Frau­en unse­rer Per­so­nen­stich­pro­be nicht über sich selbst, nament­lich nicht über ihre per­sön­li­chen Reak­tio­nen auf epo­chen­ty­pi­sche Sach­ver­hal­te und Ereig­nis­se berich­te­ten, son­dern aus­schließ­lich mit­teil­ten, wel­che Reak­tio­nen sie bei deut­schen Nor­mal­bür­gern ihrer jewei­li­gen Umge­bung im Beob­ach­tungs­zeit­raum von 1933 bis 1945 wahr­ge­nom­men hat­ten, meis­tens als ver­ba­le Äuße­run­gen, zuwei­len aber auch in Form non­ver­ba­len Ausdrucksverhaltens.
Die von uns her­an­ge­zo­ge­nen Zeit­be­ob­ach­ter nah­men zu ins­ge­samt 194 Fra­gen über die Reak­tio­nen von Nor­mal­bür­gern auf Sach­ver­hal­te und Ereig­nis­se der NS-Epo­che Stel­lung. Bei der For­mu­lie­rung der Fra­ge­dächt­nis­psy­cho­lo­gi­sche Gesetz­mä­ßig­kei­ten und Erkennt­nis­se der Aus­sa­ge­psy­cho­lo­gie sorg­fäl­tig berücksichtigt.
Die Wahr­neh­mun­gen der Zeit­be­ob­ach­ter kön­nen zur Beant­wor­tung der Fra­ge bei­tra­gen, wie es in der Vor­kriegs­zeit, also von Febru­ar 1933 bis Sep­tem­ber 1939, zur Eta­blie­rung und Kon­so­li­die­rung der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Herr­schaft kam. Das Gros der deut­schen Nor­mal­be­völ­ke­rung stand den Natio­nal­so­zia­lis­ten zunächst durch­aus abwar­tend und nicht sel­ten auch skep­tisch gegen­über. Das wird unter ande­rem durch regu­lär zustan­de gekom­me­ne Wahl­er­geb­nis­se belegt, bei denen die NSDAP nie­mals auch nur die Hälf­te der Wäh­ler­stim­men erhielt. Bei den letz­ten wirk­lich frei­en Reichs­tags­wah­len am 6. Novem­ber 1932 erreich­te die NSDAP bloß 33,1 Pro­zent der abge­ge­be­nen Stim­men. Sogar bei den nicht mehr ganz kor­rek­ten Wah­len am 5. März 1933 erziel­te sie ledig­lich 43,9 Pro­zent der abge­ge­be­nen Stim­men. Es ist nicht bekannt, wie vie­le Stim­men die NSDAP bei wirk­lich frei­en Wah­len in der spä­te­ren NS-Epo­che erhal­ten hät­te. Jedoch gibt es zuver­läs­si­ge Hin­wei­se, daß die Zustim­mung zur NSRe­gie­rung in der Vor­kriegs­zeit anstieg und daß die­se ver­mehr­te Zustim­mung zur Fes­ti­gung der Herr­schaft der Natio­nal­so­zia­lis­ten beitrug.

Für die Erwei­te­rung der Zustim­mung gab es im Erle­ben der Nor­mal­bür­ger vor allem fünf Grün­de, die nach­fol­gend kurz gemäß dem Rang ihrer Bedeu­tung auf­ge­führt werden:

(1) Die Besei­ti­gung der Aus­wir­kun­gen des Ver­sailler Ver­tra­ges, des­sen Stel­len­wert im Bewußt­sein der dama­li­gen Deut­schen die heu­ti­gen Nach­ge­bo­re­nen wegen völ­lig ver­än­der­ter Rah­men­be­din­gun­gen kaum noch ver­ste­hen kön­nen. Nach den Wahr­neh­mun­gen der Zeit­be­ob­ach­ter emp­fan­den fast alle Deut­schen den Ver­sailler Ver­trag als gro­ße Unge­rech­tig­keit, als tie­fe Demü­ti­gung und als uner­füll­bar. Zu der Fra­ge „Galt in der Bevöl­ke­rung die NS-Poli­tik als erfolg­ver­spre­chen­der Ansatz, die Aus­wir­kun­gen des Ver­sailler Ver­trags zu til­gen?“ mach­ten die Zeit­be­ob­ach­ter auf Grund ihrer Wahr­neh­mun­gen bei Nor­mal­bür­gern der Umge­bung die fol­gen­den Anga­ben: „Ja, durch­aus“ (61 Pro­zent), „zumin­dest als erfolg­rei­cher als ande­re Ansät­ze“ (35 Pro­zent), „nein“ (4 Pro­zent). Wich­tig war in der Bevöl­ke­rung auch der Ein­druck, daß durch meh­re­re Maß­nah­men der neu­en Reichs­füh­rung Deutsch­land inter­na­tio­nal wie­der Respekt ver­schafft wurde.
