Auch unterhalb der strafrechtlichen Grenzen und unbeschadet ihrer Legalität können Meinungsäußerungen verfassungsschutzrechtlich von Belang sein.
Diese Worte wählte Verfassungsschutzchef Haldenwang Anfang April in der FAZ, um für die Arbeit seiner Behörde zu werben.
Er bestätigte damit eine These, die Mathias Brodkorb wenige Wochen zuvor in seinem Buch Gesinnungspolizei im Rechtsstaat? vertreten hatte: Der Verfassungsschutz (VS) sei mit einem Rechtsstaat kaum in Einklang zu bringen, weil er mit Verdächtigungen operiere, die Betroffene im Zweifel grundlos in Mißkredit bringen, weil diese keine Möglichkeit haben, sich im Vorfeld dagegen zu wehren. Damit greife der VS unzulässig in den politischen Willensbildungsprozeß ein.
Das Haldenwang-Zitat macht deutlich, daß sich der VS anmaßt, über Recht und Gesetz zu stehen, und dabei, über das Veröffentlichen der Berichte hinaus, auch vor der direkten Parteinahme nicht zurückschreckt. Brodkorb: „Wie kein Präsident vor ihm strebt Thomas Haldenwang auf eine Art in die Öffentlichkeit, dass die durch den Gesetzesauftrag statuierten Informationspflichten mit illegitimen politischen Interventionen vermischt werden.“ Wenn es dafür noch eines Beweises bedurfte, hat ihn Haldenwang mit seinem FAZ-Text selbst erbracht.
Brodkorb (Jg. 1977) saß jahrelang für die SPD im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern und war dort sowohl Kultur- als auch Finanzminister, bevor er sich 2019 aus der Politik zurückzog. Sein früherer Glauben an die Notwendigkeit dieser Behörde und die Richtigkeit ihres Handelns muß in den letzten Jahren erschüttert worden sein. Ob das mit der AfD zu tun hat, deren Erfolg Brodkorb nicht zuletzt dem undemokratischen Wirken des VS zuschreibt, sei dahingestellt. Sein Buch ist jedenfalls ganz und gar nicht im Sinne einer Partei, sondern als Verteidigung des Ideals eines parteipolitisch neutralen Rechtsstaats geschrieben.
Und dazu paßt der VS nicht. Brodkorb geht es aber nicht nur um diese Offensichtlichkeiten, sondern ihm geht es um das Analysebesteck des Amtes. Bei den Begrifflichkeiten, mit denen der VS operiere, herrsche eine völlige Konfusion. Damit eröffne der VS eigene Spielräume, die er weidlich ausnutze, um im Sinne der politischen Agenda des jeweiligen Innenministers, dem der VS untersteht, zu operieren. Klassiker ist in dieser Hinsicht die Unterscheidung zwischen Extremismus und Radikalismus. Ersterer gilt als verfassungsfeindlich, letzterer als legitime Meinungsäußerung.
Verfassungsfeindlich und damit extremistisch ist, was sich aktiv und kämpferisch gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung richtet. Wie abenteuerlich der VS bei der Bekämpfung dieser angeblichen Bestrebungen vorgeht, machen sechs Fallbeispiele deutlich, die Brodkorb zur Illustration gewählt hat.
Es geht um den linken Politiker Bodo Ramelow und den linken Anwalt Rolf Gössner, die jahrzehntelang vom VS beobachtet wurden und sich erst in langwierigen Prozessen (und nach einem gewissen Zeitgeist- bzw. Machtwandel) davon befreien konnten, um Martin Wagener, der an der BND-Hochschule lehrte und dem ein ethnischer Volksbegriff vorgeworfen wird, um die AfD, das Institut für Staatspolitik (IfS) und schließlich um die neue Kategorie von Verfassungsfeinden, dem Phänomenbereich der sogenannten Delegitimierer. Mit diesem Begriff hat der VS seinen Wirkungsbereich selbständig ausgeweitet und im Grunde alle zu Feinden der Verfassung erklärt, die zu deutliche Kritik am Regierungshandeln üben.
Eine Kategorie, die im Zusammenhang mit dem IfS und der AfD von besonderem Interesse ist, lautet „ethnischer Volksbegriff“. Wer der Auffassung ist, daß es innerhalb der Gruppe der deutschen Staatsangehörigen, dem rechtlichen Staatsvolk, noch ein davon unterscheidbares, aber rechtlich gleichgestelltes ethnisches deutsches Volk gibt, verstoße gegen das Gebot der Menschenwürde. Dagegen schreibt Brodkorb:
Der Versuch des Verfassungsschutzes, jedweden ‚ethnischen Volksbegriff‘ zu delegitimieren und allein den Staatsvolksbegriff noch für zulässig zu erklären, läuft nicht nur auf eine widersprüchliche intellektuelle Anmaßung hinaus. Es handelt sich zugleich um den Versuch, zulässige Meinungen zu diskreditieren und bereits das begriffliche Erfassen objektiver Tatsachen unter den Verdacht der Staatsfeindlichkeit zu stellen.
Brodkorb sieht in dieser Verirrung nur ein Symptom für das eigentliche Problem, daß der VS eine Behörde ist, die notwendig eine Menge Schaden anrichtet und noch nicht einmal die versprochene Leistung erbringt. Er sieht keine Möglichkeit, den VS so zu reformieren, daß er eine neutrale Behörde wäre, die weder Personen grundlos an den Pranger stellt, noch den öffentlichen Diskurs korrumpiert. Er plädiert daher für die Abschaffung. Die Verfolgung verfassungsfeindlicher Bestrebungen solle sich am Strafrecht orientieren. Dankenswerterweise sieht er auch nicht die Zivilgesellschaft in der Pflicht, Verfassungsfeinde aufzuspüren und an den Pranger zu stellen. Der Staat verfüge von der politischen Bildung bis zum Parteiverbot über genügend Möglichkeiten, solche Absichten zu bekämpfen.
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Mathias Brodkorb: Gesinnungspolizei im Rechtsstaat? Der Verfassungsschutz als Erfüllungsgehilfe der Politik. 6 Fallstudien, 2024, 248 Seiten, 25 Euro – hier bestellen.
Laurenz
Ich kann sagen, mein Lieblingspolitiker der AfD ist Oliver Kirchner, der weniger akademisch & mehr die Sprache des Volkes spricht. Die Reden sind einfach, gnadenlos & unbarmherzig, mit der herrschenden Klasse, immer eindeutig im Standpunkt, voll vom Mute, völlig angstfrei. Hier die aktuellste Rede ziemlich passend zum EL-Artikel. https://youtu.be/OIADOQVY-VM Diese Rede ist eine typische Kirchner-Rede. Man kann visuell nachvollziehen, wie diese Rede Wirkung zeigt, äußerst spannend. Und zwar am Gesicht des Landtagsvizepräsidenten, Anne-Marie Keding (CDU), die aufmerksamst die Rede verfolgt & mit Mimik quasi alles im Kopfe preisgibt, auch die eigene, nicht zu vergebende Peinlichkeit.