Wer in den Klassen meiner nun erwachsenen Kinder an Dyskalkulie, Legasthenie, Eßstörung oder ADHS litt, hat das normalerweise schamhaft verschwiegen – und genauso kenne ich es aus meiner eigenen Schulzeit. Über solche „Abweichungen“ breitete man lieber das Tuch des Schweigens.
Ich erinnere mich noch, daß in den 1990ern eine meiner Freundinnen arg unter Neurodermitis litt – aber das durfte keinesfalls „rauskommen“; es wäre wie ein Offenbarungseid gewesen, daß die Eltern oder die familiäre Konstellation vermutlich (so die Drumherum-Insinuierung damals) irgendetwas mit dieser Hautkrankheit zu tun hätten.
Ich besuchte eine Mädchenschule. Ein Fünftel unseres Abijahrgangs war eßgestört. In jeder unserer vier Klassen waren zwei, drei Mädchen sogar stationär in einer Klinik, viele davon über mehrere Quartale. Es wurde wahrgenommen, aber nur wie ein kleiner Unfall. Man schickte klassenweise aufbauende Briefe an die Kranken, dieser Verkehr wurde auch lehrerseits organisiert, aber „zum Thema“ wurde es nie.
Vermutlich war das falsch. Man hätte es offensiv, aufklärend angehen sollen. Es gibt ja ganz gute verhaltenstherapeutische „Skills“. Auch „niedrigschwellige“ – die wären vermutlich (auch heute) wesentlich wichtiger als der x‑te Antirassismustrainingstag.
Heute haben wir eine ganz andere, völlig umgekehrte Sachlage: Psychopathologische Diagnosen sind der letzte Schrei. Die Jugend hat den Kampf um die Opferhierarchie entdeckt! Mädchen posten offensiv auf Instagram etc. ihre selbstzugefügten Schnittverletzungen.
Neulich gab es „Klassenbeef“ in der Whatsappgruppe. Die Tochter schrieb nach dem x‑ten Blutbild der Opferin:
Was bedeutet es, daß du dauernd deine Verletzlichkeit in die Welt posaunst. Ich mein, was bringt dir das? Was erwartest du eigtl?
Jede Mitschülerin hatte sich das in den letzten beiden Jahren gefragt. Erst hatten sie alle voller Mitgefühl nachgehakt, dann wichen sie auf „Kopf-hoch!“-Phrasen aus, letztlich waren sie ermüdungsgenervt.
Antwort:
Ok. Ich wünsch Dir nur, Du hättest all meine Diagnosen. Ich hab Borderline, ich hab dissoziative Persönlichkeitsstörung, generalisierte Angststörung, Binge Eating und Leserechtschreibschwäche. Glückwunsch, du nicht.
Dieses arme Mädchen suhlt sich in ihren „Diagnosen“. Sie geben ihr endlich ein Profil. Sie sichern ihr Aufmerksamkeit, denn all diese Bewertungen heben sie hervor. Ohne diese „Diagnosen“ hätte sie kaum merkfähige Attribute. Sie schaut nicht gut aus – nach modischen Maßstäben. Ich mag ihr Gesicht, sie ist nicht wie jede.
Sie hat auch keine besonderen Talente, die online „vermarktbar“ wären. Im Klassenschnitt zählt sie zum unteren Drittel. Ich meine, daß sie eine gute Krankenschwester abgäbe. Ich halte sie für empathisch. Ob sie weiß, wie willkommen sie an Orten wäre, an denen jede Hand gebraucht wird?
Aber nein, sie muß „Abi machen“, weil fast alle es machen, und sie macht es mit Schnitzereien und Opferangebertum. Was für ein Preis!
Weiter: Unsere 17jährige besucht eine Berufsschule. Auch dort, wo es ungleich geerdeter zugeht (ja, auch hier gab es eine „Juniorwahl“; und die AfD erntete sagenhafte 71%. Wer macht bitte mal einen Artikel dazu?) sind „Diagnosen“ ein Riesenthema.
Eine Mitschülerin der Tochter hat zwei, drei „gesicherte Diagnosen“ und, zwei, drei weitere anhängig. Es gibt nun einen Riesenzoff mit einer anderen Mitschülerin, die ebenfalls „fast alles“ hat.