(2) Die schnel­le und dras­ti­sche Reduk­ti­on der Arbeits­lo­sig­keit. Zu der Fra­ge „Gab es ab Mit­te der drei­ßi­ger Jah­re noch Angst vor Arbeits­lo­sig­keit?“ bemerk­ten die Zeit­be­ob­ach­ter: „Ja, ziem­lich oft“ (5 Pro­zent), „nur noch sel­ten“ (44 Pro­zent), „fast nie“ (51 Pro­zent). Nach­ge­bo­re­ne soll­ten zu die­sem Punkt zur Kennt­nis neh­men, daß Arbeits­lo­sig­keit damals eine sehr viel grö­ße­re mate­ri­el­le Not und Exis­tenz­ge­fähr­dung bedeu­te­te als heute.
(3) Der wirt­schaft­li­che Auf­schwung, den vie­le zuvor nicht für mög­lich gehal­ten hatten.
(4) Eine Rei­he neu­ar­ti­ger sozia­ler Ein­rich­tun­gen und Maß­nah­men (Win­ter­hilfs­werk, Müt­ter­ge­nesungs­werk, KdF-Aus­lands­rei­sen, zum Bei­spiel Schiffs­rei­sen für Arbei­ter, die Aus­stat­tung eines gro­ßen Bevöl­ke­rungs­teils mit dem leicht erschwing­li­chen Radio­ge­rät „Volks­emp­fän­ger“ und anderes).
(5) Die ener­gi­sche Bekämp­fung der (unpo­li­ti­schen) All­tags­kri­mi­na­li­tät und der Ein­druck einer merk­li­chen Stei­ge­rung der inne­ren Sicher­heit und Ord­nung. Die Wich­tig­keit die­ses Punk­tes, nament­lich für das Staats­er­le­ben der „ein­fa­chen Leu­te“, wird heu­te oft ver­kannt. Daß die Stei­ge­rung der Rechts­si­cher­heit nicht im poli­ti­schen Raum galt, war den Bür­gern nach den Beob­ach­tun­gen unse­rer Zeit­zeu­gen offen­bar bewußt.

Sehr vie­le Mit­glie­der der Auf­bau­ge­nera­ti­on, die eben­falls die NS-Epo­che bewußt erlebt hat­ten, haben sich zu unse­rem 2001 in Buch­form erschie­ne­nen Bericht über die deut­sche Nor­mal­be­völ­ke­rung jener Zeit, nament­lich über deren Erfah­run­gen, Ein­stel­lun­gen und Reak­tio­nen, spon­tan und aus­führ­lich geäu­ßert. Dabei ergab sich zu fast allen Punk­ten eine hoch­gra­di­ge Zustim­mung, so daß man es hier offen­bar mit einem Geschichts­bild zu tun hat, in dem die Zeit­ge­nos­sen der his­to­ri­schen Epo­che die von ihnen sei­ner­zeit erleb­te Rea­li­tät wie­der­erken­nen. Das gilt in beson­de­rem Maße auch für die nach der SEF­Me­tho­de ermit­tel­ten Quan­ti­tä­ten, also für nume­ri­sche Anga­ben über die Häu­fig­keit oder Sel­ten­heit ein­zel­ner Bevölkerungsreaktionen.

Um die sys­te­ma­tisch erho­be­nen Erin­ne­run­gen der Zeit­ge­nos­sen der NS-Epo­che mit den Vor­stel­lun­gen von nach­ge­bo­re­nen Deut­schen über das Ver­hal­ten und Erle­ben der Nor­mal­bür­ger jener Zeit ver­glei­chen zu kön­nen, haben wir auch den Nach­ge­bo­re­nen die 194 epo­chen­be­zo­ge­nen Fra­gen zur Stel­lung­nah­me vor­ge­legt. Mit Nach­ge­bo­re­ne sind hier Deut­sche ab dem Geburts­jahr­gang 1950 gemeint. Bei der Unter­su­chung ver­tre­ten waren vor allem Ange­hö­ri­ge der Jahr­gän­ge 1960 bis 1975. Es han­delt sich hier also, kurz gesagt, um einen Ver­gleich der Geschichts­bil­der der Auf­bau­ge­nera­ti­on mit den epo­chen­be­zo­ge­nen Geschichts­bil­dern, die bei den heu­ti­gen jün­ge­ren Deut­schen anzu­tref­fen sind. Neben die­sen gezielt erho­be­nen Daten haben wir auch zahl­rei­che Äuße­run­gen über gesprächs­wei­se fest­ge­stell­te epo­chen­be­zo­ge­ne Vor­stel­lun­gen jün­ge­rer Deut­scher ein­be­zo­gen. Die­se Äuße­run­gen sind uns spon­tan von älte­ren Deut­schen, die eben­falls Zeit­ge­nos­sen der NS-Epo­che waren, zuge­gan­gen. Ins­ge­samt ist fest­zu­stel­len, daß vie­le Nach­ge­bo­re­ne über das Ver­hal­ten und Erle­ben des Gros der deut­schen Nor­mal­bür­ger in der NS-Epo­che Vor­stel­lun­gen hegen, die sich von den weit­ge­hend über­ein­stim­men­den Erfah­run­gen seriö­ser und poli­tisch gänz­lich unbe­las­te­ter Zeit­ge­nos­sen der Epo­che kraß unterscheiden.
