Wunder am Wegesrand gibt es überall. Die Säule der alten Göttin Irmin gehört dazu. Sie markiert noch immer einen heiligen Ort. Zwischen Hildesheim und der Roswitha-Stadt Bad Gandersheim steht im Flenithigau auf einem Hügel die Irminsäule. Von hier aus geht der Blick ostwärts auf den Brocken und den Harz, das Kernland der Ottonen.
Bernward von Hildesheim war Reichsbischof dieser deutschen Kaiser, Berater der Kaiserin Theophanu und Erzieher ihres Sohnes Otto III. Dieser schenkte seinem Lehrer zur Bischofsernennung einen Holzsplitter vom Kreuz Christi. Zur Verehrung dieser Kontaktreliquie allerersten Grades ließ Bernward die Hildesheimer Michaeliskirche errichten und zwei weltberühmte Bronzegüsse anfertigen: eine Säule mit Bildern aus dem Leben Christi und eine Tür mit den Motiven von Sündenfall und Erlösung. In dieses Gesamtkunstwerk integrierte er eine Irminsäule.
Der Göttin Irmin geweihte Bildsäulen standen überall im alten Sachsenland. Sie waren aus Eichen- oder Eschenstämmen errichtet und an der Spitze mit Symbolen der Fruchtbarkeit verziert. Silber- und Goldschmuck wiesen sie als heiligen Ort aus. Die Säule bezeichnete wie Yggdrasil als Lebensbaum die Mitte der Welt. »Irmin« kann mit »heilig« übersetzt werden.
Jacob Grimm nennt in seiner Deutschen Mythologie den noch in der Generation unserer Großeltern beliebten weiblichen Vornamen Irmgard. Er bezeichnet den heiligen Garten oder das Paradies. Aus der vorchristlichen Zeit in Sachsen, wie das heutige Niedersachsen damals genannt wurde, gibt es keine Dokumente über die errichteten Säulen.
Jacob Grimm glaubt zu wissen: »es war eine grosse hölzerne seule aufgerichtet, unter freiem himmel verehrt, ihr name Irminseul sagt aus: allgemeine, alles tragende seule. irmansûl ist die grosse, hohe göttlichverehrte bildseule; dass sie einem einzelnen gott geweiht war, liegt nicht in dem ausdruck selbst.« Viele Säulen sollen eine Skulptur der Göttin Irmin getragen haben. Davon ging Bernward von Hildesheim aus, als er den Stamm einer Irminsäule unter einem Radleuchter, einem Symbol des wiedergefundenen Paradieses, installieren ließ und mit einer Statue der Muttergottes krönte.
Die Stärke des Katholizismus liegt in seiner integrierenden Kraft alter Kulte und Götter. Nicht jeder Missionar des Nordens besaß diesen Blick aufs Ganze. So verlief die Sachsenmission blutig, als Kaiser Karl eine Irminsäule fällen ließ. Ernst Bertram, einer der letzten historisch gebildeten Bischöfe, beschreibt in seiner unübertroffenen Geschichte des Bistums Hildesheim (1899) die Sinnlosigkeit dieses unsensiblen Umgangs mit Geschichte. Sie wurzelt letztlich in einer Mißachtung der Tradition, die immer größer ist und bleibt als der Zeitgeist. »Dann drang das Frankenheer in den geweihten Hain im nahen Eggegebirge (südlich von Altenbeken), wo ein gewaltiger Stamm, die Irminsul, verehrt wurde als Weltbaum, der das Weltall trage. Dieses Heiligthum mit seinem Weltbaume sank hin unter den vernichtenden Schlägen der fränkischen Beile. Die meisten Gaue bis in Engern hinein unterwarfen sich. Doch kaum war Karl fortgezogen, da vernichtete ein Rachezug der Sachsen die Erfolge seines Sieges.«
Im Süden des Hildesheimer Landes, wo Wilhelm Busch in dem kleinen Ort Mechtshausen seine letzten Lebensjahre verbrachte, lebt diese gesunde Widerständigkeit noch immer in dem winzigen Ort Irmenseul. Hier am historischen Rennstieg haben die Bewohner auf dem heiligen Hügel eine neue Irminsäule errichtet. Der Schmuck an der Spitze des Eichenstammes ist natürlich nicht historisch, aber durchaus sinnfällig. Er zeigt ein Kreuz in der Mitte eines mit Blumen geschmückten Ährenkranzes. Damit wird der alte Lebensbaum zum Paradiesbaum. Aus seinem Holz, wußte einst die Kirche, wurde das Kreuz Christi gezimmert.
Die Irminsäule im Flenithigau ist umgeben von dem Irmenseuler heiligen Holz und dem Harbarnser heiligen Holz. Zwischen diesen heiligen Orten liegt das Tal des Drachen (»Wurmsdahl«). Es gibt kein Heiligtum ohne Widersacher. Als vor einigen Jahren ein Investor in diesem Naturschutzgebiet ein Bubble-Hotel errichten wollte, erfuhr er den entschiedenen Widerstand der Dorfbewohner. Heilige Orte müssen geschützt werden. Das gilt für alle Bereiche Lebens. Wissen wir noch, was uns heilig ist?