Die eine hat jedenfalls „Neurodiversität“ und legt wert darauf, daß dies keine „Störung“, sondern eine „Andersartigkeit“ sei. So, in dieser Andersartigkeit will sie, Zitat, „gewertschätzt“ werden. Laut Tochter sind die Vokabeln „neurodivers“ und „Wertschätzung“ in ihrer (wie gesagt: eigentlich bodenständigen) Schule mittlerweile fast Synonyme. „Neurodivers“ heißt cum grano salis, daß ein Mensch sich einfach nicht auf Aufgaben konzentrieren kann. Vermutlich ein banales Smartphone-Phänomen, das man eben auch zu einem Neurotizismus aufblähen kann….
Die Konkurrentin dieser multipel diagnostizierten (außerdem: Dyskalkulie und affektive Persönlichkeitsstörung) Schülerin ist nun ebenfalls laut Diagnose „neurodivers“! Beide stehen in unerbittlichem Wettbewerb zueinander und sprechen der je anderen das Leiden ab. Und zwar leidenschaftlich! (Martin Lichtmesz hat hierzu, zur Opferhierarchie ein Buch geschrieben.)
Es muß ein unglaubliches Hickhack sein, das sich Loriot nicht hätte besser ausdenken können: Diagnosekriteriennummern werden sich gegenseitig an den Kopf geworfen; es wird angegeben damit, welche „Nummern“ die eine hat und die andere nicht.
Und dazwischen im Diagnosenkampf stehen die nolens volens mitleidenden Mitschülerinnen, die vielleicht nur an der Richtlinie für’s modische Intervallfasten scheitern. Oder die seit vier Monaten keinen Sex hatten. Oder die, die 10.000 Schritte pro Tag einfach nicht hinkriegen. Die, die doch heimlich Fleisch/Süßigkeiten genossen haben. Womöglich süchteln sie alle nach einer Diagnose? Die ein „Versagen“ (und sei es ein vorgebliches, ein insinuiertes) nummeriert und erklärt?
Die psychiatrischen Diagnosen unter jungen Leuten sind seit ihrem Höhepunkt unter „Corona“ leider kaum gesunken. Übrigens gerade unter Mädchen aus „besseren Verhältnissen“ nicht.
Hier kulminieren zwei verhängnisvolle Trends: Zum einen ist der Gang zum Psychodoktor (wobei auch Hausärztinnen Psychopharmaka verordnen dürfen, Stichwort „niedrigschwellig“) in den vergangenen Jahrzehnten ungleich leichter geworden. Man schämt sich nicht mehr, „verrückt“ zu sein, man ist eher stolz auf die Andersartigkeit und pflegt sie.
Junge Erwachsene sprechen von ihrem „Psycho-Doc“, als handle es sich um eine im Sportwettkampf gewonnene Medaille. Mit solchem „Stempel“ ist so viel zu entschuldigen. Das erneut vergeigte Semester, der Strafzettel oder warum man auf den x‑ten Telefonanruf nicht reagieren konnte.
Zum anderen ist es ja tatsächlich so, daß die jungen Leute viel mehr und viel stärker leiden. Zwar lautet die Devise „alles kann, nichts muß“, zwar tragen heute (ganz anders als in den Neunzigern, in denen ich Studentin war) auch Mädchen mit dicken Beinen und Bäuchen Shorts und bauchnabelfrei, man (bzw. Fräulein) trägt mutig langhaarige Beine und Achseln, Oberlippenbart und Problempony.
Nichts daran wäre zu tadeln. Es muß ja nur EUCH gefallen. Macht kein Psychodrama draus, wenn andere euch auslachen. Aber hört auf, euch zu beklagen, im Großen wie im Kleinen. Seid, wie ihr wollt, aber ertragt die Resonanz.
Wir sind so ein Opferland geworden…. Defensiv ist die eine Spielrichtung. Ultra-defensiv aber ist toxisch. Wir sind längst zu einem diagnostizierten Volk geworden.
Raeuspern
"Wenn Du vor mir stehst und mich ansiehst, was weißt Du von den Schmerzen, die in mir sind und was weiß ich von den Deinen. Und wenn ich mich vor Dir niederwerfen würde und weinen und erzählen, was wüsstest Du von mir mehr als von der Hölle, wenn Dir jemand erzählt, sie ist heiß und fürchterlich."
Franz Kafka
Wieder mal schöner ausgewogener Text.