Im Hin­blick auf die Erkennt­nis­la­ge, zu der auch etli­che ein­schlä­gi­ge objek­ti­ve Daten bei­tra­gen, kann ohne nen­nens­wer­tes wis­sen­schaft­li­ches Risi­ko kon­sta­tiert wer­den, daß die Vor­stel­lun­gen die­ser Nach­ge­bo­re­nen weit­ge­hend falsch sind. Sehr auf­fäl­lig und schwer­wie­gend erscheint, daß die fal­schen Vor­stel­lun­gen der Nach­ge­bo­re­nen immer in der glei­chen, näm­lich einer poin­tiert nega­ti­ven Rich­tung von der Rea­li­tät des Ver­hal­tens und Erle­bens des Gros der dama­li­gen deut­schen Nor­mal­bür­ger abweichen.
Erfreu­li­cher­wei­se gibt es aber auch Nach­ge­bo­re­ne, die in bemer­kens­wer­tem Aus­maß rea­lis­ti­sche Vor­stel­lun­gen über die Reak­tio­nen deut­scher Nor­mal­bür­ger auf epo­chen­ty­pi­sche Sach­ver­hal­te und Ereig­nis­se der NSZeit haben. Anschei­nend han­delt es sich bei die­sen Nach­ge­bo­re­nen jedoch um eine Min­der­heit. Die Grün­de für die Abwei­chung vom über­wie­gen­den Geschichts­bild der Nach­ge­bo­re­nen schei­nen vor­nehm­lich in Infor­ma­tio­nen aus dem fami­liä­ren Umfeld zu liegen.
Gene­rell zeigt sich das Phä­no­men, daß die ver­gan­gen­heits­be­zo­ge­nen Vor­stel­lun­gen, nament­lich bei grund­sätz­lich nega­tiv ein­ge­stell­ten Nach­ge­bo­re­nen, in sach­lich unzu­läs­si­ger Wei­se undif­fe­ren­ziert, ver­ein­fa­chend und ver­all­ge­mei­nernd zu sein pfle­gen. Wäh­rend die Zeit­ge­nos­sen und Zeit­be­ob­ach­ter der NS-Epo­che bei fast jeder der 194 Fra­gen von recht ver­schie­de­nen Reak­tio­nen in der Nor­mal­be­völ­ke­rung berich­tet und unter­schied­li­che Häu­fig­kei­ten der jewei­li­gen Reak­ti­ons­wei­sen ange­ge­ben haben, ken­nen die Nach­ge­bo­re­nen oft nur eine ein­zi­ge Ver­hal­tens- und Erle­bens­art und betrach­ten die­se als „die“ Reak­ti­ons­wei­se der Bevöl­ke­rung. Zum Bei­spiel gaben die Zeit­be­ob­ach­ter zu der Fra­ge „Wie reagier­te die Nor­mal­be­völ­ke­rung auf Aus­schrei­tun­gen in der soge­nann­ten Reichs­kris­tall­nacht im Jah­re 1938?“ fünf Reak­tio­nen an, näm­lich „mit Befrem­den“, „bedrückt“, „mit Sor­ge“, „mit Gleich­gül­tig­keit“ und „mit Zustim­mung“. Von den Zeit­be­ob­ach­tern hat­ten nur 1 Pro­zent Zustim­mung und 15 Pro­zent Gleich­gül­tig­keit wahr­ge­nom­men. Die über­wäl­ti­gen­de Mehr­heit der Zeit­be­ob­ach­ter regis­trier­te bei Nor­mal­bür­gern Befrem­den, Bedrückt­heit und Sor­ge. Die­se Häu­fig­keits­re­la­tio­nen wer­den durch Infor­ma­tio­nen aus ande­ren Daten­quel­len gut gestützt (selbst­ver­ständ­lich gab es auch eini­ge loka­le Beson­der­hei­ten mit ande­ren Häufigkeiten).

Unter den nach­ge­bo­re­nen Deut­schen fin­det man jedoch nicht weni­ge, die fest über­zeugt sind, die Nor­mal­bür­ger hät­ten durch­ge­hend oder zumin­dest über­wie­gend mit Zustim­mung, äußers­ten­falls noch mit Gleich­gül­tig­keit auf die Aus­schrei­tun­gen reagiert. Die­se Nach­ge­bo­re­nen haben also zu jenem wich­ti­gen his­to­ri­schen Datum ein Geschichts­bild, das fak­tisch unzu­tref­fend ist.
Ein fun­da­men­ta­ler und in poli­tisch-gesell­schaft­li­cher Hin­sicht fol­gen­rei­cher Feh­ler in den Geschichts­bil­dern von vie­len Nach­ge­bo­re­nen besteht dar­in, daß die Erleb­nis­wel­ten und das Erleb­nis­pro­fil der Nor­mal­bür­ger der NS-Epo­che gegen­über der Rea­li­tät völ­lig ver­scho­ben wer­den. Das, was für die meis­ten Bür­ger der NS-Zeit im Vor­der­grund des Wahr­neh­mens, Erle­bens und per­sön­li­chen Han­delns stand, was sie vor­nehm­lich inter­es­sier­te und beschäf­tig­te, tritt in den Vor­stel­lun­gen vie­ler Nach­ge­bo­re­ner über die Erleb­nis­wel­ten ihrer Vor­fah­ren weit in den Hin­ter­grund; oft ist es dort sogar über­haupt nicht vor­han­den. Dage­gen ran­gie­ren ande­re Inhal­te, die für die meis­ten Nor­mal­bür­ger in der NSEpo­che von unter­ge­ord­ne­ter Bedeu­tung waren und kein beson­de­res Inter­es­se fan­den oder damals unbe­kannt waren, in den Vor­stel­lun­gen von Nach­ge­bo­re­nen als die wich­tigs­ten und per­ma­nent gegen­wär­ti­gen Erleb­nis­ge­gen­stän­de der Epoche.
Nament­lich für die „Juden­fra­ge“ haben sich die meis­ten Nor­mal­bür­ger nicht son­der­lich inter­es­siert, was unter ande­rem damit zusam­men­hing, daß die Juden im Deut­schen Reich nicht ein­mal 1 Pro­zent der Gesamt­be­völ­ke­rung bil­de­ten und vie­le Bür­ger kei­ner­lei Kon­takt mit jüdi­schen Deut­schen hat­ten. Zahl­rei­che Nach­ge­bo­re­ne stel­len sich heu­te dage­gen vor, daß damals fast jeder Bür­ger stän­dig mit dem Schick­sal der Juden kon­fron­tiert wur­de und daß die Dau­er­be­schäf­ti­gung mit der Drang­sa­lie­rung der Juden einen gro­ßen Teil der indi­vi­du­el­len Infor­ma­ti­ons­auf­nah­me und Infor­ma­ti­ons­ver­ar­bei­tung der Nor­mal­bür­ger in Anspruch nahm. Die Vor­stel­lung von Nach­ge­bo­re­nen, daß das Ver­hält­nis zu den Juden ein zen­tra­les, wenn nicht gar das alles beherr­schen­de The­ma der Nor­mal­bür­ger in der NS-Epo­che gewe­sen sei, ist das Ergeb­nis eines lern­psy­cho­lo­gi­schen Generalisierungsprozesses.
Nie­mand stellt heu­te in Fra­ge, daß nach dem öffent­li­chen Bekannt­wer­den der furcht­ba­ren jüdi­schen Schick­sa­le in der Epo­che des Natio­nal­so­zia­lis­mus der Holo­caust eine her­aus­ra­gen­de Bedeu­tung für die deut­sche Geschich­te erlangt hat. Wenn aller­dings Nach­ge­bo­re­ne die­sen Bedeu­tungs­aspekt auf die tat­säch­li­chen Erleb­nis­wel­ten der deut­schen Nor­mal­bür­ger in der NS-Epo­che gene­ra­li­sie­ren, ist das nach den Beleh­run­gen in der Schu­le und den Beein­flus­sun­gen durch Mas­sen­me­di­en zwar lern­psy­cho­lo­gisch erklär­bar, in der Sache aber nicht kor­rekt. Die mas­sen­haf­te phy­si­sche Ver­nich­tung von Juden war für das Gros der deut­schen Nor­mal­be­völ­ke­rung in der NS-Epo­che kein rea­lis­ti­sches The­ma, das sich durch unbe­zwei­fel­ba­re Fak­ten auf­dräng­te und mit­hin eine men­ta­le Zuwen­dung und Stel­lung­nah­me erfor­der­lich mach­te. Daß der Holo­caust ein Gemein­schafts­werk des deut­schen Vol­kes gewe­sen sei, ist für die Nor­mal­bür­ger der NS-Epo­che und dem­entspre­chend für die Auf­bau­ge­nera­ti­on in der Regel eine ganz und gar rea­li­täts­wid­ri­ge, absur­de und auch bös­ar­ti­ge agi­ta­to­ri­sche Behauptung.

Bei Nach­ge­bo­re­nen kann man die­se The­se in jün­ge­rer Zeit nicht sel­ten antref­fen. Heu­te fin­det man auch in sonst seriö­sen Zei­tun­gen gele­gent­lich Behaup­tun­gen, die eine gro­tesk anmu­ten­de Wirk­lich­keits­ver­ken­nung bezüg­lich der Erleb­nis­wel­ten und des Ver­hal­tens deut­scher Nor­mal­bür­ger in der NS-Epo­che offen­ba­ren. In den neun­zi­ger Jah­ren konn­te man zum Bei­spiel in einer ein­fluß­rei­chen Zei­tung lesen, die Deut­schen hät­ten sich in den ers­ten Jah­ren nach dem Krie­ge so inten­siv, flei­ßig und aus­dau­ernd dem wirt­schaft­li­chen Auf­bau (dem soge­nann­ten Wirt­schafts­wun­der) gewid­met, um ihre Unta­ten in der Epo­che des Natio­nal­so­zia­lis­mus zu ver­ges­sen und Schuld­ge­füh­le zu unter­drü­cken. Die unab­läs­si­ge Beschäf­ti­gung mit dem Neu­auf­bau von Wirt­schaft, Staat und Gesell­schaft habe das Besin­nen auf die vor­an­ge­gan­ge­ne Epo­che und ein ange­mes­se­nes Erin­nern an die Ver­bre­chen in die­ser Epo­che ver­hin­dern und ein „Ver­drän­gen“ der Ver­gan­gen­heit ermög­li­chen sol­len. Daß die­ser von Nach­ge­bo­re­nen pro­du­zier­te erstaun­li­che Unsinn nicht nur Infor­ma­ti­ons­de­fi­zi­te und Rea­li­täts­aus­blen­dun­gen anzeigt, son­dern auch eine mit ihren Wei­te­run­gen höchst bedenk­li­che psy­chi­sche Ver­fas­sung offen­bart, wird lei­der von vie­len nicht erkannt.
Denn nicht sel­ten machen Zeit­ge­nos­sen der NS-Epo­che die ratio­nal nicht zu erfas­sen­de Erfah­rung, daß Nach­ge­bo­re­ne sie dar­über beleh­ren oder ihnen sogar vor­schrei­ben wol­len, was sie in jener Epo­che erlebt haben. Sel­ten dürf­te in der Geschich­te der Völ­ker eine so gro­ße Dis­kre­panz zwi­schen den Geschichts­bil­dern benach­bar­ter Gene­ra­tio­nen anzu­tref­fen sein wie zwi­schen den Erin­ne­run­gen von Zeit­ge­nos­sen an das Ver­hal­ten und Erle­ben deut­scher Nor­mal­bür­ger in der NS-Epo­che und den zuge­hö­ri­gen Vor­stel­lun­gen von Nach­ge­bo­re­nen. Die mit die­ser Dis­kre­panz sich erge­ben­den, auf unge­recht­fer­tig­ten Ver­all­ge­mei­ne­run­gen basie­ren­den nega­ti­ven Kol­lek­tiv­vor­stel­lun­gen gehö­ren zu den wich­tigs­ten Fak­to­ren des in jüngs­ter Zeit oft beklag­ten Man­gels an Patrio­tis­mus, an Gemein­schafts­ge­fühl und Gemeinsinn.
Schon in den ers­ten Jah­ren nach dem Krie­ge gab es man­cher­lei Ver­su­che, die Deut­schen kol­lek­tiv zu beschul­di­gen, an schlim­men Unta­ten betei­ligt gewe­sen oder zu die­sen zumin­dest in irgend­ei­ner Wei­se bei­getra­gen zu haben. Der­ar­ti­gen Ver­su­chen war kein nen­nens­wer­ter Erfolg beschie­den, weil die dama­li­gen Nor­mal­bür­ger auf Grund ihrer kon­kre­ten per­sön­li­chen Erfah­run­gen ener­gisch gegen der­ar­ti­ge Unter­stel­lun­gen zu pro­tes­tie­ren pfleg­ten. Sie konn­ten ohne Unsi­cher­heits­ge­füh­le zwi­schen jenen, die han­delnd schul­dig gewor­den waren, und schuld­lo­sen Deut­schen unter­schei­den und hat­ten auch rea­lis­ti­sche Vor­stel­lun­gen über den Umfang und die Zusam­men­set­zung von Täter­grup­pen. Auch die damals füh­ren­den Poli­ti­ker, etwa Bun­des­kanz­ler Kon­rad Ade­nau­er und Bun­des­prä­si­dent Theo­dor Heuss, wand­ten sich ent­schie­den gegen gene­ra­li­sie­ren­de Schuld­vor­wür­fe, wohl auch des­halb, weil sie sonst bei der Bevöl­ke­rung unglaub­wür­dig gewor­den wären.

Bestre­bun­gen, die deut­sche Bevöl­ke­rung pau­schal zu beschul­di­gen und den Holo­caust als eine Art Gemein­schafts­werk des deut­schen Vol­kes zu kate­go­ri­sie­ren, fan­den erst bei Nach­ge­bo­re­nen Reso­nanz, die die NSEpo­che nicht selbst erlebt hat­ten. Nicht alle Nach­ge­bo­re­nen akzep­tier­ten die­ses rea­li­täts­wid­ri­ge Geschichts­bild, jedoch erstaun­lich vie­le. Seit dem Ende der sech­zi­ger Jah­re des 20. Jahr­hun­derts sind grob ver­zer­ren­de und nicht sel­ten nach­weis­lich fal­sche Behaup­tun­gen über das Ver­hal­ten und Erle­ben der deut­schen Gesamt­be­völ­ke­rung in der NS-Epo­che immer häu­fi­ger gewor­den, und sach­lich begrün­de­te Kor­rek­tu­ren und Zurück­wei­sun­gen unzu­tref­fen­der Geschichts­bil­der erfol­gen immer sel­te­ner. Unge­niert wer­den heu­te in den Medi­en Behaup­tun­gen auf­ge­stellt, die in den fünf­zi­ger und sech­zi­ger Jah­ren wegen ihrer offen­sicht­li­chen Absur­di­tät nur Kopf­schüt­teln aus­ge­löst hät­ten und nicht ernst genom­men wor­den wären.
War­um hegen heu­te vie­le nach­ge­bo­re­ne Deut­sche so hart­nä­ckig nicht nur ver­zer­ren­de und wirk­lich­keits­ver­dre­hen­de, son­dern auch nach­weis­lich fal­sche Vor­stel­lun­gen über das Ver­hal­ten und Erle­ben ihrer Vor­gän­ger in der NS-Epo­che? Wel­che Ursa­chen und för­dern­den Fak­to­ren die­ser Geschichts­bil­der las­sen sich iden­ti­fi­zie­ren? Ein wich­ti­ger Kau­sal­fak­tor dürf­te die von mir so genann­te „jour­na­lis­ti­sche Geschichts­schrei­bung“ sein. Die „jour­na­lis­ti­sche Geschichts­schrei­bung“, die kei­nes­wegs nur – und auch nicht immer! – von Jour­na­lis­ten betrie­ben wird, ori­en­tiert sich an den Ziel­set­zun­gen und Ver­fah­rens­wei­sen des Jour­na­lis­mus und erfüllt nicht die Kri­te­ri­en wis­sen­schaft­li­cher Historiographie.
Die jour­na­lis­ti­sche Ten­denz zeigt sich unter ande­rem in einer extre­men Selek­ti­vi­tät. Von den vie­len Ein­zel­hei­ten, Ereig­nis­sen und Sach­ver­hal­ten einer his­to­ri­schen Epo­che wer­den nur eini­ge weni­ge her­aus­ge­grif­fen, näm­lich jene, die beson­ders auf­fäl­lig und sen­sa­tio­nell erschei­nen und viel Auf­se­hen sowie star­ke emo­tio­na­le Reak­tio­nen her­vor­ru­fen. Das für die wis­sen­schaft­li­che Geschichts­er­kennt­nis und Geschichts­schrei­bung essen­ti­el­le Bemü­hen um das voll­stän­di­ge oder zumin­dest reprä­sen­ta­ti­ve Erfas­sen und Berück­sich­ti­gen aller epo­chen­ty­pi­schen Ein­zel­hei­ten unter­bleibt. Unter­las­sen wird bei der „jour­na­lis­ti­schen Geschichts­schrei­bung“ ins­be­son­de­re das schwie­ri­ge und geis­tig anspruchs­vol­le Auf­spü­ren von viel­fäl­ti­gen Kau­sal­be­zie­hun­gen und kor­re­la­ti­ven Zusam­men­hän­gen zwi­schen zahl­rei­chen Sach­ver­hal­ten und Ereig­nis­sen der Epo­che. Gemeint ist hier das ratio­nal begrün­de­te und empi­risch gestütz­te Zusam­men­hangs­den­ken. Leicht­fer­ti­ges Bezie­hungs­den­ken fin­det man in der „jour­na­lis­ti­schen Geschichts­schrei­bung“ durch­aus. Dazu zählt etwa die Behaup­tung, der in der deut­schen Nor­mal­be­völ­ke­rung anzu­tref­fen­de Anti­se­mi­tis­mus sei ein fun­da­men­ta­ler Kau­sal­fak­tor des Holo­caust gewesen.
Bei der Erör­te­rung der NS-Epo­che in den Medi­en, offen­bar aber auch nicht sel­ten in den Schu­len, domi­niert eine enor­me Selek­ti­vi­tät. Pau­sen­los wird auf grau­sa­me Vor­gän­ge in den Kon­zen­tra­ti­ons­la­gern des Ostens und auf Unta­ten von hin­ter der Front ope­rie­ren­den Ein­satz­grup­pen hin­ge­wie­sen. Zwei­fel­los gehö­ren die­se Vor­gän­ge zu den her­aus­ra­gen­den Gescheh­nis­sen des 20. Jahr­hun­derts, aller­dings in der Regel nicht zu den Erleb­nis- und Erfah­rungs­wel­ten der Nor­mal­bür­ger. Nicht weni­ge jün­ge­re Deut­sche ver­bin­den heu­te mit der NS-Epo­che kaum etwas ande­res als den Holo­caust, und etli­che mei­nen auch, daß die sys­te­ma­ti­sche Juden­ver­nich­tung für die dama­li­gen Nor­mal­bür­ger das domi­nie­ren­de und stets gegen­wär­ti­ge The­ma gewe­sen sei. Das Ent­ste­hen sol­cher rea­li­täts­wid­ri­gen Ansich­ten kann weit­ge­hend mit lern­psy­cho­lo­gi­schen Gene­ra­li­sie­rungs­ge­setz­mä­ßig­kei­ten erklärt werden.

Selbst­ver­ständ­lich ent­steht in die­sem Kon­text die Fra­ge, wie sich all­fäl­li­ge Kor­rek­tu­ren fal­scher oder weit­ge­hend ver­zerr­ter Geschichts­bil­der, nament­lich inkor­rekt ver­all­ge­mei­nern­der Behaup­tun­gen über das Erle­ben und Ver­hal­ten des Gros der Nor­mal­be­völ­ke­rung, durch über­le­ben­de Zeit­ge­nos­sen der NS-Epo­che aus­ge­wirkt haben. Die­sen Zeit­ge­nos­sen war eine gewis­se Repu­ta­ti­on dadurch erwach­sen, daß sie als Mit­glie­der der soge­nann­ten Auf­bau­ge­nera­ti­on eine der erstaun­lichs­ten und welt­weit bewun­der­ten Auf­bau­leis­tun­gen des 20. Jahr­hun­derts erbracht hat­ten. Tat­säch­lich sind kor­ri­gie­ren­de Äuße­run­gen von Zeit­ge­nos­sen, zum Teil auch in Form von Leser­brie­fen in Zei­tun­gen, bei einem Teil der Nach­ge­bo­re­nen wirk­sam gewor­den. Bei dem ande­ren und anschei­nend grö­ße­ren Teil blie­ben sie aber ohne erkenn­ba­re posi­ti­ve Resonanz.
Für die­sen Miß­er­folg war vor allem eine Men­ta­li­tät oder Grund­ein­stel­lung ver­ant­wort­lich, die in der soge­nann­ten Acht­und­sech­zi­ger­ge­ne­ra­ti­on anzu­tref­fen war und die sich unter ande­rem in der Wei­ge­rung äußer­te, von Älte­ren Auf­klä­rung und Beleh­run­gen ent­ge­gen­zu­neh­men. Die Acht­und­sech­zi­ger waren in hohem Maße und nicht sel­ten auf eine fana­tisch und bös­ar­tig anmu­ten­de Wei­se bestrebt, die älte­re Gene­ra­ti­on, also ihre direk­ten Vor­fah­ren, abzu­wer­ten, als ver­ach­tens­wert sowie als töricht und lächer­lich erschei­nen zu las­sen. Dabei wur­den enor­me Gedächt­nis­ver­lus­te und Erin­ne­rungs­ver­fäl­schun­gen durch „Ver­drän­gung“, ins­be­son­de­re „kol­lek­ti­ve oder sozia­le Ver­drän­gung“, „Schuld­ab­wehr“, „Selbst­täu­schung“, „Selbst­recht­fer­ti­gungs­stre­ben“ und der­glei­chen mehr behaup­tet. Es wur­de also unter­stellt, die Älte­ren hät­ten das Furcht­ba­re, das sie sei­ner­zeit angeb­lich taten oder wahr­nah­men, total vergessen.
Jedoch muß sich jede bevöl­ke­rungs­be­zo­ge­ne Geschichts­schrei­bung an einem gut ver­füg­ba­ren Außen­kri­te­ri­um mes­sen las­sen. Die­ses Kri­te­ri­um besagt, daß bei qua­li­fi­zier­ten Zeit­ge­nos­sen der his­to­ri­schen Epo­che durch die Tex­te der Geschichts­schrei­bung ein Wie­der­erken­nen der vor­mals erleb­ten Rea­li­tät erfolgt. Wenn seriö­se, intel­li­gen­te und hono­ri­ge Zeit­ge­nos­sen der his­to­ri­schen Epo­che in der vor­lie­gen­den Geschichts­schrei­bung die frü­her von ihnen erfah­re­ne Rea­li­tät über­ein­stim­mend nicht wie­der­erken­nen, soll­te die­se Geschichts­schrei­bung als inkor­rekt gel­ten, wie oft auch auf „die Akten­la­ge“ hin­ge­wie­sen wer­den mag. Die rea­li­täts­kon­for­me Geschichts­schrei­bung über das Ver­hal­ten und Erle­ben der Nor­mal­be­völ­ke­rung einer his­to­ri­schen Epo­che läßt sich meis­tens nicht den Akten ent­neh­men, die His­to­ri­ker bevor­zugt zu beach­ten pflegen.
Bei einer Rei­he von his­to­rio­gra­phi­schen Fra­ge­stel­lun­gen kann durch die her­an­ge­zo­ge­nen Akten und deren nai­ve Inter­pre­ta­ti­on die his­to­ri­sche Rea­li­tät sogar erheb­lich ver­zerrt oder ganz ver­fälscht wer­den. Neben dem ein­fäl­ti­gen Benut­zen frag­wür­di­ger Akten spie­len gewis­se Nei­gun­gen man­cher „Geis­tes­wis­sen­schaft­ler“ oft eine ver­häng­nis­vol­le Rol­le bei der Ent­ste­hung wirk­lich­keits­frem­der Geschichts­bil­der. Das sind die Nei­gun­gen zu leicht­fer­ti­gen, das heißt empi­risch nicht hin­rei­chend fun­dier­ten Ver­all­ge­mei­ne­run­gen und zu Typi­sie­run­gen sowie zum aus­ge­präg­ten Schlag­wort­den­ken und Schlag­wort­vo­ka­bu­lar. Bei der Gene­se irre­füh­ren­der Geschichts­bil­der über das Ver­hal­ten und Erle­ben deut­scher Nor­mal­bür­ger in der NS-Epo­che waren und sind der­ar­ti­ge Ten­den­zen wesent­lich betei­ligt. Ver­zer­ren­de und fal­sche Geschichts­bil­der bei Nach­ge­bo­re­nen kön­nen sich lang­fris­tig ver­hee­rend aus­wir­ken. Die gene­ra­li­sier­ten und anschei­nend kaum kor­ri­gier­ba­ren nega­ti­ven Vor­stel­lun­gen, die vie­le Nach­ge­bo­re­ne über das Ver­hal­ten und Erle­ben deut­scher Nor­mal­bür­ger in der NS-Epo­che hegen, ver­hin­dern oder beschrän­ken zumin­dest eine posi­ti­ve Iden­ti­fi­ka­ti­on mit der eige­nen Nation.

Patrio­tis­mus, Gemein­schafts­ge­fühl und Gemein­sinn sind dem­entspre­chend schwach ent­wi­ckelt. Damit ent­fal­len die emo­tio­na­len Regun­gen und mora­li­schen Kräf­te, die für die Been­di­gung des jet­zi­gen deut­schen Nie­der­gangs und einen erneu­ten Auf­schwung uner­läß­lich sind. Ein kras­ser Ego­is­mus hat sich aus­ge­brei­tet, der es vie­len unver­ständ­lich und sogar töricht erschei­nen läßt, ange­sichts von natio­na­len Pro­ble­men und Schwie­rig­kei­ten nicht nur an sich selbst zu den­ken, son­dern auch um die Zukunft und den Fort­be­stand des Lan­des besorgt zu sein. Nur noch weni­ge der heu­ti­gen Deut­schen füh­len sich der natio­na­len Gemein­schaft aller Bür­ger ver­pflich­tet und sind bereit, in Situa­tio­nen natio­na­ler Bedräng­nis die per­sön­li­chen Geschäf­te und Vor­tei­le gegen­über Erfor­der­nis­sen von Land und Nati­on zeit­wei­se hint­an­zu­stel­len sowie Las­ten und Ein­schrän­kun­gen zuguns­ten des Gan­zen auf sich zu neh­men. Not­wen­di­ge Refor­men in Staat und Gesell­schaft, die per­sön­li­che Ein­schrän­kun­gen ver­lan­gen, sind damit unmög­lich. An die Stel­le eines nor­ma­len Natio­nal­be­wußt­seins, das in der Auf­bau­ge­nera­ti­on durch­aus vor­han­den war, ist heu­te viel­fach eine eth­no­ne­ga­ti­ve Grund­hal­tung getreten.
Die Geschich­te einer Nati­on und eines Lan­des ist zu einem beträcht­li­chen Teil eine Funk­ti­on der in der Bevöl­ke­rung ver­brei­te­ten Grund­ein­stel­lun­gen, die in der Regel über­aus per­sis­tent zu sein pfle­gen. Der Wech­sel von Grund­ein­stel­lun­gen, der sich hier­zu­lan­de bei dem Über­gang von der Auf­bau­ge­nera­ti­on zu den nach­fol­gen­den Gene­ra­tio­nen erge­ben hat, ist ein poli­tisch-gesell­schaft­li­cher und his­to­ri­scher Pro­zeß­fak­tor gro­ßen Ausmaßes.

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